Das SWR Symphonieorchester kommt nach dem Festhalten an François-Xavier Roth nicht zur Ruhe. Nun gerät das Management auch intern unter Druck. Ein Bericht aus dem Orchesterbauch.
Der Beginn der Online-Konferenz beim SWR-Symphonieorchester letzten Mittwoch war bezeichnend: Ein Teil saß in einem Chat-Room, der andere in einem anderen. Dabei sollte es um das Thema Gemeinsamkeit gehen, darum, wie man die internen Kommunikationsstrukturen verbessern kann. Doch es wurden falsche Einladungen für diesen Termin verschickt.
Die Aussprache zwischen Orchesterleitung, Programmdirektion und Musikerinnen und Musikern war dringend nötig, nachdem das Orchestermanagement (und explizit auch Intendant Kai Gniffke) beschlossen hatte, an der Zusammenarbeit mit dem designierten Chefdirigenten François-Xavier Roth festzuhalten. Seither toben im Orchester immer schwerere Kämpfe: Während die Leitung um Imagewahrung bemüht ist und versucht, öffentliche Kritik ins Leere laufen zu lassen, wächst der interne Druck: Orchestermitglieder beschweren sich über die Leitungskultur im Sender, es gibt Reibereien mit dem Orchestervorstand, Briefe werden an die Direktion geschrieben und es wird Hilfe in der Öffentlichkeit gesucht.
BackstageClassical liegen nun unterschiedliche Dokumente vor, an denen deutlich wird, warum das SWR Symphonieorchester einfach nicht zur Ruhe kommt, warum das Ensemble gespalten über eine Zusammenarbeit mit François-Xavier Roth ist, warum Orchesterdirektorin Sabrina Haane zunehmend das Vertrauen von Musikerinnen und Musikern verliert und warum interne Meinungsverschiedenheiten über den alten Chefdirigenten Teodor Currentzis in dieser Situation besonders nachwirken.
Im Kern geht es darum, dass viele Orchestermusikerinnen und Orchestermusiker sich im Kommunikationsprozess des SWR nicht wiederfinden. Nach der Orchester-Fusion und der missglückten Kommunikation im Falle Teodor Currentzis wollen einige Ensemblemitglieder den kompromisslosen Kurs der SWR-Leitung offensichtlich nicht weiter kritiklos hinnehmen. Der Fall François-Xavier Roth ist für sie ein Schritt zu viel.
Leitung suggeriert falsche Einheit
Es ist es hilfreich, noch einmal Revue passieren zu lassen, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist: Nachdem öffentlich geworden war, dass der Dirigent François-Xavier Roth Orchestermitgliedern anzügliche Textnachrichten und wohl auch Bilder seines Geschlechtsteils geschickt hatte, wuchs die öffentliche Kritik am designierten Chefdirigenten des SWR. Das Gürzenich Orchester und Roth haben daraufhin beschlossen, bereits jetzt – ein Jahr vor dem offiziellen Vertragsende – getrennte Wege zu gehen. Auch das Ensemble Les Siècles ging auf Distanz zu seinem Dirigenten, internationale Auftritte wurden abgesagt.
Die SWR Symphonieorchester-Gesamtleiterin Sabrina Haane, die SWR Programmdirektorin Anke Mai und der Intendant Kai Gniffke halten indes weiter an Roth fest. Es gebe keine rechtlichen Gründe, dass er den Job als Chefdirigent nicht antreten könne, gab der SWR in einer Pressemitteilung bekannt und bezog sich dabei auch auf den Orchestervorstand. Ein wichtiges Detail, um zu verstehen, warum es nun zur Eskalation kommt.
48 Mitglieder des SWR Symphonieorchesters haben die Senderleitung am 21. Juli schriftlich darauf hingewiesen, dass es innerhalb des Ensembles viele Stimmen gebe, die nicht für einen Vertrag mit Roth seien. Man akzeptiere zwar die Entscheidung des Senders, verwehre sich aber dagegen, dass in der Öffentlichkeit das Bild der Einstimmigkeit entstehe. Die Musikerinnen und Musiker haben die Leitung darum gebeten, ihre Bedenken richtig zu stellen. Nachdem Anke Mai und Sabrina Haane dem nicht entsprachen, sondern erneut versuchten, die Kritik zu relativieren, landete der Brief in der Presse – unter anderem veröffentlichte ihn die Badische Zeitung. Auch BackstageClassical berichtete.
In der aktuellen Krisen-Schalte gingen Anke Mai und Sabrina Haane nun kaum auf die Kritik an ihnen ein. Stattdessen starteten sie einen Gegenangriff und beschuldigten die 48 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner kollektiv, dem Image des SWR zu schaden, indem sie sich (oder einer von ihnen) an die Öffentlichkeit gewendet hätten. Für diese Unterstellung ernteten sie postwendend Protest. Diese Argumentation sei eine klassische »Täter-Opfer-Umkehr« hieß es aus dem Orchester.
Haane feiert ihre »Presse-Strategie«
Es habe »selten eine so erfolgreiche Presse-Strategie gegeben« wie jene des SWR bei der öffentlichen Erklärung für François-Xavier Roth, versuchte die Orchesterleiterin Sabrina Haane derweil dem Ensemble zu erklären. Im gleichen Atemzug gestand sie indirekt ein, dass sie für diesen öffentlichen Erfolg darauf verzichtet habe, die gespaltene Stimmung innerhalb des Orchesters in der Pressemitteilung korrekt wiederzugeben. Aus ihrer Sicht habe zum Erfolg der Pressemitteilung nämlich »auch das Zitat des Orchestervorstandes beigetragen, da es ein geschlossenes Bild suggerierte.« Mit anderen Worten: Es ging der SWR-Leitung bewusst darum, ein Bild der Einigkeit in der Öffentlichkeit zu »suggerieren«. Auch das führte dazu, dass sich ein Teil der Musikerinnen und Musiker im SWR Symphonieorchester von ihrer Leitung missbraucht fühlt.
Haane betonte gegenüber dem Orchester außerdem, dass »alle Veranstalter«, mit denen sie gesprochen habe »unbedingt wollten«, dass das SWR Symphonieorchester mit Roth komme. Die internationalen Absagen des Ensembles Le Siècles mit François-Xavier Roth sprechen da eine ganz andere Sprache. BackstageClassical liegen außerdem Aussagen vor, nach denen Kooperationspartner des Senders ebenfalls Bedenken gegen eine Zusammenarbeit mit Roth angemeldet haben.
Auch Programmdirektorin Anke Mai schien in der Diskussion mit dem Orchester weniger ihre eigenen Kommunikationsfehler thematisieren zu wollen. Stattdessen forderte sie, dass in Zukunft vom gesamten Orchester eine gemeinsame und vor allen Dingen interne Kommunikation erwart würde. Wohl wissend, dass es »für viele der Fall ist, dass unsere Entscheidung nicht ihrer Meinung entspricht.«
Im SWR ist es Tradition, dass das Management allein über den Chefdirigenten entscheidet und eine Orchesterabstimmung nicht stattfindet. Aber auch in der offensichtlich brisanten Frage um die weitere Zusammenarbeit mit François-Xavier Roth hat die Orchesterleitung sich nicht um ein anonymes Stimmungsbild innerhalb des Ensembles bemüht. Stattdessen hat sie – trotz aller vorgetragenen Bedenken aus dem Orchester – für den Vertrag votiert. So haben Anke Mai und Sabrina Haane sich in eine Situation manövriert, in der sie zwar internes Vertrauen vom Orchester fordern, das sie aber selber wohl längst verspielt haben.
Auch der fünfköpfige Vorstand des Orchesters scheint nicht mehr den Rückhalt des gesamten Orchesters zu haben, nachdem er sich bewusst aus der Entscheidungsfindung heraushalten wollte und erklärte, dass er »der Meinungsbildung des Managements« vertraue.
Das gespaltene Orchester
Die innere Spaltung des SWR Symphonieorchesters hat eine lange Vorgeschichte. 2016 wurden das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg fusioniert. Das Engagement eines radikalen Neutöners wie Teodor Currentzis als Chefdirigent sollte über die radikalen Sparmaßnahmen hinwegtäuschen – und vor allen Dingen beide Gruppen innerhalb des Orchesters befrieden.
Doch seit dem brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 verläuft eine weitere Frontlinie im Orchester: Teodor Currentzis‘ finanzielle Russland-Abhängigkeiten und sein gleichzeitiges Schweigen zum Krieg hat nicht nur in den Medien, sondern auch im Ensemble für heftige Diskussionen über die moralische Rolle des Orchesters gesorgt. Die Currentzis-Kritiker im Orchester haben sich damals noch an ein öffentliches Stillschweigen gehalten, auch wenn es ihnen schwergefallen ist. Im Falle Roth scheinen sie dazu nun offensichtlich nicht mehr bereit zu sein. Muten Sabrina Haane und Anke Mai ihrem Orchester mit zwei aufeinanderfolgenden moralischen Zweifelsfällen und ihrer kühlen, kalkulierten und umemotionalen Öffentlichkeitsarbeit zu viel zu?
Und auch der Dauerkonflikt zwischen Musikern aus Freiburg und Stuttgart innerhalb des Orchesters brodelt noch immer. Der Freiburg-Block pflegt eine Affinität zu François-Xavier Roth, der das Orchester schon einmal geleitet hat. Eine Ausnahme bilden die Musikerinnen und Musiker, die auch in dieser Zeit schon schlechte Erfahrung mit ihm gesammelt haben. Tatsächlich wurde der »Brief der 48« (wie die Orchesterleitung das Schreiben an sie nennt), nur von sieben Mitgliedern des alten Freiburger Orchesters unterschrieben.
Letztlich ist es Sabrina Haane und Anke Mai wohl nie gelungen, die Zerrissenheiten des Orchesters zu kitten – wohl auch deshalb, weil ihr autoritärer Führungsstil zwar mit einer expliziten Offenheit wirbt, in Wahrheit aber nur wenig echten Dialog erlaubt. Das ist besonders im Umgang mit Kritikerinnen und Kritikern ihrer Entscheidungen zu beobachten, die sie innerhalb des Senders gerne durch Einschalten ihrer Vorgesetzten oder durch interne Vermerke abservieren. Es gehört zur journalistischen Transparenz zu erklären, dass der Autor dieses Textes auf Grund seiner Kritik am Umgang Sabrina Haanes mit der Causa Currentzis seine Radio-Kolumne beim SWR verlor. BackstageClassical hat sich in einem ausführlichen Bericht bereits damit auseinandergesetzt, wie undifferenziert Anke Mai mit der journalistische Unabhängigkeit des SWR auf der einen Seite und ihrem Kampf für das Orchester des SWR auf der anderen Seite operiert.
Wie geht es weiter?
In der aktuellen Situation ist es nur schwer vorstellbar, dass der kritische Teil des SWR Symphonieorchesters wieder Vertrauen zu seinem Management fasst. Unklar auch, wie eine Zusammenarbeit mit all den Bedenken innerhalb des Orchesters mit François-Xavier Roth überhaupt aussehen soll.
Anke Mai betonte in der Online-Krisensitzung am Mittwoch immer wieder, dass sie auf einen Erneuerungsprozess setze, darauf, dass das Orchester sich selber neue Spielregeln geben solle. Am 4. Oktober wird ein entsprechender Prozess von SWR Intendant Kai Gniffke persönlich initiiert. Doch schon die Ankündigung dieses Prozesses wirkt irgendwie merkwürdig: »Sie müssen da mitmachen«, appellierte Mai (und sagte dann, dass es natürlich freiwillig sei), und Sabrina Haane sprach schon wieder von Superlativen: Von einem neuen Codex, der auch für andere Orchester neue Standards setzen könne – von einem Vorbild für die deutsche Orchesterlandschaft.
Der Fall Roth bei BackstageClassical
- Podcast mit Experten zum Umgang mit der Causa Roth
- Shoko Kuroe: Ein Fall von Täter-Migration.
- Alexander Gurdon kritisiert das Festhalten an Roth als Bestätigung seiner Macht.
- Stephan Knies plädiert für eine differenzierte Betrachtung des Falles.
Mai und Haane scheint nicht bewusst zu sein, dass genau dieser Manager-Sprech ihren eigenen Kommunikationsprozess innerhalb des Orchesters unglaubwürdig werden lässt. Indem das Management des SWR in erster Linie das öffentliche Bild des Senders (und damit das eigene) in den Vordergrund stellt, missbraucht es das Orchester und seine Musikerinnen und Musiker für seine Zwecke.
Und dann ist da noch das eigentliche Problem: Man hat sich entschieden, einen Dirigenten zu engagieren, der offensichtlich massive Grenzen im persönlichen Miteinander überschritten hat und will deshalb – noch vor dessen Antritt – das Orchester in die Pflicht nehmen, ein Umfeld zu schaffen, in dem es schwerer möglich wird, dass sich der neue Dirigent erneut daneben benimmt. Es könnte auch dieses Vorgehen sein, was einige Orchestermusikerinnen und Orchestermusiker als »Täter-Oper-Umkehr« wahrnehmen.
In der virtuellen Krisensitzung am Mittwoch saßen am Ende zumindest alle wieder in einem gemeinsamen Chatraum. Das bedeutete aber nicht, dass sie auch inhaltliche Gemeinsamkeiten gefunden haben. Im Gegenteil: Die Zwischentöne blieben scharf und unversöhnlich, und letztlich blieben im leeren Chatraum mehr gegenseitige Anschuldigungen zurück als Ansätze für Lösungen.