Reißzahn im Regierungsviertel

Juni 25, 2025
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Das DSO mit Reinhold Messner in der Alpensymphonie (Foto: Adamik)

Thomas Schmidt-Ott hat das DSO erfolgreich zu einem Orchester mit Haltung mitten in der Gesellschaft verankert. Am Ende seiner Amtszeit erklärt er, warum Konzerte heute wieder politisch sein müssen – und ein Orchester Haltung zeigen kann.

English summary: Thomas Schmidt-Ott repositioned the DSO as a socially engaged, politically aware orchestra. Through bold programming, diversity initiatives, and strategic innovation, he proved that classical music must take a stand to remain relevant and impactful in today’s society.

Thomas Schmidt-Ott

»Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.« Der berühmte Satz von Henry Ford klingt so schlicht wie provozierend. Ein Satz gegen Trägheit, gegen Stillstand, gegen die ewige Wiederholung des Immergleichen. Und genau diesen Satz hatte ich vor Augen, als ich im Sommer 2020, mitten im Corona-Ausnahmezustand, eine Entscheidung traf, die mein Leben verändern sollte.

Die Kreuzfahrtbranche, mein Zuhause seit Mitte der 2000er Jahre, lag am Boden. Die Bilder der Diamond Princess, die als schwimmende Quarantänestation vor Yokohama trieb, waren Sinnbild eines kollektiven Albtraums. Schiffe wurden zu Virusfallen, Tourismus zum Hochrisiko. Kurzarbeit, Entlassungen und plötzlich: Stillstand. Und genau da kam der Anruf: Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, DSO, zwei Jahrzehnte nach meinem Weggang (ich war dort seit Mitte der 1990er Orchesterdirektor an der Seite Kent Naganos), bat um meine Rückkehr. Erst als Corona-Krisenberater, und schon bald, auf Bitten Robin Ticciatis, Chefdirigent und Künstlerischer Leiter, als Direktor. Für mich: Direktor 2.0… Ein Comeback, aber nicht in alte Routinen.

Denn mir war klar, nach 15 Jahren Massentourismus begebe ich mich in der Klassik zurück in den Elfenbeinturm. Eine Nische. Ein kultureller Schutzraum für die Ü60-Generation, die sich in Brahms, Beethoven und Bruckner einrichtet wie in einem wohl temperierten Wintergarten. Das Problem: Es zieht. Hier und da Korrosion: Der Nachwuchs bleibt aus.

Klassik als Komfortzone

Nur rund fünf Prozent der Bevölkerung besuchen regelmäßig klassische Konzerte. Das Stammpublikum ist überaltert, die Programme vorhersehbar, das Repertoire im Kern versteinert. Zeitgenössische Musik wird meist in homöopathischen Dosen verabreicht, um die Schmerzgrenze nicht zu überschreiten. Als ich mich zum Jobantritt in der ARD-Orchesterlandschaft umsah, ob in München, Hamburg, Berlin, Köln oder Stuttgart, fiel mir unabhängig von all diesen Handschriften vor allem eines auf: erstaunlich viel Gleichklang. Überall nahezu identische Komponisten, (fast) dieselben Dirigent:innen, Solist:innen, Kompositionsaufträge. Der Begriff »Karussell« drängte sich unweigerlich auf.

DSO: Das Orchester auf den Spuren von Diversity.

Selbst ambitionierte Education-Programme, digitale Spin-offs und interaktive partizipative Formate ändern wenig an der Grunddiagnose – und die gilt in der Klassik generell: Klassik ist ein Rückzugsraum. Ein Ort für kulturelle Selbstvergewisserung der Eltern, selten – und zu wenig – für die Neugier, das Spiel, den Spaß der Kinder. Dabei hat Musik ein radikales Potenzial: Sie kann Grenzen sprengen, Perspektiven und Kontexte verschieben, Austausch aktivieren. Doch dafür muss man sie aus der Vitrine holen. Nicht nur ein/zwei/dreimal pro Spielzeit, sondern immer wieder aufs Neue. Mit jedem Programm

BWL trifft Beethoven, Brahms & Co

Ich kam zurück mit einem Koffer voller Erfahrungen aus der sogenannten »Volumenmarkt«-Logik der TUI-Welt. Dort, wo hunderttausende Kunden tagtäglich »teure« Entscheidungen treffen – darüber, welchen Urlaub sie kaufen, welchem Anbieter sie vertrauen, wofür sie Zeit oder vier- bis fünfstellig Geld investieren – geht es den Produzenten nicht um Kunst und Bildung, sondern um Wirkung und Bindung. Und so übertrug ich ein Konzept aus der Betriebswirtschaftslehre auf das DSO: die gute alte Ansoff-Matrix. Vor 70 Jahren von Igor Ansoff erstmals systematisch erfasst, bis heute gültig und im Kontext Kultur durchaus innovativ anwendbar. Es geht bei ihr um Strategien zur Weiterentwicklung und stetigen Erneuerung eines Produkts. Simpel, klar, in vier Dimensionen. Diese sind:

  • 1. Marktdurchdringung: d.h. Klassisches Repertoire für ein klassisches Publikum.
  • 2. Marktentwicklung: Klassik in neuen Zusammenhängen, an neuen Orten für ein neues Publikum.
  • 3. Produktentwicklung: Neues Programm in gewohnten Rahmenbedingungen für Stammkunden.
  • 4. Diversifikation: alles neu – ein neues Produkt für ein neues Publikum.

Was in Power-Point-Kästchen trocken klingt, entfaltete im Kontext des DSO nach Corona eine enorme Entwicklungskraft. Denn wir machten Ernst. Ansoff wurde für mich bewusst zur strategischen Führungs- und für mein Team zur Managementmaxime. Wir programmierten spürbar anders. Zielgerichtet. Thematisch. Politisch. Kundenorientiert und trotzdem provokant.

Konzerte als Intervention

Statt des jahrhundertealten Routine-Dreiklangs aus Ouvertüre, Konzert und Sinfonie ging es uns um Kontextualisierung. Wir suchten – orchestral, mit den Ausdrucksmitteln unserer Möglichkeiten – die politische Bühne. Nicht die Repertoirepflege stand im Vordergrund sondern die programmatische und politische Provokation.

Podcast über die Konzepte des DSO mit Marlene Brüggen

Beispiel: »Kein Konzert ohne Komponistin«, das kuratorische Dogma Marlene Brüggens (Leitung Künstlerische Planung des DSO). Ein Quote. Jede Spielstätte, jedes Konzert, jede Dramaturgie – mit mindestens einem Werk einer Frau. Der Aufschrei folgte prompt – hat doch tatsächlich der: »… mit Steuergeldern gemästete Oberchef Schmidt-Ott entschieden, für die kommende Spielzeit in der gesamten Saison 2024 kein einziges Konzert ohne den Beitrag mindestens einer Komponistin anzubieten. Diese ‚feministische Musikpolitik‘ – wie es die personifizierte Vorhut der Frauenbewegung, Herr Schmidt-Ott, mutmaßlich in Andenken an die feministische Außenpolitik der verbalen grünen Totalkatastrophe Baerbock nannte – eröffne dem Publikum die Möglichkeit, jede Menge unbekannte Stücke kennenzulernen oder wiederzuentdecken.« (siehe: https://journalistenwatch.com) Die Reaktionen reichten von amüsant bis aggressiv. Und genau das war der Beweis für die Richtigkeit und Relevanz unseres Tuns.

Denn: Wer nicht aneckt, wird übersehen.

Der Shitstorm als Ritterschlag

In den 1990er-Jahren und frühen 2000er-Jahren hatte ich mit Kent Nagano, Dieter Rexroth Konzertprogramme fürs DSO entwickelt, die durch die exklusive Auseinandersetzung mit ‚dem Werk an sich‘ geprägt waren. Werkimmanente Diskurse… – wir diskutierten Stunden um Stunden, nächtelang, über jedes Stück, seinen Platz in der Musikgeschichte und im Programm: Kompositionsstile, Ästhetiken, historische Verortung, biographische Bezüge, thematische und motivische Verbindungen standen im Zentrum unserer Gespräche. Unser Ziel war es, zumeist durch bedeutungsvolle Kontraste – z.B. Ives mit Vivaldi, Brahms mit Rihm oder Bruckner mit Boulez -, neue Wahrnehmungsräume zu öffnen und dadurch das klassische Konzertformat intellektuell wie emotional zu erweitern. Die auf Nagano folgenden Chefdirigenten Ingo Metzmacher (2007–2010), Tugan Sokhiev (2012–2016), Robin Ticciati (2017-2024) führten diese Tradition mit individuellen inhaltlichen Schwerpunkten und Vorlieben weiter.

Michel Friedmann beim DSO (Foto: Pfau)

Der Shitstorm, der im Frühjahr 2023 auf unsere Pressekonferenz zum Thema »Kein Konzert ohne Komponistin« folgte, war für mich ein Moment der Erkenntnis. Mir wurde schlagartig klar: Klassik darf sich nicht länger in Werklogik verschanzen. Es reicht nicht, exzellent zu spielen. Es reicht nicht, musikologisch wertvolle Programme zu konzipieren, entsprechend Programmhefte zu publizieren. Es reicht nicht, auf das Genie des/der Urheber:in und der Interpret:innen zu verweisen. Als DSO sind wir Teil der Gesellschaft. Und wenn diese aus den Fugen gerät, was derzeit allüberall spürbar ist, müssen wir Stellung beziehen. »Wenn Erinnerung verzerrt und Geschichte instrumentalisiert wird, ist Wachsamkeit gefordert.« Das war 2024 unser Leitgedanke für die Reihe »Orchester für die Demokratie« (in Kooperation mit dem Deutschen Bühnenverein). Kein moralischer Zeigefinger. Stattdessen eine lautstarke Verortung des DSO für Diversität und Vielfalt.

Relevanz durch Reibung

Wir luden Künstler wie Navid Kermani, Michel Friedman oder Aaron Zigman ein, arbeiteten mit Philosophen, Schauspieler:innen, entwickelten neue Reihen der Erinnerungskultur wie Heldinnen in Kooperation mit dem Centrum Judaicum und Grenzgänge wie Die Kunst der UnFuge mit den prominentesten Kabaretist:innen Deutschlands. Für die Saison 2025/26 planten wir mit Afrodiaspora – Composing while Black und dem Haus der Kulturen der Welt ein Programm, das marginalisierte Perspektiven schärft: Schwarze Komponist:innen, deren Namen in der Musikgeschichte nahezu unsichtbar geblieben sind, präsentieren wir als Stimmen einer künstlerischen Weltgeschichte, die nie weiß war. Denn – so simpel es klingt – wer nicht gehört wird, verschwindet…

Michel Friedman zum Konzert des DSO und zur Kulturpolitik in Berlin

Der Managementvordenker Reinhard K. Sprenger beschreibt Konflikte als notwendige Ergänzung der Unternehmensführung: »Im Konflikt erfährt man eine Weltergänzung. Man kommt aus dem Mangel in die Fülle, aus der Unterbelichtung in das volle Bild. […] Jeder weiß, dass ohne Konflikt keine Entwicklung möglich ist.« Diese Haltung prägte meine Arbeit im DSO. Sie war ein postpandemisches Lebensgefühl, das wir unter den Musiker:innen wie im Management – orchesterintern als »oneDSO« bewusst adressiert – gemeinsam lebten. Haltung als Investition in Relevanz. Ich bin überzeugt: Wer sich als Institution heute in der Werkimmanenz verschanzt und kulturelle Selbstbezüglichkeit zur Tugend erklärt, verliert seine gesellschaftliche Legitimation. Die DSO-Programmatik seit 2022 versteht sich deshalb als bewusste Absage an ästhetische Selbstgenügsamkeit – und als Plädoyer für künstlerische Verantwortung im Dialog mit der Gegenwart. Mehr noch: sie ist ein Beitrag zur Selbstbehauptung einer offenen Gesellschaft. 

Claus Peymann brachte das 1999 auf den Punkt, als er über das Berliner Ensemble sagte: »Es liegt ideal, wie ein Reißzahn im Regierungsviertel. Dort können Sachen angezündet werden und in Flammen stehen, die die Regierung zu verschweigen versucht.« Heute richtet sich dieser Satz weniger an Regierungen als an politische Strömungen innerhalb unserer Gesellschaft. Und die Aufgabe des »Reißzahns«, also: der Widerstand gegen diese Strömungen, gilt für alle kulturellen Genres und Institutionen. Ansoff weitergedacht: Produktentwicklung und Diversifikation sind nicht bloß strategische Kategorien. Sie müssen inhaltlich politisch aufgeladen und Ausdruck eines institutionellen Selbstverständnisses sein, das gesellschaftliche Veränderung mitgestalten will und nicht nur abbildet.

Peymanns „Reißzahn“ heute. Unpolitisch geht nicht

Wer Konzerte kuratiert, kuratiert Gesellschaft. Wer Programme gestaltet, gestaltet Diskurs. Und wer das nicht will, der performt am Ende vielleicht technisch und musikalisch brillant – aber vor einem leeren oder ebenso gleichgültigen wie senilen Haus. Für das DSO bedeutete die Zäsur von 2020/2021 den Aufbruch in eine Phase von Veränderungen: Die pandemiebedingte Implosion der Auslastung zwang uns, die Marke Deutsches Symphonie Orchester Berlin als »DSO« neu zu denken. Mit der Implementierung der Ansoff-Matrix im Orchestermanagement zielte ich auf zwei Risikofelder: Produkt/Programmentwicklung und Diversifikation, zwei Dimensionen, die den ‚Change‘ betonen – und damit zwei Dimensionen, die kulturelle Institutionen eher zaudern lassen. Für uns wurden sie die Basis eines der größten Erfolgszyklen in der Geschichte des DSO.

Thomas Sanderling und Herren des Kiev Chamber Choir im Gedenkkonzert für die Opfer aus Babyn Jar, 2021 (Foto: DSO)

Unsere thematischen Setzungen ab 2022 verjüngten unsere Publika und belebten die Neugier der Best Ager. Wir sahen infolgedessen neue Gesichter im Publikum, wir erschlossen neue Sendeformate in der ARD und im Deutschlandradio, wir wurden Referenz in medialen Debatten, in podcasts und social media und fanden Beachtung von der Süddeutschen Zeitung bis zur New York Times. Unsere thematische Sichtbarkeit entpuppte sich als bis dahin nicht gekannten Wirkungsfaktor. Auch unser musikästhetischer Schwenk zu einer ‚kundenfreundlicheren Moderne‘ – mit Genres wie Jazz, Filmmusik, new classics und der Reihe Schöne Töne in Kooperation mit einem Popsender – war erfolgreich, bescherte Beifallsstürme, Klickzahlen und Erträge, wie sie zeitgenössische Musik bei uns zuvor nicht erfuhr. Plötzlich wurden heutige Kompositionen emotional zugänglich für ein neugieriges Publikum. Ergebnis: Rekordauslastungen, volle Häuser, steigende Abonnentenzahlen. Und Drittmittel in erfreulicher Dichte und Höhe: das Auswärtige Amt und die Deutsche Welle unterstützten unser erinnerungskulturell und geopolitisch hoch aufgeladenes Konzert in Kiew/Babyn Yar wenige Monate vor Kriegsbeginn. Der Berliner Senat förderte das Flüchtlingsoratorium Émigré“, der Bund (BKM) die afrodiasporische Saison 25/26.

Michael Blumenthal über Émigré

Es zeigt sich: Haltung zahlt sich aus. Nicht nur monetär. Politik, (auch) im Kontext klassisches Symphonieorchester, ist für mich daher ein strategischer Imperativ. Das DSO nutzte die Corona-Krise, um genau das zu zeigen. Können wir »Reißzahn«? In unserer Zeit, in der vieles ins Rutschen gerät, braucht es kulturelle Institutionen wie dieses Orchester, die Position beziehen und nicht zurückweichen. Die thematisieren, was gesellschaftspolitisch angezeigt ist. Die Lösungen versuchen. Diversifikation ist dabei alles. Denn, um es mit Henry Ford zu sagen: »Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.«

Thomas Schmidt-Ott

Thomas Schmidt-Ott promovierte über amerikanisches Orchestermarketing, nachdem er in den Marketing- und Development-Abteilungen der Orchester in Boston und Los Angeles tätig gewesen war. Im Anschluss arbeitete er als Leitungsreferent Kultur im Berliner Senat und war Vorstandsvorsitzender der Brandenburgischen Sommerkonzerte. 2003 übernahm er die Position des Chefmanagers für die Orchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks. 2007 wechselte er als Programmchef in das Start-up-Team von TUI Cruises. Im Jahr 2020 kehrte er – zum zweiten Mal in seiner Laufbahn – als Direktor zum Deutschen Symphonie-Orchester Berlin zurück, das er im Sommer dieses Jahres verlassen wird.

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