Lotte de Beer inszeniert an der Volksoper in Wien Carmen – als Bühnenfigur, die zu frei gedacht ist, um leben zu dürfen.
Der Denkfehler dieser Produktion hat vielleicht schon angefangen, bevor der erste Ton erklingt. Nach der normalen »Handy-Aus-Ansage« in der Volksoper in Wien hört man Intendantin Lotte de Beer vor dieser Carmen noch aus den Theaterlautsprechern sagen, dass das Rauchen auf der Bühne leider verboten sei – woran man sich in dieser Aufführung auch halten werde. Dass ein Femizid auf der Bühne aber zum Glück noch erlaubt sei, weshalb man diesen nun auch zeigen werde. Und dann kracht sie los, die Ouvertüre zu George Bizets Carmen.
Diese bitter-lustig gemeinte Ansage hinkt auch deshalb ein wenig, weil die Oper ja an sich so etwas ist wie eine gesungene Krebs-Warnung auf der Zigarettenpackung: Ein theaterblutiger Beipackzettel, der die Gesellschaft an die Alltäglichkeit von Femiziden erinnert. Daran, dass wir uns in der Kunst zunächst eine Traumfrau basteln, um sie am Ende vor die Hunde gehen zu lassen (beziehungsweise von den Männern abschlachten). Unter allen Opern-Heldinnen des 19. Jahrhunderts, die abgemurkst oder wahnsinnig werden, ist Carmen vielleicht die stärkste.
Und genau das will Lotte de Beer an diesem Abend an der Wiener Volksoper offensichtlich erzählen: Die vogelfreie, emanzipiert liebende und lebende Frau als Erfindung eines spießigen Opern-Bürgertums, das am Ende aus den Rängen kriecht, um Don José bei seinem Frauenmord zuzuschauen. Ein Mob hoch kultivierter Gesellschafts-Gaffer! Ihre Carmen ist ein Charakter, den es so nicht geben darf – weil wir ihn so nicht leben lassen können. Das ist keine neue und eine relativ banale Idee, die dann den Opernabend auch nicht trägt.
Alles in dieser Carmen ist Bühnen-Illusion und Pappmaschee. Lotte de Beer zeigt uns eine Oper, wie sie auch im 19. Jahrhundert in Paris an der Opéra Comique hätte aufgeführt werden können. Hin und wieder wird die Illusion aufgelöst: Wenn Carmen ein Bühnenelement umdreht, wenn sie allein vor den Vorhang tritt oder die Personage plötzlich hinter einem zweiten Bühnenvorhang auftaucht. Und am Ende des zweiten Aufzugs, wenn sich die nächtlichen Sterne als Vorhang mit Glühlampen entpuppen und aus dem Schnürboden fallen. Dahinter steht eine Kopie der gold-rot-weiß-plüschigen Volksopern- Logen samt Publikum. Und die bleibt den Rest des Abends auch stehen.
Ein Effekt so plump wie die Aussage: Wir alle sind das Publikum in der Stierkampf-Arena, in der Carmen stellvertretend für viele Frauen zunächst als edle Wilde vorgeführt wird, um dann von Macho-Torero Escamillo als Hausfrau domestiziert und von Heißblut Don José mit massakerhaften Messerstichen auf einer Extra-Bühne dahingemeuchelt zu werden. Das Publikum in den Bühnenlogen applaudiert frenetisch. Der Applaus beim Volksopern-Publikum ist zurückhaltender.
Vielleicht auch, weil Lotte de Beers Carmen neben dieser Grundidee nur wenig Spannung aufbauen kann. Grundsätzlich gibt es einige hübsche Ideen. Etwa, dass das Frauenklischee in der Kunst vererbt wird, zum Beispiel an ein Mädchen, das Carmen aus dem Publikum heraus mit dem Opernglas zuschaut. Oder an viele andere Mädchen, die bei Lilas Pastia lernen, wie man Männer (per Stiefel und durch erotische Reize) zu gehorsamen Lustdienern macht. Und dann ist da noch der Kalauer, dass jeder Versuch auf der Bühne zu rauchen, scheitert: Mal wird das Qualmen von der Polizei per Schild verboten, dann bläst der Spannungsbogen der Handlung das Streichholz aus. Am Ende schafft es Carmen natürlich doch zu rauchen – und die Kinder machen es ihr nach.
Das Problem an diesem Abend ist, dass all das nicht zwingend ist, dass die Handlung oft mäandert, dass neben der Grundidee keine Charaktere entwickelt und erzählt werden: Woher rührt Don Josés Brutalität? Bei Mérimée ist er bereits ein Mörder! Und sucht Escamillo in Carmen wirklich ein gezähmtes Dienstmädchen? Ja, und wer ist diese Carmen überhaupt: Warum genau brauchen wir als Gesellschaft eine derartige Kunstfigur? Und warum muss sie sterben? Auf all diese Fragen gibt de Beer kaum Antworten.
Dass vieles etwas zäh wirkt, mag auch an der Besetzung liegen. Während Ben Glassberg das Erbe von Omer Meir Wellber weiterführt und das Orchester der Volksoper aufpeitscht, radikal spielen lässt, auf Holzschnitt und Tschingderassabum setzt (und das Lyrische leider all zu sehr vernachlässigt), scheint das Ensemble genau dagegen anzukämpfen. Tomislavs Muzeks José fehlt der tenorale Glanz und Schmelz, etwa in der Rosenarie, Josef Wagners Escamilo geht das Testosteron ab, und selbst Katia Ledoux‘ Carmen bleibt weitgehend charakterlos und scheint so sehr mit der Stimmführung beschäftigt zu sein, dass sich nur selten wirkliche klangliche Freiheit einstellt. So sorgt am Ende Julia Maria Dan in ihrem Hausdebüt als Micaëla für die größte Gänsehaut.
Nebenan, in der Staatsoper in Wien, läuft übrigens die über 30 Jahre alte Carmen-Produktion von Calixto Bieito: Ein echter Warnhinweis in Sachen Femizid und eine Erklärung, warum Carmen so ist, wie sie ist.