Kaum Experten, viele Politiker und am Ende ein Rollenspiel. Leipzig überraschte die Bewerber für die Opern-Intendanz mit einem etwas andere Auswahlverfahren – und findet am Ende keinen geeigneten Kandidaten. Eine Rekonstruktion.
English summary: Leipzig’s search for a new opera director surprised applicants with a bizarre process: few experts, many politicians, and even a role-play exercise. Despite 36 applications and an elaborate two-round selection, no suitable candidate was found—raising questions about priorities and professionalism.
Das Auswahlverfahren war erstaunlich aufwendig, und dennoch hat die Stadt Leipzig nach eigenen Angaben keinen geeigneten Intendanten als Nachfolger von Tobias Wolff gefunden (BackstageClassical hat berichtet). Inzwischen haben sich mehrere Beteiligte bei uns gemeldet, um von einem sonderbaren Bewerbungsverfahren zu berichten: »Unprofessionell«, »dilettantisch«, »ausufernd« oder »ohne Interesse an künstlerischen Konzepten« seien die beiden Runden verlaufen, »eine Farce!«, wie einer der Beteiligten sagte.
Zunächst wurden mit 12 Bewerberinnen und Bewerbern Gespräche geführt, von denen fünf sofort in der darauffolgenden Woche zu einer zweiten Runde nach Leipzig gerufen wurden. Allein diese zeitliche Nähe ist ungewöhnlich, zumal die Kandidatinnen und Kandidaten zuvor drei Monate lang gar nichts vom Theater gehört hatten.
Hier ein Radio-Interview zum Thema: Axel Brüggemann bei mdr Kultur
Noch ungewöhnlicher aber war das Szenario, auf das sie dann gestoßen sind: Fast 50 Menschen saßen im Leipziger Ratssaal, in erster Linie Politikerinnen und Politiker unterschiedlicher Parteien und Stadträte, die grundsätzlich wenig Kultur-Kompetenz haben. Dazu Intendanten wie Andreas Homoki aus Zürich, Christoph Meyer von der Deutschen Oper am Rhein, selbst aus Seattle war ein Theatermensch zur Beurteilung eingeflogen worden, und natürlich waren auch Gewandhaus-Intendant Andreas Schulz, der GMD der Oper Leipzig, Ivan Repusíc, und die selbstbewusste Kulturbürgermeisterin der Stadt, Skadi Jennicke, anwesend.
Ein ungewöhnliches Rollenspiel
10 Minuten vor ihren Auftritten bekamen die fünf Bewerberinnen und Bewerber dann einen Briefumschlag zugesteckt, in denen ihnen ein Krisen-Szenario beschrieben wurde. Und das ging ungefähr so: »Eine langjährige Künstlerin des Hauses fühlt sich trotz des neuen und erfolgreichen Programms unglücklich und greift den Intendanten an. Wie reagieren Sie?«
Als die jeweiligen Intendanten vor die Kommission traten, öffnete sich eine Tür des Ratssaals, und eine Schauspielerin trat auf. Sie mimte die unglückliche Künstlerin und wartete auf die Reaktionen der Bewerberinnen und Bewerber. Ein Rollenspiel vor 100 Augen! Aber das Absurde an diesem »Theater für das Theater« war, dass die jeweiligen Schauspieler-Darstellerinnen angeblich weitgehend ahnungslos über die Bedürfnisse einer wirklichen Sängerin gewesen sein sollen – und der inszenierte Showdown schnell zu einem absurden Gespräch ohne Erkenntnisgewinn und Lösungsmöglichkeiten ausartete. Selbst Mitglieder der »Findungskommission« waren irritiert über dieses eher unübliche Vorgehen.
Auf Anfrage von BackstageClassical erklärt das Kulturamt indes: »Die Gestaltung des gesamten Auswahlverfahrens orientierte sich an dem Phasenmodell des Deutschen Bühnenvereins für die Intendanzfindung. (…) Entsprechend des Anforderungsprofils wurden die inhaltlichen Schwerpunkte der Gespräche auf künstlerisch-konzeptionelle Fragen sowie die Führungs- und Sozialkompetenz gelegt. Dabei kamen unterschiedliche Auswahlinstrumente, unter anderem die Durchführung eines Rollenspiels, zum Einsatz.« Während das Rollenspiel für die Verwaltung ein »übliches Instrument der Verhaltensbeobachtung und –beurteilung« darstellt, erklären viele Bewerberinnen und Bewerber auch aus anderen Verfahren, dass dieses Vorgehen eher unüblich sei.
Kunst oder Krisenmanagement?
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Auswahlprozesse berichteten auch, dass die künstlerischen Visionen und Erfahrungen eher weniger Platz im Verfahren gehabt hätten. Während in der ersten Runde fast gar nicht über Kunst gesprochen wurde, hätten die Bewerberinnen und Bewerber in der zweiten Runde nur 10 Minuten Zeit gehabt, um ihre Programme für die Oper und Musikalische Komödie vorzustellen. Beteiligte erklärten gegenüber BackstageClassical, dass es nach ihrem Empfinden im Findungsprozess weniger um künstlerische Konzepte als um die Qualität des Krisenmanagements gegangen sei. »Allein das verrät schon einiges über das Haus«, kommentierte einer der Beteiligten.
Dass Leipzig trotz dieses eigenwilligen und aufwendigen Verfahrens die Öffentlichkeit am Ende wissen ließ, dass man »keine geeigneten Bewerber« gefunden habe, dürfte die weitere Suche nach einem Intendanten zusätzlich erschweren. Zwar wurden die letzten fünf Kandidaten wohl »geranked«, aber die Verantwortlichen konnten sich nicht mehrheitlich auf einen der Bewerber einigen.
Wohl keiner der 12 Kandidatinnen und Kandidaten wird sich erneut auf eine Bewerbung einlassen, und wer sich nun bewirbt, weiß, auf welchen kulturpolitischen Dilettantismus er in Leipzig treffen könnte. Kulturbürgermeisterin Jennicke erklärt die Schwierigkeiten gegenüber BackstageClassical so: »Die Bewerberlage sah mit 36 eingegangenen Bewerbungen sehr vielversprechend aus. Allerdings hat sich im Zuge der geführten Gespräche ein differenziertes Bild der Kandidaten herausgestellt, so dass am Ende dem Stadtrat keine geeignete Persönlichkeit zur Wahl einer neuen Intendanz der Oper Leipzig vorgeschlagen werden konnte. Dies ist sehr bedauerlich. Im Ergebnis muss ein zweites Auswahlverfahren gestartet werden.« Mit anderen Worten: Es lag an den Kandidaten und nicht an der Kommission, dass niemand gefunden wurde.
Große Herausforderungen
Tatsächlich sind die Herausforderungen der Oper (und des Gewandhauses) gigantisch. Die Auslastungszahlen sind bedenklich, vor allen Dingen ist die Struktur unglaublich aufgebläht. Während Andris Nelsons GMD des Gewandhausorchesters ist (und offenbar auch bleiben wird), spielt sein Ensemble auch in der Oper – hier allerdings unter Leitung von Ivan Repusíc.
Die Abstimmungen zwischen Oper und Orchester sind komplex, außerdem muss die Musikalische Komödie bedient werden. Viele gut bezahlte Chefs verhandeln hier über ihre eigenen Interessen. Vielleicht kein Wunder, dass die aktuellen Kandidaten besonders auf ihre Krisen-Kommunikation abgeklopft wurden.
Vielleicht wäre es klüger gewesen, das Vertragsende von Nelsons und Gewandhaus-Intendant Schulz zu antizipieren und sich an Lösungen wie in Dresden oder Berlin mit den jeweiligen Staatskapellen zu orientieren. Gewandhaus, Oper, Musikalische Komödie und Schauspiel hätten grundlegend neu gedacht werden können. Stattdessen scheint Leipzig nun weitermachen zu wollen wie immer. Dieses Mal hat die Stadt 12 Bewerberinnen und Bewerbern einen Korb gegeben – im nächsten Auswahlverfahren könnte es genau andersherum sein.