Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute geht es um Moral und Musik, Einsparungen in Berlin, Zoff in Dresden und die besten Plätze in unseren Konzerthäusern.
Horror-Haft für Kolesnikowa
Horror-Haft für die Musikerin Maria Kolesnikowa in Belarus: Die prominente Vertreterin der weißrussischen Opposition hatte Musik in Stuttgart studiert und stand in erster Reihe der Demokratiebewegung – bis sie festgenommen und inhaftiert wurde. Nun wurden Details über ihren Horror-Alltag im Lukaschenko-Knast bekannt: Aufgrund ihres Magendurchbruchs könne Kolesnikowa kein Gefängnisessen zu sich nehmen, für Einkäufe im Gefängnisladen darf sie nur 40 Belarussische Rubel (ca. 11 Euro) im Monat ausgeben. Ihre Schwester Tatjana Chomitsch teilt mit, dass Kolesnikowa nur 45 Kilogramm wiege. Kolesnikowas Isolationszelle hat nach Bericht des Online-Magazins Dekoder eine Größe von etwa 1,60 mal 2,50 Metern. Die Toilette sei ein Loch im Boden einer Zellenecke. Mehr Details hier.
Grundsätzliches zu Moral und Musik
Musiker mischen sich gern ein. Gut so! Sie treten gegen Antisemitismus, für die Krebshilfe oder für den Umweltschutz auf. Aber mit welchem Effekt? Ich habe diese Woche begeistert das Buch Moralspektakel von Philipp Hübl gelesen. Und es hat mich zu einem Essay inspiriert, in dem es unter anderem um Igor Levits Benefiz-Konzert gegen Antisemitismus in der Elbphilharmonie geht und um die Frage: Können gut gemeinte Konzerte auch nach hinten los gehen? Dient manch moralischer Aktionismus nicht in erster Linie der moralischen Erhebung? Und kann https://backstageclassical.com/newsletter-anmeldung/all das die eigentliche Gegner, etwa die AfD, sogar stärken? Mich beschäftigt das Moral-Paradoxon der Musik schon lange – und ich habe es nun Mal am Fall Levit durchdekliniert und mich selber dabei nicht ausgenommen.
Komische Oper kommt – aber schlanker?
Berlins Kultursenator Joe Chialo hält an der Sanierung der Komischen Oper fest – Einsparungen am Projekt schließt er indes nicht aus. Chialo sagte dem rbb, dass es nicht zu einem Baustopp oder einem dauerhaften Umzug kommen werde. Einsparungen am Bau schloss er indes nicht aus: Derzeit rechnet der Senat mit Kosten von 480 Millionen Euro. In Zeiten, in denen der Senat insgesamt drei Milliarden Euro einsparen müsse, sei es geboten, nach Einsparmöglichkeiten zu schauen, so Chialo.
Kritiken bei BackstageClassical
- Lotte de Beers Carmen an der Volksoper in Wien
- Neustart am Opernhaus in Oslo: Stephan Knies über den Fliegenden Holländer
- Florentina Holtzingers Sancta – bald auch in Stuttgart
Wo ist der beste Platz im Konzert?
Ein Platz in einem Konzert ist nicht immer gleich – es stellt sich die Frage: Wo ist eigentlich der beste Platz im Konzerthaus? »Selten in der Mitte«, sagt eine der Ikonen der Klassik-Aufnahmen, Toningenieur Peter Hecker. Im aktuellen Podcast Alles klar, Klassik? verrät er seine Lieblingsplätze in der Berliner Philharmonie, in der Elbphilharmonie, in der Semperoper, bei den Bayreuther Festspielen oder in der Hamburgischen Staatsoper oder der Deutschen Oper Berlin. Außerdem spricht der Dirigent Pablo Heras-Casado über die akustischen Tücken von Konzerthäusern – und wie Orchester darauf reagieren können. Ein spannender Podcast über das Hören in der klassischen Musik – mit hilfreichen Tipps für den Ticketkauf.
Dresden ersetzt Dirigenten
Der Übergang von Marek Janowski zu Donald Runnicles bei der Dresdner Philharmonie ist bekanntlich nicht so gut gelaufen: Janowski hat aus Wut darüber, dass sein Name im Programm des Orchesters geschrumpft ist, all seine Konzerte abgesagt. So einen Zoff wird es bei den Dresdner Sinfonikern bald vielleicht nicht mehr geben. Am 12. und 13. Oktober dirigiert dort nämlich ein Industrieroboter mit drei Armen. Auf dem Programm: die Robotersinfonie von Wieland Reissmann. Ein Stück, das ein menschlicher Dirigent aufgrund überkreuzender Tempi gar nicht bewältigen könnte.
Was zum Radio
Hier nur eine kleine Beobachtung der Woche: Arnd Zeigler ist ein Bremer – so wie ich. Einer der erfolgreichsten Fußball-Podcaster mit eigener Sendung (Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs) und er füllt große Theater mit seiner Show. Seit Jahrzehnten hatte er eine Radiosendng bei Radio Bremen: Zeiglers wunderbare Welt des Pop. Er hat sie aus Überzeugung gemacht, weil er an das Radio glaubt – an die alte Innovationskraft von Radio Bremen. Aber nun wird die Show nach 696 Folgen gestrichen. Sie passt angeblich nicht mehr ins Sendeschema. Es ist erstaunlich, wie die Panik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk derzeit dafür sorgt, überall gigantische Fehlentscheidungen zu treffen und ausgerechnet das abzusägen, was außerhalb der Sender erfolgreich ist. In der Klassik ist es ja ähnlich: Der rbb hat seine Kulturwelle ad absurdum »gemainstreamt«, die Zusammenlegung der ARD-Kulturprogramme ist eine brutale Abkehr vom Bildungsauftrag. Und Zeigler hat Recht, wenn er seine Koffer packt und auf Facebook die Achseln zuckt: »Radio heute wird veraltet. Es werden routiniert Stundenuhren gefüllt und Programme über den Äther geschickt, die bei genauerer Betrachtung keinerlei Einschaltimpulse mehr liefern. Und schlimmer: Die das auch gar nicht mehr versuchen.«
Kultur und Radio bei BackstageClassical
- Warum wir uns Radioorchester leisten – eine Reportage
- Toxischer Journalismus beim SWR? Eine Spurensuche
- Die Radio-Kulturfusionitis – das große Zusammenlegen
- Das gespaltene Orchester – im Bauch eines Radio-Orchesters
Es geht bergauf!
Zufriedenheit in der Musikbranche: Eine aktuelle Studie des Bundesverband Musikindustrie (BVMI) zeigt, dass die Musikwirtschaft im Jahr 2023 ihr Vor-Corona-Niveau überholen konnte. Die Branche verzeichnet ein Umsatzwachstum von 18 Prozent, die Bruttowertschöpfung erhöhte sich sogar um 20 Prozent. Mit insgesamt 156.000 Erwerbstätigen im Jahr 2023 hat auch ihre Rolle als bedeutender Arbeitgeber weiter zugenommen (+4 %).
Personalien der Woche
Die Dirigentin Friederike Scheunchen ist Spezialistin für Neue Musik. Nun dirigiert sie in Freiburg die Oper Prism über sexuelle Übergriffe und Traumata. Georg Rudiger hat die Künstlerin für BackstageClassical getroffen und porträtiert. +++ Der Intendant der Mailänder Scala, Dominique Meyer, ist Opfer der italienischen Kulturpolitik und musste seinen Hut nehmen. Nun kritisiert er das Vorgehen der Regierung von Georgia Meloni. »Ich habe mich in Mailand mehr als jeder italienische Intendant um das ganze italienische Repertoire bemüht«, sagt Meyer, »und das kulturelle Erbe gepflegt. Und dann musst du gehen, weil du fremd bist. Das macht mich sehr traurig.« +++ Die Internationale Menuhin Music Academy im schweizerischen Rolle kämpft mit einem massiven Defizit und verzeichnet einen Fehlbetrag von rund zwei Millionen Franken – bei einem Budget, das zwischen 1,8 und 2 Millionen Franken schwankt. Grund sei der Rückzug der einzigen Mäzenin. +++ Nach John Eliot Gardiner nun auch Jos van Immerseel: Was ist denn da los in der Alten Musikszene? Das Orchester Anima Eterna in Brügge hat bekannt gegeben, dass es die Zusammenarbeit mit seinem Gründer, dem Dirigenten Jos van Immerseel beende. Der Grund: »anhaltend aggressives Verhalten« und »regelmäßige Verstöße gegen seine vertraglichen Verpflichtungen«. +++ Im Münchner Herkulessaal wurden die Preise des 73. Internationalen ARD-Musikwettbewerbs vergeben. Deutsche Teilnehmerinnen schneiden schlecht ab.
Wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Die beste Nachricht der Woche: Es wurden viele neue Mozart-Kompositionen in das neue Köchel-Verzeichnis aufgenommen. Bereits im Jahr 2006 wurden mehrere Klavierstücke des jungen Mozarts erstmals aufgefunden oder identifiziert. Darunter der erste Konzertsatz Mozarts, der ohne Autorenbezeichnung im sogenannten Nannerl-Notenbuch, dem Klavierbuch seiner Schwester Maria Anna, steht und jetzt als KV 636 verzeichnet ist. Zudem konnte nun eine Serenate ex C aus der Musikbibliothek der Leipziger Städtischen Bibliotheken als ein Jugendwerk von Mozart verifiziert werden. Das bislang völlig unbeachtet gebliebene Werk, jetzt mit der Nummer KV 648, besteht aus sieben Miniatursätzen für Streichtrio, die zusammen nur etwa zwölf Minuten dauern. Mozart dürfte die kleine Komposition noch vor seinem 13. Geburtstag für seine Schwester geschrieben haben.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif
Ihr
Axel Brüggemann