Die israelische Sopranistin Chen Reiss sieht wachsende Schwierigkeiten für jüdische Künstler, Anlass ist ihr neues Album »Jewish Vienna«.
English summary: Israeli soprano Chen Reiss notes growing challenges for Jewish artists and hesitancy among organizers to program Jewish composers. Her new album Jewish Vienna features works by Zemlinsky, Korngold, and Winter. Reiss criticizes rising antisemitism and sees it as her duty to educate and inspire hope through music, stressing the need for dialogue and critical reflection.
Der Podcast für alle Player oder bei applePodcast
Die israelische Sopranistin Chen Reiss sieht wachsende Schwierigkeiten für jüdische Künstler und beklagt eine spürbare Vorsicht bei Veranstaltern, Programme mit Musik jüdischer Komponisten anzusetzen. Anlass ist ihr neues Album »Jewish Vienna«, das Musik von Alexander Zemlinsky, Erich Wolfgang Korngold und Josephine Winter enthält.
»Wir erleben Antisemitismus überall«, sagte Reiss in einem Interview mit BackstageClassical über die aktuelle Situation weltweit. Sie spricht von unsicheren und instabilen Zeiten, besonders für Juden. Die Künstlerin, deren Großeltern 1939 aus Europa fliehen mussten, empfindet die Gegenwart als besorgniserregend und weiß nicht, wohin man diesmal fliehen solle. Selbst Deutschland, das sie einst als sicher empfand, könne sie heute nicht mehr als solches bezeichnen.
Angst vor Protesten
Die aktuelle politische Lage wirke sich auch auf ihre Arbeit aus, berichtet Reiss. Während Kollegen meist aufgeschlossen seien, zeigten sich einige Veranstalter zurückhaltend. »Einige Veranstalter sind vorsichtig geworden, ein jüdisches Programm zu planen«, so Reiss. Die Furcht gelte Demonstrationen oder Empörung des Publikums. Manche hätten ihr offen gesagt, dass ihr Projekt Jewish Vienna zwar fabelhaft sei, sie angesichts des politischen Umfelds aber lieber etwas anderes singen solle.
Reiss betont, dass die Stücke ihres aktuellen Albums alle vor der Staatsgründung Israels 1948 komponiert worden seien; die meisten der Komponisten seien sogar vorher gestorben. Sie singe Musik von jüdischen Komponisten, die in Wien wirkten – einer Stadt, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ein einzigartiges Zentrum für Kunst, Intellekt und Musik war. Es handele sich um europäische Musik, die aus dieser Tradition erwachsen sei. Komponisten wie Zemlinsky, Korngold oder Gustav Mahler, auch wenn er konvertierte, waren tief in der Wiener Gesellschaft assimiliert.
Your browser does not support iframes.
Das Album beleuchte nicht nur die Musik, sondern auch das Schicksal dieser Künstler. So starb Josephine Winter 1943 in Theresienstadt. Erich Wolfgang Korngold musste in die USA emigrieren und war gezwungen, Filmmusik zu schreiben, anstatt seine künstlerische Tradition fortzusetzen. Reiss spricht von einer durch die Verfolgung und Ermordung jüdischer Künstler unterbrochenen und zerstörten Tradition.
Parallelen zur Gegenwart
Angesichts der heutigen Parallelen sei es deprimierend und melancholisch. Dennoch gebe es Grund zur Hoffnung, und es liege in der eigenen Hand, die Dinge zum Besseren zu wenden. Reiss sieht es als ihre Verantwortung als Künstlerin, aufzuklären. Sie ermutigt Veranstalter und empfindet die Aufmerksamkeit der Presse für das Thema als positiv. Die Zuhörer klassischer Musik seien zudem oft ein anderes Publikum als die Demonstranten auf der Straße. Entscheidend sei es, die junge Generation zu bilden und die Geschichten zu erzählen, was geschehen ist und heute geschieht, aus einer humanitären Perspektive. Es gehe darum, Dialog zu schaffen und Menschen zu ermutigen, Informationen kritisch zu hinterfragen.
Reiss wird demnächst weltweit mit Korngold-, Schreker- und Mahler-Liedern auftreten.