Musiker mischen sich ein: Gegen Antisemitismus, für die Krebshilfe oder für den Umweltschutz. Aber wie ernst meinen sie es damit? Gedanken am Beispiel von Igor Levit.
Dieser Text handelt von einem musikalischen Moral-Paradoxon. Es treibt mich seit einiger Zeit um, und ich kann es wohl am besten am Pianisten und »politischen Aktivisten« (so heißt es bei Wikipedia) Igor Levit festmachen. Das Paradox besteht darin, dass ich so ziemlich alles, was Igor Levit sagt, teile – politisch, moralisch und weltanschaulich.
Ich bin – genau wie er – gegen Antisemitismus, und versuche ebenfalls, andauernd auf die Gefahren – besonders für den Kulturbereich – hinzuweisen, wenn die AfD an die Macht käme, und ich sorge ich mich – ebenso wie Igor Levit – um die Zukunft unseres Planeten, um die Klimaerhitzung und unseren Raubbau an der Natur. Paradox wird all das, weil es mich trotzdem unglaublich aufregt, wenn Igor Levit all diese Dinge öffentlich formuliert. Oder anders: Es bringt mich auf die Palme, wie er all diese Dinge formuliert! So wie neulich, als er gemeinsam mit seinen Freunden, mit Wolf Biermann, der Antilopen Gang, Michel Friedmann und Düzen Tekkal ein Konzert in der Elbphilharmonie gegeben hat – ein Konzert gegen den Antisemitismus.
Auch hier frage ich mich: Warum regt mich dieser Abend mit vielen Künstlerinnen und Künstlern, die ich grundsätzlich sehr schätze (besonders Wolf Biermann!) und der im Geiste einer Sache stattfindet, die ich voll und ganz unterstütze, so dermaßen auf? Zumal ich es wichtig finde, dass Klassik-Künstlerinnen und Klassik-Künstler Position beziehen. Dass sie sich zu sozialen und politischen Themen äußern. Dass sie präsent sind und sich einmischen! Warum also stört mich so ein Abend trotzdem?
Neulich wurde ich auf das Buch Moral Spektakel von Philipp Hübl aufmerksam gemacht. Und die Lektüre hat mich ein bisschen mehr verstehen lassen, was es sein könnte, das mich so aufregt. Hübl differenziert in seinen Essay zwischen dem moralischem Engagement und dem »Moral Spektakel«. Letzteres offenbare sich dadurch, dass nicht das eigentliche Thema im Vordergrund stehe, sondern die Selbstdarstellung durch die eigene, moralische Positionierung.
Diese Form der Aufmerksamkeiterzeugung entdeckt Hübl besonders in der »kreativen Klasse«, oder bei den »kognitiven Eliten«, wie er es nennt. Hier sei es ein weit verbreitetes Phänomen, dass Aktivismus in erster Linie das Ziel verfolge, die eigene Person in Szene zu setzen und einen Moral-Transfer von der Sache auf sich selber in Gang zu setzen. Hübl spricht im Extremfall von einer »dunklen Tirade«: Solidarität, Minderheitenschutz oder Mitgefühl werden postuliert, unterschwellig geht es aber auch darum, über diese gebetsmühlenhafte, moralische Selbstdefinition den eigenen moralischen Status zu liften. Oft geschehe das, schreibt Hübl, indem man sich einer Gruppe zuordnet. Einer selbsternannten, moralischen Elite, der es in erster Linie darum gehe, einander zu bestätigen. Eine Gruppe, die gemeinsam postuliert, dass man zusammen auf der richtigen Seite stehe. Und zwar: auf der EINZIG richtigen Seite. Immer.
Dabei ist die »moralische Elite«, von der ich hier rede (also etwa jene Menschen, die sich mit Igor Levit in der Elbphilharmonie versammelt haben) in Wahrheit vollkommen im Mainstream verankert. Um das zu erkennen, muss man nur kurz durch Levits Insta-Geschichten blättern. Mit welcher Verve hat er Claudia Roth einst als eine Art Mutterfigur an seiner Seite inszeniert (jetzt, da immer klarer wird, dass Roths öffentliches Image in der Kulturszene ramponiert ist, fehlen diese gemeinsamen Selfies). Ähnlich war es bei Karl Lauterbach. Und immer wieder zeigt sich Levit mit Robert Habeck – erst jetzt wieder, als der Wirtschaftsminister dem Hollywood-Star Arnold Schwarzenegger als ökologischen Vorzeige-Politiker geehrt hat. Igor Levit saß prominent neben den beiden in Reihe eins.
Es stellt sich also die Frage: Ist die politische Inszenierung, die wir in diesem Fall verfolgen, eigentlich wirklich das kritische Element, als das sie sich gern darstellt. Oder ist sie nicht eher die Repräsentation des eh existierenden Mainstreams? Findet Levit nicht auch deshalb Echo-Kammern bei Jan Böhmermann oder Dunja Hayali? Oder anders gefragt: Ist der eigentliche Heimathafen von Igor Levits »Aktionismus« am Ende nicht die eh bestehende Ordnung, in der seine Karriere stattfindet: der Bayerische Rundfunk, die Salzburger Festspiele, Die Zeit, Sony Classical oder eben: die Bundesregierung? Für letztere definiert Claudia Roth die Kunst immer wieder gern als Ort der »Demokratiebildung« und lobt dabei ausgerechnet regelmäßig jenen Künstler, Igor Levit, dessen öffentliche Statements eine einzige Lobhudelei der Regierungsarbeit sind. Aber kann ein Staatskünstler gleichzeitig Polit-Aktivist sein?
Tatsächlich fällt auf, dass Levits Botschaften in Wahrheit ja nicht wirklich mutig sind, sondern das Moralempfinden des größeren Teils der Deutschen widerspiegeln: »Gegen Antisemitismus!« – Ja, natürlich. »Für die Natur!« – aber klar! »Gegen die AfD!« – logo. Etwa schwierig ist auch, dass jedes seiner Anliegen mit einem eigenen Superlativ versehen wird – so wie jeder Komponist, mit dem Levit sich gerade beschäftigt, auf Instagram schnell als »der Größte« beschrieben wird: Mal komponierte niemand besser als Bach, dann wieder war Beethoven der einzige Gott und gerade ist es – glaube ich – Johannes Brahms.
Mehr bei BackstageClassical: Vor einigen Wochen hat Antonia Munding hier bei BackstageClassical eine sehr spannende Reportage über das West-Eastern-Divan Orchestra geschrieben und davor gewarnt, dass die Botschaft des Guten nicht zur Routine, nicht zu einem »Moral-Tourismus« verkommen dürfe. Sie hatte dabei unter anderem das West-Eastern Divan Orchestra im Blick. Lesen Sie ihren Essay hier.
Außerdem fällt auf, dass Leute wie Igor Levit selten innerhalb ihres eigenen Systems Position beziehen. Wie hat sich der Pianist mit russischen Wurzeln eigentlich zu Teodor Currentzis positioniert? Ich habe dazu keine klaren Worte gelesen? Wie zu Konzerthäusern oder ihren Intendanten, die seinen eigentlichen moralischen Idealen widersprechen? Wäre Levits Stimme nicht zuforderst auch im Kulturbetrieb selber angebracht, in der Welt der Klassik, in der humanistische Ideale oft mit Füßen getreten werden? Wäre hier ein Aufstehen, ein Aufschrei oder laute Kritik nicht zuweilen ebenfalls wichtig? Die aber bleibt bei Igor Levit weitgehend aus. Er kümmert sich lieber um die große Welt. Weil die Kritik an der Amoral in der Kultur weniger auf das eigene Image einzahlt? Weil er Angst davor hat, dass Kritik am System ihn schnell zum Außenseiter eben dieses Systems machen würde? Oder ganz materiell gedacht: Weil derartige Kritik vielleicht eigene Engagements gefährden könnte? Ja, ist die Moral hier am Ende, wenn ihr Preis steigt und sie nicht mehr auf das eigene Image innerhalb der eigenen Gruppe einspielt?
Und noch etwas wird mir immer klarer: Mich irritiert dieser Mythos des andauernd inszenierten Leidens. Die Vorführung der eigenen Passion in dieser Welt. Die schlecht gelaunte Anklage der anderen statt der positiven Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes. Auch das ist für Philipp Hübl übrigens ein Charakteristikum des Moral Spektakels: Der Fingerzeig auf andere aus einer ichbezogenen Welt-Analyse.
Mir drängt sich eine weitere Assoziation auf, zum Walkampf in den USA. Hier haben die Demokraten lange keine Mittel gegen Donald Trump gefunden. Erst jetzt entdecken sie langsam, dass die andauernde Anklage, die Wehklage und das eigene Lamento keinen Sieg gebracht haben. Erst jetzt finden sie neue Möglichkeiten: Die gute Laune als Antwort auf den schlecht gelaunten Gegner. Die ausgefeilten Argumente – beziehungsweise das Formulieren der eigenen Vision – statt der moralischen Klischees. Der Aufruf zum kollektiven Miteinander statt des moralischen Gegeneinanders. Und vor allen Dingen der Versuch, andere Menschen mitzunehmen, Hände auszustrecken, hinein zu gehen in das Land der Gegner, statt sie von der »moralisch richtigen Insel« aus zu kritisieren. Kamala Harris lehrt die US-Demokraten gerade, dass das Vertrauen in– und die Liebe zu den Menschen motivierender ist als sie andauernd anzuklagen.
Es ist kein Wunder, dass Philipp Hübl in seinem Buch zur Erkenntnis kommt, dass das Moral Spektakel nicht selten in sein Gegenteil umkippt. Dass Menschen, die eine Partei wie die AfD bekämpfen wollen, durch ihre eigene Inszenierung genau jene Schlüsselreize setzen, durch die AfD-Sympathisanten in ihrer Haltung bestärkt werden. Dass sie durch ihr egoistisches Kapern des kollektiven Moralverständnisses genau jenes desavouieren können. Mit anderen Worten: Dass Leute, die (so wie ich) für die gleichen Werte wie Levit stehen, von seiner egozentrischen Annexion eben dieser Werte erschrocken sind.
Die eigene Annahme, per se auf der richtigen Seite zu stehen, führt im moralischen Spektakel oft dazu, dass die Inszenierung der eigenen Position eine Dialogbereitschaft ausschließt. Und, ja – an diesem Punkt stellt sich die Frage, die Hübl sich in seinem Buch ebenfalls stellt: Wie steht es eigentlich um meine eigenes moralisches Spektakel? Natürlich ist die Kritik der moralischen Annexion selber schon ein moralischer Akt – also nicht besser als das, was man kritisiert! In meiner journalistischen Arbeit und bei BackstageClassical kritisiere auch ich sehr viel, greife Missstände (oft sehr harsch) an und stelle moralische Forderungen (manchmal vielleicht zu kompromisslos) zur Debatte. Und, ja: Zuweilen ist diese Rolle vielleicht tatsächlich kontraproduktiv.
Wie also kann man der Falle des Moral Spektakels entgehen? Vielleicht bietet ausgerechnet die Kultur den besten Raum dafür! Ich bin überzeugt davon, dass die Kultur kein Ort der Amoral ist, so wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann das gern behauptet. Im Gegenteil: Kultur kann im Idealfall jener einzigartige Ort sein, an dem wir über Moral streiten können. Ein Marktplatz, auf dem zunächst alle Vorstellungen erlaubt sind, auf dem immer auch miteinander um die Verschiebung von Grenzen gerungen wird. Ein Ort, an dem das Spiel den Weg zum Miteinander begleitet. In dem die Lust am Zuhören zu Hause ist, zum und Reden, zum Austausch – und auch daran: nicht immer einen gemeinsamen Konsens finden zu müssen (an dieser Stelle noch eine letzte Buch-Empfehlung: In Moral. Die Erfindung von Gut und Böse dekliniert Hanno Sauer die gesellschaftliche Bedeutung der Moral in den letzten fünf Millionen Jahren).
Innerhalb der Kultur würde die Kultur selber wieder zum Profiteur des Moral Spektakels. Denn hat nicht alles damit angefangen, dass wir der Kunst ihre eigentlichen Qualität gestohlen haben? Dass wir das Spektakel und die Inszenierung in unserem Alltag profanisiert haben? All das habe ich versucht, in meinem Buch Die Zwei-Klassik Gesellschaft zu deklinieren. Wir haben das Spektakel in den Raum unserer eigenen Inszenierungen geholt, in den Raum dessen, was wir »Wirklichkeit« nennen. Und so glauben wir heute, dass es effektiver ist, bei Markus Lanz oder bei Twitter und Instagram übereinander herzufallen, statt im Spiel der Kunst um moralische Grenze zu ringen.
Und, ja: In diesem Sinne war das Konzert in der Elbphilharmonie im Grunde eine gute Idee, denn am Anfang stand auch hier: der Glaube an die Musik.