Hose runter, hier kommt die Musik!

Juni 30, 2025
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Der musikalische Bahnhof von Neustrelitz (Foto: BC)

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

heute mit einigen Übergriffigkeiten, mit Testosteron im Feuilleton, keiner Angst vor Shitstorms – und mit allerhand Abkühlungen!

Essen kommt nicht zur Ruhe

Das Aalto Theater in Essen (Foto: Theater)

Psychische Belastung, Kündigungen und sinkendes künstlerisches Niveau. Außerdem werfen Ensemblemitglieder der Leitung am Aalto-Musiktheater in Essen (Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti und Intendantin Merle Fahrholz)Mobbing und Machtmissbrauch vor. Eine Beschwerdestelle der Theater und Philharmonie Essen (TUP) empfahl laut einem offenen Brief der Ensemblemitglieder, die Verträge der Beschuldigten aufzulösen. Die TUP-Leitung bestätigte die Existenz der Vorwürfe und das entsprechende Votum der Beschwerdestelle. Trotz dieser Empfehlung wurden bislang keine personellen Konsequenzen gezogen.

Grundlagen der Gewalt

Leseempfehlung in diesem Zusammenhang: Das grundlegende Problem von Machtmissbrauch debattiert das Jahrbuch Musik und Gender. Ausführlich werden unter dem Titel Genie – Gewalt – Geschlecht die Situationen an Hochschulen, in Konzerthäusern, im Instrumentalunterricht, oder in der Musikgeschichtsschreibung beleuchtet (Herausgegeben von Anke Charton und Elisabeth Treydte). Der neue Band nimmt eine Entschlüsselung der Dimensionen von Gewalt in der Musik vor. BackstageClassical bringt den Essay von Susanne Rode-Breymann über die Situation an den Musikhochschulen exklusiv vorab. Unter anderem heißt es: »Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt sind Verletzungen des Persönlichkeitsrechts. Die Folgen sind schwerwiegend, persönlich sehr belastend und beeinträchtigen die berufliche Entwicklung.«

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Das ignorieren wir nicht einmal

Gähn – die Gewinnerinnen und Gewinner des Opus Klassik stehen fest. Überraschung: Jonas Kaufmann ist (noch) nicht dabei, dafür aber der wirklich spannende Komponist Jüri Reinvere. Warum regt mich diese Preisverleihung jedes Jahr aufs Neue auf? Ich könnte sie ja einfach ignorieren! Was mich nervt, ist, wie ausgerechnet jene Leute, die in den Major Labels und im Fernsehen seit Jahren die Klassik mit ihrem Häppchen-Hochglanz abwirtschaften, nun auch noch dort übergriffig werden, wo sich das Musikgeschäft längst erfolgreich neu erfunden hat: In den Orchestern, Theatern, bei den Veranstaltern und beim Publikum. Hier erkläre ich in einem Essay, warum es vielleicht klüger ist, mit den Kaputtmachern nix mehr zu tun zu haben.    

Testosteron im Feuilleton

Nicht nur den Opus Klassik, sondern auch das Testosteron im Feuilleton oder das Tanzorchester Ehrenfeld von Jan Böhmermann debattieren Hannah Schmidt und ich leidenschaftlich in der neuen Ausgabe unseres monatlichen BackstageClassical-Podcasts »Takt & taktlos«. Fahren Sie bereits in den Urlaub und wollen die Kinder auf dem Rücksitz nerven? Wollen Sie Ihre Nachbarn im Schwimmbad mit der Bluetooth-Box herausfordern? Oder wollen Sie einfach nebenbei unsere kleine, launige Diskussion hören – das können sie bei applePodcast, bei Spotify oder bei allen anderen Podcast-Anbietern (abonnieren Sie auch gern unseren Kanal, dann verpassen Sie keine Folge!)   

Der Mann im Shitstorm

Dass die Klassik im Wandel ist und gerade jenseits des Hochglanzes erfolgreich, zeigt das DSO in Berlin, seit Thomas Schmidt-Ott und Marlene Brüggen das Ruder übernommen haben: Die beiden haben das Ensemble mitten in der Gesellschaft verankert, Haltung bewiesen und Shitstorms standgehalten. Nach fünf Jahren verlässt Schmidt-Ott nun das Orchester. Ich empfehle Ihnen seinen exklusiven Rückblick bei BackstageClassical: Ein Essay über die Modernität von Orchestern, über gesellschaftliche Relevanz und den Mut, auch mal Gegenwind auszuhalten. So geht modernes Orchester-Management!

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Hosen runter in Bregenz!

Seit Österreich eine neue Regierung hat, sieht es auch für die Kultur nicht mehr ganz so rosig aus. Zunächst erklärte Vizekanzler Andreas Babler, dass geplante Kultur-Umbauten verschoben werden könnten (eventuell auch bei den Salzburger Festspielen). Nun macht er in Bregenz Nägel mit Köpfen: Die Subventionen in den Jahren 2025 und 2026 werden um 30 Prozent (!) gekürzt. Für die Festspiele bedeutet das ein Minus von rund 2,1 Millionen Euro pro Jahr. Das Programm für 2025 bleibt laut Angaben der Veranstalter dennoch unverändert, da Rücklagen einen Teil der Kürzungen abfedern. Ursprünglich war sogar eine Kürzung um 50 Prozent im Gespräch gewesen. Kein guter Start für die neue Intendantin Lilli Paasikivi, die eh noch ihren eigenen Stil zu suchen scheint. Immerhin: Bregenz hat schon eine neue Touristen-Attraktion und eröffnet nun einen FKK-Strand. Anwohner befürchten schon zu viel Nacktbaden-Tourismus aus der Schweiz!   

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Mit der Geige die Welt lesen?

Die Geigerin Rebekka Hartmann veröffentlicht ein neues Album mit Werken von Hartmann, Ravel und Sadikova. Eine Art »Soundtrack Europas« und eine »Reise von der Dunkelheit ins Licht«. Im Podcast von BackstageClassical erklärt sie, wie die drei Werke einen Blick auf Europa werfen. Sie sieht in der Musik einen Gegenpol zur Oberflächlichkeit der heutigen Zeit und möchte durch sie ein Fundament aufzeigen, das unter der chaotischen Oberfläche unserer Gegenwart liegt.

Weitere BackstageClassical-Podcasts mit Klassik-Künstlern

Personalien der Woche

Die Bayerische Staatsoper hat mit einer umstrittenen Don Giovanni-Produktion die Opernfestspiele eröffnet. Gleichzeitig wurde die Streamingplattform staatsoper.tv gestartet, auf der ab sofort ausgewählte Opern- und Ballettproduktionen aus dem Haus  sowohl im Livestream als auch als Video-on-Demand abrufbar sind. Zudem stehen zahlreiche historische Aufzeichnungen bedeutender Inszenierungen der vergangenen Jahrzehnte, sowie Konzertaufnahmen des Bayerischen Staatsorchesters zur Verfügung.+++ Die Oper Leipzig reagiert mit einer Notlösung auf seine vermasselten Auswahlverfahren. Weder für die Geschäftsführung des Gewandhauses noch für die Intendanz der Oper konnte ein geeigneter Kandidat gefunden werden (BackstageClassical hatte berichtet). Nun wurde eine Übergangslösung für die Oper beschlossen. Der Leipziger Stadtrat ernannte am Mittwoch die bisherige Verwaltungsdirektorin Lydia Schubert zur Interimsintendantin und Nachfolgerin von Tobias Wolff ab August 2026. Eine Entscheidung, die es nicht leichter machen wird, einen langfristigen Nachfolger zu finden. +++ Der GMD Ben Glassberg und die Volksoper in Wien werden in Zukunft getrennte Wege gehen. Grund der Trennung ist offensichtlich der Wunsch Glassbergs, sich um seine Genesung zu kümmern. In einer Pressemitteilung erklärt er: »Es war ein Privileg, an der Volksoper Wien als Musikdirektor an bahnbrechender Musik mitwirken zu dürfen. Zum Glück mache ich große Fortschritte und fühle mich jeden Tag stärker. So schwierig es auch ist, wird mein Abschied von der Volksoper meine Heilung hoffentlich positiv beeinflussen.« Alles Gute! +++ Der Schweizer Klavierpreis Prix Serdang (dotiert mit 50.000 CHF) geht an den deutschen Pianisten Colin Pütz. Die Auszeichnung überreichten Kurator Rudolf Buchbinder und Initiator Adrian Flury. +++ Ein neues Planungsteam soll die wegen massiver Kostensteigerungen umstrittene Sanierung des Augsburger Staatstheaters voranbringen. Wie die Stadt Augsburg mitteilte, übernimmt künftig das Münchner Architekturbüro Henn die Gesamtverantwortung für das Projekt. Das Vorhaben umfasst die Generalsanierung des historischen Theaters im Stadtzentrum, das 2016 wegen Brandschutzmängeln geschlossen wurde, sowie den Neubau angrenzender Gebäude. Die Kosten für das ursprünglich mit 186 Millionen Euro veranschlagte Projekt sind auf fast 420 Millionen Euro gestiegen. Mehr hier. +++ Letzte Woche haben wir von den Abgängen an der Wiener Staatsoper unter Bogdan Roščić berichtet, diese Woche gab Philippe Jordan sein Abschiedsdirigat und trat im Kurier noch ein wenig nach in Sachen Intendant. »Ich brauche jetzt nach den fünf Jahren eine Pause, und das Haus braucht eine Pause von mir«, sagte er.

Wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann? 

Der musikalische Bahnhof von Neustrelitz (Foto: BC)

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Ich bin schon ein wenig demütig, weil ich kommende Spielzeit die Entführung aus dem Serail am Theater in Neustrelitz inszenieren werde. Ein wunderschönes Haus in der alten Residenzstadt, die von Herzog Adolf Friedrich IV. geprägt wurde: Als Sommer- und Nebenresidenz der Herzöge von Mecklenburg-Strelitz mit einem wunderschönen Landestheater. Und dann ist da noch der Bahnhof von Neustrelitz, an dem ich auf meinen Anschluss nach Berlin wartete. Musik ist hier allgegenwärtig! Den Schlüssel für das Klavier kann man übrigens am Kiosk abholen. Anna Viebrock hätte diesen Warteraum nicht besser in Szene setzen können! 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann  

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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