Sexismus lauert überall

Juni 29, 2025
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Sexuelle Übergriffe lauern überall (Foto: Artpolis)

Das Jahrbuch Musik und Gender beschäftigt sich diese Jahr mit dem Thema »Genie – Gewalt – Geschlecht«. Wir bringen einen Text von Susanne Rode-Breymann über das System der Musikhochschulen.

English summary: The Yearbook Music and Gender explores the theme “Genius – Violence – Gender.” It features an essay by Susanne Rode-Breymann on systemic power abuse in music academies. Her text critically examines how sexualized violence is structurally embedded in music education and institutions, urging a shift from focusing on individual perpetrators to addressing the underlying power systems.

Machtmissbrauch und sexualisierte Übergriffe sind im Musikbetrieb strukturell präsent: an Hochschulen, in Konzerthäusern, im Instrumentalunterricht, oder in der Musikgeschichtsschreibung. Der neue Band Genie – Gewalt – Geschlecht, herausgegeben von Anke Charton und Elisabeth Treydte (Georg Olms Verlag, 29,00 Euro), will eine Entschlüsselung der Dimensionen von Gewalt in der Musik vornehmen. Wissenschaftler:innen, Musiker:innen und Studierende eröffnen mit ihren Texten, von theoretischer Analyse bis Lyrik, neue Perspektiven für eine solidarische Kultur in der Musik. Wir drucken vorab den Essay von Susanne Rode-Breymann.

Der ›große Bösewicht‹ und das ›System Musikhochschulen‹. Eine Positionierung gegen sexualisierten Machtmissbrauch

»Viele Frauen denken, an der Uni passiert mir nichts«, lautet der Titel eines Beitrags in Zeit online vom Juni 2014. Darin geht es um die Ergebnisse der ersten großen Studie zu sexueller Belästigung an Universitäten, durchgeführt von der Kriminologin Katrin List. Auf der Grundlage von knapp 13.000 befragten Studentinnen konstatiert List: »Sexuelle Belästigung ist weit verbreitet: 81 Prozent der Studentinnen haben das schon einmal erlebt. Mehr als jede zweite fühlt sich an der Uni belästigt.«ⁱ Weiter führt sie aus:

»3,3 Prozent der Befragten gaben an, während ihrer Studienzeit sexuelle Gewalt im strafrechtlichen Sinne erlebt zu haben. Während die Mehrzahl der Täter Kommilitonen waren, gaben 7,7 Prozent der Betroffenen an, dass auch Hochschullehrer übergriffig wurden. […] Leider befürchteten Studentinnen generell, übergriffige Lehrende würden von der Uni geschützt und eine Beschwerde bliebe ohne Konsequenzen. Deshalb erfahren die Unis nichts davon – und können nicht zeigen, dass sie sehr wohl auch gegen Hochschullehrer vorgehen würden.«2

Was Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte einzelner Hochschulen im Zuge ihrer Arbeit vor Ort längst thematisiert hatten und in ihren Jahresberichten – durch aus auch mit Zahlen unterlegt – darlegten, war mit diesen Fakten endgültig in der Welt, nicht als individueller Einzelfall vor Ort, sondern als Verallgemeinerung für das gesamte Hochschulsystem. Seitdem ist viel geschehen, aber was Straftaten von Individuen, was Grundstrukturen des Systems Hochschule sind, ist bis jetzt nicht diskutiert oder gar geklärt.

Michel Foucault hat 1976 in Histoire de la sexualité die Aufgabe benannt, sich »Schritt für Schritt zu einer anderen Konzeption der Macht vorzuarbeiten. Den Sex ohne das Gesetz und die Macht ohne den König zu denken.« Die Fokussierungen auf den sexualisierten Machtmissbrauch durch Siegfried Mauser seit 2016 und (um ein Vielfaches mehr) von Harvey Weinstein in den letzten fünf Jahren, entfernen sich von dieser Aufgabe, Macht ohne den König zu denken. 

Vielmehr schenken sie dem ›bösen‹ König ungeteilte Aufmerksamkeit und zollen ihm eine neue Form von Tribut. Meredith Haaf ruft dieses Phänomen in der Süddeutschen Zeitung vom 21. Dezember 2022 unter dem Titel »Ein zu perfekter Böse wicht?« auf und fragt, »warum gerade diese Fokussierung auf einen prominenten Täter ein Problem für die ›MeToo‹-Bewegung« sei: Das Problem liege darin, dass Weinstein in »der Debatte um sexuellen Machtmissbrauch […] als Inkarnation des Bösen« gelte und sein Name in den letzten fünf Jahren zur »Chiffre für sexualisierten Machtmissbrauch« geworden sei. Die Etikettierung als »ikonischer Bösewicht« ermögliche, dass sich die Gesellschaft »selbstzufrieden nach der Verurteilung endlich anderen Problemen widmen« könne, es bestehe somit »die Gefahr, dass die Öffentlichkeit vergesse, worum es bei »MeToo« wirklich gehe: darum, ›was Mächtige von denen verlangen, über die sie Macht haben‹. Das sei etwas, was überall und jeden Tag geschehe, ein Promi-Prozess schaffe das nicht aus der Welt.«⁴

*

Als 2015 ein Anfangsverdacht Ermittlungen gegen Siegfried Mauser auslöste, setzten die Überlegungen im Vorstand der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen in der HRK (= RKM) in eben jenem Spannungsfeld zwischen Individuum und System an, ausgehend von der Frage, ob wir es mit einem individuellen Fall zu tun hatten oder ob uns⁵ der Fall als RKM insgesamt etwas anging? Seinerzeit noch eher intuitiv stand uns in diesem Moment unsere Verantwortung für eine Horizontverschiebung innerhalb unserer Hochschulen vor Augen. Wir sahen die Aufgabe einer klaren Positionierung gegen sexualisierten Machtmissbrauch vor uns, zugleich jedoch auch die Foucault’sche Aufgabe, zu reflektieren, wie wir in Musikhochschulen die ›Macht mit dem König‹ eindämmen können. 

Es war der Beginn intensiver mehrjähriger Arbeit der RKM an diesem Thema, als bei der Sommerkonferenz im Juni 2016 in Weimar eine Plenumsdiskussion zum Thema Sexuelle Belästigung sowie zu möglichen Präventivmaßnahmen geführt und eine Arbeitsgruppe »Sexualisierte Diskriminierung« eingesetzt wurde. Diese erarbeitete im ersten Schritt Handlungsempfehlungen, die von den 24 deutschen Musikhochschulen (individuell) umgesetzt werden sollten und umgesetzt wurden. Grundlage war eine intensive Auseinandersetzung mit seiner zeit bereits in verschiedenen Universitäten vorliegenden Richtlinien gegen Machtmissbrauch, Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Gewalt sowie mit den »Handlungsempfehlungen der BuKoF zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an künstlerischen Hochschulen«. 

Dabei machte sich die RKM folgende Formulierung der BuKoF zu eigen:

»Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt sind Verletzungen des Persönlichkeitsrechts. Die Folgen sind schwerwiegend, persönlich sehr belastend und beeinträchtigen die berufliche Entwicklung. Wird derartiges Verhalten gegenüber Studierenden, Kolleg*innen oder sonstigen Mitarbeiter*innen toleriert, schadet dies der Arbeitsatmosphäre und dem Ruf der Hochschule.«⁶ 

Mit dem Ziel, in allen 24 der RKM angehörenden Hochschulen einen einheitlichen Qualitätsstandard zu etablieren, wurden die von der AG erarbeiteten Handlungs empfehlungen in die RKM-Winterkonferenz im Januar 2017 eingebracht. Formuliert wurden folgende Zieldimensionen für Organisationsstruktur (z. B. Richtlinien, Verfahrensabläufe und Regularien) und Organisationskultur (z. B.Mentalitätsänderungen und Sensibilisierung für die Thematik): Organisationsstruktur

  • Erlass von Richtlinien gegen sexualisierte Diskriminierung und Gewalt innerhalb von zwei Jahren
  • Erlass von Beschwerderichtlinien zur Etablierung informeller und formeller Beschwerdewege innerhalb von zwei Jahren⁷
  • Überprüfung vorhandener Richtlinien auf Aktualität und Passgenauigkeit
  • Bekanntmachung der Frauen- / Gleichstellungsbeauftragten sowie der Beschwerdestelle nach § 13 AGG 
  • Aushändigung der Richtlinien an alle Hochschulmitglieder und -angehörige bei Ernennungen, Aufnahme von Beschäftigungsverhältnissen und Immatrikulation und Einholen des Commitments dieser Personen durch Unterzeichnung der Richtlinie 
  • Angebot einschlägiger Schulungen und Fortbildungen zur Prävention von Grenzüberschreitungen
  • Entwicklung eines Geschäftsprozesses für einen Lehrerwechsel, der durch Vorkommnisse aus dem Bereich der sexualisierten Diskriminierung veranlasst ist.

Organisationsskultur

  • Klare öffentliche Positionierung der Hochschulleitung und Hochschul gremien gegen sexualisierte Diskriminierung und Gewalt (»Null Toleranz«)
  • unbedingte Sanktionierung von Fehlverhalten
  • Empowerment der Hochschulleitungen und des weiteren Personals mit Führungskompetenz im Umgang mit dem Thema und Operationalisierung von rechtlichen Grundlagen durch entsprechende Fortbildungen ggf. durch Entwicklung von Expertise in den einzelnen Hochschulen (die Arbeitsgruppe empfiehlt als ersten Schritt einen juristischen Fachvortrag im Rahmen der nächsten Sommerkonferenz [2017])
  • Sensibilisierung aller Hochschulmitglieder und -angehörigen durch geeignete Öffentlichkeitsarbeit (Flyer und/oder Plakatkampagnen)

Weitere Schritte waren die Erarbeitung einer »Toolbox« mit Maßnahmen zur Prävention (Sommerkonferenz in Rostock 2017), das Empowerment der Hochschulleitungen etwa durch einen juristischen Fachvortrag im Rahmen der Winterkonferenz 2018, die Entwicklung eben jenes geforderten Geschäftsprozesses für einen Lehrerwechsel in Folge sexualisierter Diskriminierung oder sexualisierter Übergriffe sowie qualitätssichernde Überlegungen zur Prüfungs- und Feedbackkultur. Diese mündete im April 2019 in das Papier »Guter Umgang im Studierenden-Lehrenden-Verhältnis, insbesondere in Lehr- und Prüfungssituationen / Prävention von Machtmissbrauch«.

Im April 2018 verabschiedete auch die HRK »Empfehlungen gegen sexualisierte Diskriminierung und sexuelle Belästigung an Hochschulen«, in denen sich die Hochschulen »ausdrücklich gegen sexuelle Belästigung und sexuellen Missbrauch insbesondere durch sexualisierte diskriminierende und degradierende Handlungen und Verhaltensweisen« positionierten und die Selbstverpflichtung formulierten, »beim technisch-administrativen und beim wissenschaftlichen Personal ihre Strukturen so aus[zu]gestalten, dass die Gefahr von Machtmissbrauch durch hierarchische Strukturen minimiert wird. Das gleiche gilt im Verhältnis von Studierenden untereinander.«⁸

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Zeitgleich zur (präventiven) Arbeit an den Strukturen zeitigte der Fall Mauser mit seinem langwierigen Prozessverlauf mit mehrfachen Revisionen, einhergehend mit einer Verurteilung wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten auf Bewährung (im Juni 2016 in 1. Instanz) und einer im 2. (am 27. November 2017 beginnenden) Prozess korrigierten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten, ein erhebliches Medien-Echo. In der FAZ, im Spiegel und in der Süddeutschen Zeitung formierte sich ein Diskursfeld zum Thema sexualisierter Machtmissbrauch mit zwei zentralen Narrativen. Das eine ist ein brisantes Blitzlicht zum Thema Macht und Scham, das andere eine systemische Zuschreibung über ›die‹ Musikhochschulen.

Zunächst zur systemischen Zuschreibung, die insbesondere der Spiegel zu seiner Stoßrichtung entwickelte, der viele folgten. Unter dem Titel »Gefährliche Nähe« legt der Spiegel im April 2019 den Finger in das, was er für die systemische Wunde dieses Hochschultyps hält und schreibt: »Künstlerische Hochschulen scheinen anfällig für Übergriffe sexueller Art zu sein. Das liegt in der Natur des Unterrichts, bei dem oft ein Lehrer und ein Schüler unter sich sind.«⁹ 

Das Narrativ, Einzelunterricht habe sexualisierten Machtmissbrauch gleichsam im Gefolge, diskreditiert die große Mehrheit von Lehrenden. Mehrheitlich lehren sie mit großer Verantwortung und im Wissen, dass künstlerischer Einzelunterricht im Rahmen des Musikstudiums eine besondere pädagogische Verantwortung und eine erhöhte Sensibilität der Lehrenden erfordert, so dass jeglicher Missbrauch dieser besonderen Unterrichtssituation mit unverzichtbarer Körperlichkeit vermieden wird.

Aber es ist ein starkes Narrativ, dem schwer etwas entgegenzusetzen ist. Selbst die HRK-Empfehlung räumt ein, Hochschulen seien »aufgrund der bestehenden Betreuungs- und Abhängigkeitsverhältnisse anfällig für verschiedene Formen des Machtmissbrauchs«, und »im Hochschulkontext« bestehe »eine besondere Verwundbarkeit, denn es existieren sowohl im Studium als auch in der Qualifikationsphase besondere Abhängigkeitsverhältnisse.«ⁱ⁰ Für den Beleg des Besonderen brauchten wir Vergleichszahlen, die wir nicht haben.

Der Weisse Ring spricht von 64.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung im Jahr 2018, laut Statista Research Department vom Juni 2022 stiegen die polizeilich erfassten Fälle von Straftaten gegen sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland von 46.864 im Jahr 2010 auf 106.656 im Jahr 2021, davon 9.903 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffenⁱⁱ. Hier bräuchte man genauere Aufschlüsselungen zu den ›Schauplätzen‹, um das Besondere von (Musik-) Hochschulen belegen zu können. Vielleicht spukt uns beim Narrativ des Besonderen und dem Schauplatz Einzelunterricht einfach der ›König‹ – das Genie, der Star – im Kopf, während wir die viel mehr Fälle von Nicht-Promis einfach gar nicht kennen. 

*

Das heißt selbstverständlich nicht, wir hätten nicht die »Pflicht, für eine Hochschule als gewaltfreien Raum einzutreten, in der man sich frei bewegen kann und nicht besonderen Gefahren durch hierarchische Strukturen ausgeliefert ist«,12 wie es die HRK-Empfehlung formuliert. Und das heißt vor allem auch, über das zweite Narrativ zu Macht und Scham nachzudenken, die Patrick Bahners im Zusammenhang mit dem Fall Mauser thematisiert: Aus Anlass der Urteilsverkündung am Ende des zweiten Strafprozesses gegen Mauser schreibt Bahners am 18. Mai 2018 in der FAZ: »Das Urteil im zweiten Mauser-Prozess will kein Signal sein und enthält gleichwohl Lehren für die Erkenntnis und Ahndung sexueller Gewalt. Eine lautet: Wirtschaftliche Ohnmacht vermehrt die Gründe der Scham.«13 

Mit Ute Frevert, die sich in ihren Forschungen zur Historizität von Gefühlen umfassend mit Scham beschäftigt hat, sei aufgerufen, dass Scham »ein Gefühl von ungeheurer Wucht und Wirkmächtigkeit« ist, »tödlich sein« kann und »sich auch dem Weiterlebenden unauslöschlich«14 einprägt. »Wer sich einmal ›in Grund und Boden‹ geschämt« habe, so Frevert, werde »diese Erfahrung kaum je vergessen«. Scham, eine »interpersonale Emotion« könne durch die »soziale Einbettung […] mächtig und gefährlich werden«, weil Menschen aus »Angst vor Beschämung […] Kopf und Kragen«15 riskierten und weil »Scham auf die Angst [vor…] den ›Überlegenheitsgesten Anderer‹ im Zustand der Wehrlosigkeit«ⁱ⁶ reagiere. Beim Drama »von Macht und Ohnmacht, Scham und Schande«17 gehe es »um Täter, Opfer und Zuschauer, um Machtansprüche […], um Applaus und Kritik.«18 In diesem Sinne sind (Musik-)Hochschulen Schauplätze von Macht. Macht, wie Max Weber formuliert, »bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleich- viel worauf diese Chance beruht.«ⁱ⁹ Macht, wie Michel Foucault formuliert,

»operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte.«20

Über die Verknüpfung von Macht und Scham heißt es bei Ute Frevert, Beschämen habe »immer mit Macht zu tun: mit dem Anspruch, Macht auszuüben«ⁱ und dies bedürfe eines Resonanzraums von »Akklamation und Zustimmung«

Die Reflexion über Hochschulen als Schauplätzen von Macht in diesem Sinne und über die eigene Rolle auf diesem Schauplatz ist die eigentliche Aufgabe, die nach der Formulierung von Verfahrensinstrumenten und möglichen Präventionsmaßnahmen (wie sie die RKM in der Phase von 2016 bis 2019 erarbeitet hat) ansteht. 

Es ist die weit schwierigere Arbeit, denn Einsicht und ggf. Änderung von Haltungen von Hochschulmitgliedern kann nicht wie eine Richtlinie erlassen werden, sondern bedarf der Aushandlung und der gemeinsamen Anstrengung einer Horizontverschiebung. Und hier haben die (nicht zuletzt von den Medien befeuerten) Skandalisierungen dann doch eine wichtige Funktion: In den 1970er Jahren, so Ute Frevert, habe man »über Vergewaltigungen« nicht gesprochen,

»und so blieben sie für die Täter in der Regel folgenlos. Falls sie doch einmal universitätsintern zur Anzeige kamen, wiegelte die Administration gern ab, um den Ruf der Institution nicht zu gefährden. Auch die Opfer von Vergewaltigung taten sich schwer, an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Schock und die Scham darüber, gewaltsam zum Opfer einer sexuellen Handlung erniedrigt worden zu sein, saßen tief.«23

Seinerzeit waren es die Feministinnen, die »das Thema […] aufgriffen und skandalisierten«, so dass »sich die Stimmung zu drehen«24 begann. In den letzten Jahren war der Fall Mauser ein solches Drehmoment für die Musikhochschulen, der, so Kia Vahland, als »der einzige prominente Fall im deutschen Kulturleben […] nach den unter #MeToo bekannt gewordenen Empörungswellen mit einer mehr- jährigen Haftstrafe endete.«25 Der Fall hinterlässt uns eine sicher mehrjährige Arbeit, wie sie die Bundesagentur für Arbeit in der »Gemeinsamen Erklärung: Gemeinsam gegen Sexismus und sexuelle Belästigung!« vom 25. November 2022 umrissen hat: »Sexismus und sexuelle Belästigung«, so heißt es darin, »begeg- nen vielen Menschen im Alltag in ganz unterschiedlicher Weise und überall – im öffentlichen Raum, in den Medien, auf der Theaterbühne, in der Werbung, am Arbeitsplatz, in Bus und Bahn oder in der Politik. Sexismus« sei »in unserer Gesellschaft viel weiter verbreitet, als wir es auf den ersten Blick sehen.«26 

Was in der Erklärung gefordert wird, gilt auch für die Hochschulen: »Daran arbeiten wir gemeinsam: Wir werben für eine Kultur und Organisationen, in denen Sexismus und sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Männer keinen Platz haben«, wir schreiten ein »gegen sexistisches Verhalten und sexuelle Belästigung« und verstehen dies als Führungsaufgabe, wir »wenden klare Leitlinien an.«27

1 https://www.zeit.de/2014/25/sexuelle-belaestigung-universitaet-deutschland (23. 12. 2022). Vgl. dazu auch Katrin List / Thomas Feltes: Sexuelle Gewalt an Hochschulen, in: die hochschule. journal für wissenschaft und bildung 2 (2015) = Tabus und Tabuverletzungen an Hochschulen, S. 115–128, unter https://www.hof.uni-halle.de/journal/texte/15_2/List_Feltes.pdf (23. 12. 2022).
2 Ebd.
3 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1977, S. 112
4 Meredith Haaf: Ein zu perfekter Bösewicht? in: Süddeutsche Zeitung vom 21. 12. 2022. Sie bezieht sich in ihrer Argumentation auf die Juristin Naomi Mezey von der Georgetown University in Washington, D.C. und zitiert Dahlia Lithwick aus einem nicht näher bezeichneten Text im New Yorker.
5 Vorsitzender der RKM war seinerzeit und bis 2017 Martin Ullrich; 2017 übernahm die Verfasserin den Vorsitz.
6 »Handlungsempfehlungen der BuKoF zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an künstlerischen Hochschulen« vom 21. 07. 2016.
7 Dieses Ziel wurde im Wesentlichen erreicht: Während 2017 10 von 24 Musikhochschulen über entsprechende Richtlinien verfügten, hatten bei der RKM-Sommerkonferenz 2019 fast alle Hochschulen (Beschwerde-)Richtlinien oder einen Code of Conduct erarbeitet; bei einigen wenigen fehlte damals noch der letzte Beschluss der Gremien. Verweise auf die jeweiligen Richtlinien finden sich auf der RKM- Website.
8 Gegen sexualisierte Diskriminierung und sexuelle Belästigung an Hochschulen. Empfehlung der 24. HRK-Mitgliederversammlung vom 24. 4. 2018, veröffentlicht auf der HRK-Website.
9 Matthias Bartsch / Martin Knobbe / Jan-Philipp Möller: Gefährliche Nähe, in: Spiegel 18/2019 vom 27. 4. 2019, S. 34–36.
10 Empfehlung der 24. HRK-Mitgliederversammlung vom 24. 4. 2018 (Anm. 8).
11 Vgl. dazu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/550357/umfrage/anzahl-der-straftaten-gegen-die-sexuelle-selbstbetimmung-in-deutschland/ (23. 12. 2022).
12 Empfehlung der 24. HRK-Mitgliederversammlung vom 24. 4. 2018 (Anm. 8).
13 Patrick Bahners: Es ist wie ein Dolch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 5. 2018.
14 Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt am Main 2017, S. 9.
15 Ebd., S. 9 f.
16 Ebd., S. 23.
17 Ebd., S. 11.
18 Ebd., S. 23.
19 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1921), 5., revidierte Auflage, Tübingen 1972, S. 28.
20 Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. II: 1970–1975, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2002, S. 286.
21 Frevert: Die Politik der Demütigung (Anm. 14), S. 225.
22 Ebd., S. 230.
23 Ebd., S. 122.
24 Ebd.
25 Kia Vahland: Entlarvendes Lehrstück, in: Süddeutsche Zeitung vom 14. 11. 2019.
26 Bundesagentur für Arbeit: Gemeinsam gegen Sexismus und sexuelle Belästigung! vom 25. 11. 2022: https://www.dialogforen-gegen-sexismus.de/gemeinsame-erklaerung-gegen-sexismus (23. 12. 2022).
27 Ebd.

Susanne Rode-Breymann

Susanne Rode-Breymann studierte in Hamburg Alte Musik, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft, war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Bayreuth und Bonn und von 1999 bis 2004 Ordinaria für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Köln, 2004 bis 2024 Professorin für Musikwissenschaft mit einem Schwerpunkt in Gender Studies an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, wo sie 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender gründete und leitete. Ab Oktober 2024 ist sie Gastprofessorin für musikspezifische Genderforschung an der HfM Nürnberg im Rahmen des Spitzenprofessurenprogramms der bayerischen Hightech Agenda. Im Fokus der letzten Jahre standen Hochschulleitung und -politik (2010 bis 2024 Präsidentin der HMTMH; 2017 bis 2023 Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen; 2021 bis 2023 HRK-Vizepräsidentin für Kooperation und Vielfalt innerhalb des Hochschulsystems).

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