Von Klassik-Birnen und Sport-Äpfeln

April 14, 2025
7 mins read

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

heute mit allerhand schiefen Vergleichen: Musik vs. Sport, Streams vs. CDs, Digital Concert Hall vs. YouTube und Karfreitag in Dortmund vs. Karfreitag in Düsseldorf.  

Die gefährliche YouTube-Offensive der ARD

Gestern um 11 Uhr hat der neue YouTube-Kanal ARD Klassik mit einem Benefizkonzert des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier den Livebetrieb aufgenommen. Der Kanal bündelt alle bisherigen Klassik-Kanäle der Landesrundfunkanstalten und macht die Aufnahmen öffentlich zugänglich. Eigentlich eine gute Idee, aber: Es gibt da auch einige Fragen. Warum muss die ARD ausgerechnet auf einen privaten Fremdanbieter ausweichen, wenn sie es nicht einmal schafft, ihre Orchester vernünftig im eigenen Fernsehprogramm abzubilden? Und wie ist das mit dem fairen Wettbewerb gegenüber anderen (nicht mit Gebühren finanzierten) Orchestern, die sich schwer tun, ihre Rechte für kostenlose Streams (etwa bei YouTube) zur Verfügung zu stellen oder sich eine kostspielige Digital Concert Hall leisten, um ihre Leistungen und Rechte nicht zu »verschenken«? Der dickste Hund ist, dass die ARD auf BackstageClassical-Anfrage erklärt: »Beim ARD Klassik YouTube Kanal handelt es sich um ein nicht-kommerzielles, werbefreies Angebot. Die ARD verzichtet grundsätzlich auf eine Monetarisierung.« Mit anderen Worten: Die ARD bringt durch ihre Aktion nicht nur andere Orchester (ohne Multimedia-Umgebung) in Bredouille, sondern füllt mit ihrer neuen Weltweit-Umsonst-Mentalität nicht einmal die eigenen, klammen Kassen. Sollten wir das nicht Mal etwas breiter debattieren? Ich habe hier Mal den Anfang gemacht.

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Hajos Welt in der Zeit

Wir freuen uns immer, wenn aufwendige BackstageClassical-Recherchen zitiert werden, so wie jetzt in der ZEIT, die sich auf unser großes Feature über eine merkwürdige Dinner-Gesellschaft bei Justus Frantz bezog, auf der auch Kulturmanager Hans-Joachim Frey zugegen war. Drei Autorinnen und Autoren haben an einem Text über Frey geschrieben, den einstigen Dresdner Opernball-Organisator, der heute in Putins Russland zu Hause ist (und hier unter anderem Bälle organisiert, über die ebenfalls bei uns berichtet wurde). Die ZEIT hat Frey sogar getroffen und bliebt dennoch (oder gerade deswegen?) merkwürdig unbestimmt, so wie vor Kurzem bereits im Porträt über den Cellisten, AfD-Mann und Russland-Sympathisanten Matthias Moosdorf. Viele wichtige Fragen werden einfach nicht gestellt, etwa über das Zusammentreffen mit Sahra Wagenknecht, über Freys Zeit am Brucknerhaus in Linz, über die Beschäftigung des Cellisten Sergej Roldugin und die Russland-Reisen mit dem Kultur- und Wirtschaftsforum, das er gemeinsam mit dem ehemaligen Präsidenten der europäischen Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, ins Leben gerufen hat. Eine leider verpasste Chance.  

Teodors Welt im Spiegel

Ähnliches gilt wohl auch für das aktuelle Spiegel-Porträt über Teodor Currentzis, für das sich Autor Matern von Boeselager mit dem griechisch-russischen Dirigenten persönlich unterhalten hat. Viel Neues ist – trotz der Länge des Textes – allerdings nicht herausgekommen. Currentzis scheint sich als Opfer zu fühlen und fragt »Was habe ich denn verbrochen? Bin ich ein Krimineller?« Außerdem startet er einen Frontalangriff auf die europäischen Demokratien und fragt: »Wie kann es sein, dass es in Europa keine Redefreiheit mehr gibt?« Im Text fasst der Spiegel die Absagen von westlichen Konzerthäusern, das VTB Sponsoring von MusicAeterna und andere zum Teil von uns recherchierte Geschichten zusammen. Es ist erstaunlich, dass das Magazin die Debatte um Currentzis in den letzten drei Jahren auffällig wenig interessiert hat, und dass der Spiegel es nun verpasst, dem Dirigenten entscheidende Fragen zu stellen. Am Ende des Artikels erklärt Currentzis noch, dass viele europäische Institute seine »Menschenrechte« verletzt hätten und vergleicht seine persönliche Situation mit der Zeit der Junta während der griechischen Militärdiktatur. Auch Uneindeutigkeit kann ziemlich eindeutig sein.

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Von Klassik-Birnen und Sport-Äpfeln

Ich erinnere mich, wie ich Anfang der 2000er Jahre für die Welt am Sonntag alle Kartenverkäufe der Klassik gegen jene in den Stadien der Fußballbundesliga aufgerechnet habe – und ja: die Klassik verkaufte schon damals mehr Tickets! Inzwischen ist dieses Gegeneinander zu einem Leitmotiv der Klassik-Legitimation geworden. Zeit, die Dinge noch einmal zurechtzurücken: Natürlich verkaufen Hunderte von Opernhäusern und Orchestern, die fast jeden Tag in jeder Stadt spielen, mehr Tickets pro Jahr als die Fußball-Bundesliga, die nur neun (!) Spiele pro Woche hat. Würde man die Zuschauerzahlen im Fernsehen addieren, sähe die Kultur dagegen alt aus! Nachdem das Deutsche Musikinformationszentrum diese Woche jubelte, dass 21 Prozent aller Deutschen ein Musikinstrument spielen, holte die FAZ den alten Fußball-Vergleich wieder aus der Mottenkiste und erklärte: »Die Zahl der Freizeitsänger und Instrumentalisten ist so groß wie die der Hobby Fußballer«. Ja! Ja! Ja! Aber die Fußballer in Deutschland sind quasi nur »die Geiger des Sportes«: Es gibt auch Handballer, Turner, Läufer und und und … Liebe Klassik-Leute es mag ja sein, dass Ihr nicht gerne Sport treibt, aber hört auf, die Klassik-Äpfel mit den Sport-Birnen zu vergleichen! Beides ist wichtig für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen – und einer ganzen Gesellschaft! Und beides wird an unseren Schulen viel zu sehr vernachlässigt!   

Festival Junge Stimmen (Foto: altrofoto.de)

Knaben. Chöre. Welt.

Apropos Fußball und Klassik: Das Foto oben ist vom Festival Junge Stimmen, das die Regensburger Domspatzen zum 1050. Jubiläum veranstaltet haben: 300 junge Sänger aus sechs Chören waren angereist. Sie sangen – und spielten Fußball. Unser Autor Thilo Komma-Pöllath (einst selber Domspatz) war dabei und hat in einer wirklich schönen Reportage aufgeschrieben, warum das Singen das Leben verändert (und Fußballspielen eben auch dazu gehört). Meine Leseempfehlung.

Kommt die große Rehabilitation?

Klar, man kann Valery Gergievs politische Solidarität mit Vladimir Putin nicht mit dem übergriffigen Verhalten von François Xavier Roths vergleichen. Was man aber durchaus vergleichen kann, ist, dass Orchesterleitungen, Veranstalter und ein Teil des Publikums offensichtlich keine Lust mehr auf moralische Kämpfe haben. Ein spanischer Veranstalter hat für die kommende Saison Gergiev-Gastspiele in Westeuropa angekündigt (ob sie je stattfinden, ist unklar), und der SWR wird am 31. Mai – trotz aller Protest-Ankündigungen – gemeinsam mit seinem designierten Chefdirigenten im Festspielhaus Baden-Baden auftreten. Dass Anna Netrebko wieder an so ziemlich allen europäischen Opernhäusern zu Hause ist, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt (tatsächlich ist sie ihrer Linie treu geblieben und steht derzeit nicht in Verdacht der Kreml-Propaganda oder der Kreml-Unterstützung). Ich habe mich gefragt: Sind wir einfach nur zu müde, um zu protestieren, oder ist die Zeit für Rehabilitation gekommen?  

Aktuelle Texte bei BackstageClassical

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18 Euro für 1.000 Streams

Spätestens als das Label Dabringhaus und Grimm letzte Woche angekündigt hatte, über 20.000 CDs zu zerstören, wurde klar, dass das Streaming-Business die wahre Zukunft des Musikhörens ist – auch in der Klassik. Aber noch ist es auch eine große Blackbox. Was am Ende für Künstlerinnen und Künstler übrigbleibt? Nichts Genaues wusste man bisher! Der französische Streaming Anbieter qobuz (Kooperationspartner von BackstageClassical, wir haben hier auch eine eigene Playlist zu den Themen unserer Texte) hat nun erstmals eine belastbare Studie mit eigenen Daten in Auftrag gegeben, um einen Schritt in Richtung Transparenz zu machen. Das Ergebnis: qobuz zahlt pro 1.000 Streams etwas über 18 Euro an die Rechteinhaber, die ihre Anteile dann untereinander verteilen. Warum finanzielle Transparenz, eine Redaktion mit echten Menschen (und kein Algorithmus), höchste Klangqualität und ein Bezahlabo-Modell immer wichtiger werden, und welche Perspektiven das Streaming für freischaffende Künstlerinnen und Künstler und große Orchester hat – über all das spreche ich im aktuellen Guten Morgen-Podcast mit Mareile Heineke von qobuz.  


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Personalien der Woche

Streit um ein YouTube-Video, in dem Pianistin Anik Göttler den Boykott von Jugend Musiziert fordert: Göttler kritisiert die geplante Kontingentierung des Bundeswettbewerbs.  Der Deutsche Musikrat reagiert angefasst und weist die Vorwürfe weitgehend unkonkret zurück. Man hat den Eindruck, dass die Apparatschiks vom Musikrat ein bisschen wie die »FIFA der Klassik« sind. Das Video und die ganze Story hier. +++ Es wird überall geflüstert: Joe Chialo soll Nachfolger von Claudia Roth als Bundesbeauftragter der Kultur im Kabinett von Friedrich Merz werden. Ich finde diese Vorstellung so schockierend, dass ich ein wenig ausfällig geworden bin: Schon jetzt ist Chialo für mich eine Schande für die Kulturpolitik der CDU! Aber vielleicht kommt ja doch alles ganz anders, manche tuscheln schon wieder, dass doch Zweifel an Chialo in letzter Sekunde aufkommen könnten. Als Alternative wird die CDU-Politikerin Christiane Schenderlein genannt. +++ Norbert Trawöger, derzeit künstlerischer Leiter des Bruckner Orchesters Linz, wird als »Artistic Director« die künstlerische Leitung des Brucknerhauses verantworten. Kai Liczewski, bislang Leiter des Bereichs Finanzen und Informationsmanagement bei den Salzburger Festspielen, wird als »Executive Director« die kaufmännische Führung der LIVA übernehmen. Beide treten ihre neuen Positionen am 18. August 2025 an. +++ Der Verwaltungsausschuss des Staatstheaters Braunschweig hat beschlossen, Tobias Wolff ab Sommer 2026 als neuen Generalintendanten zu berufen. Wolff, derzeit Intendant der Oper Leipzig, tritt die Nachfolge von Dagmar Schlingmann an, die das Haus seit 2017 leitete und aus privaten Gründen ausscheidet. +++ Ein episches Interview hat Kirill Petrenko auf der Seite der Berliner Philharmoniker gegeben: Er redet über seine Zeit in Vorarlberg, abseits der Wiener Metropole und über seine Emigration aus der »Sowjetunion« und seine jüdischen Wurzeln. Petrenko empfindet ein ähnliches »Fremdsein« wie einst Gustav Mahler: »Dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt«. Allerdings betont er, dass seine Familie während seiner Kindheit und Jugend in der Sowjetunion »keine Beziehung zum Judentum hatte«. +++ Kein Karfreitag ohne Parsifal – das ist jedenfalls meine Devise. Die Bezirksregierung Arnsberg tickt da etwas anders: Sie hat dem Theater Dortmund eine Aufführung der Konwitschny-Walküre zu Karfreitag untersagt. Die Entscheidung sorgt seither für Diskussionen, insbesondere da nur 70 Kilometer entfernt in Düsseldorf am selben Tag die blutrünstige Oper Lady Macbeth von Mzensk von Dmitri Schostakowitsch ohne Beanstandung aufgeführt wird. Die ganze Story hier

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Klassik-Stars als Action Figuren (Fotos: Instagram)

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Endlich werden Klassik-Künstler zu Actionfiguren – dank ChatGPT. Der Trend hat mit dem BRSO begonnen, der Simon Rattle (samt Espressomaschine) zum Maximum geschrumpft hat. Markus Poschner, Enrique Mazzola und viele andere ließen nicht lange auf sich warten. Die Deutsche Oper Berlin hat kurzerhand Wagners Elsa zur Spielfigur werden lassen (mit »Buch der verbotenen Frage«). Da wollten wir natürlich auch dabei sein. Das Ergebnis? Sagen wir Mal so: ChatGPT ist durchaus noch ausbaufähig.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif. 

Ihr

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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