»Sehnsucht nach Religiosität«

April 9, 2025
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Der Dirigent Kirill Petrenko (Foto: Berliner Phil./Rabold)

Kirill Petrenko zieht nach fünf Jahren an der Spitze der Berliner Philharmoniker Bilanz spricht über seinen musikalischen Weg und die Bedeutung der Provinz.

English summary: Kirill Petrenko reflects on five years as chief conductor of the Berlin Philharmonic, highlighting his artistic journey shaped by roots in Siberia and training in Austria. Influenced by nature and provincial life, he finds deep connections with Mahler and Bruckner. He values mutual inspiration with the orchestra and strives to challenge it artistically, aiming to always go beyond the expected.

Berlin (BC) – Seit fünf Jahren steht Kirill Petrenko als Chefdirigent an der Spitze der Berliner Philharmoniker. Aus diesem Anlass gab er in einem Interview auf der Homepage des Orchesters Einblicke in die Zusammenarbeit.

Seine Ausbildung in Österreich, wohin er aus dem »sibirischen Omsk« kam und wo er »zunächst in seiner Heimatstadt und später in Österreich« seine musikalische Ausbildung erhielt, prägte seinen Blick auf Komponisten wie Bruckner und Mahler. Seine Zeit in Vorarlberg, abseits der Wiener Metropole, eröffnete ihm eine besondere Perspektive auf Bruckners Musik, die er als »gewaltige Musiklandschaften« mit »Tälern, Bergen, Eisblöcken, Regen« beschreibt. Diese seien besser zu verstehen, wenn man Gegenden wie Vorarlberg und die Menschen dort kenne, die eine »naturverbundene, einfache und beständige Welt« repräsentieren.

Große Vorbilder

Seine Emigration aus der »Sowjetunion« und seine jüdischen Wurzeln scheinen eine Verbindung zu Mahler herzustellen, der sich selbst als »dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt« bezeichnete. Petrenko empfindet ein ähnliches »Fremdsein«. Allerdings betont er, dass seine Familie während seiner Kindheit und Jugend in der Sowjetunion »keine Beziehung zum Judentum hatte«. Die in seiner Kindheit gehörten »antisemitische Bemerkungen« hätten dies zusätzlich erschwert. Dennoch spüre er eine »Sehnsucht nach Religiosität«, die er auch in Mahlers Musik finde.

Seine dirigentische Ausbildung begann Petrenko mit viel »Praxis« in Vorarlberg, wo er »korrepetiert und alle möglichen Instrumente am Klavier begleitet« und einen »Laienchor aus Senioren dirigiert« habe. In Wien kamen »Probenbesuche bei großen Dirigenten« wie Harnoncourt, Abbado und Muti hinzu, von denen er »unglaublich viel gelernt« habe. Die Arbeit an der Oper, wo er seine Karriere begann, sieht Petrenko als wichtige Vorbereitung: »Es war für mich ein großes Glück, schon in jungen Jahren ans Theater zu kommen und dann in Meiningen wirklich mein Handwerk zu erlernen. Das beinhaltete nicht nur die Dirigiertechnik, sondern auch das Verständnis für den Organismus Theater«. Dazu gehöre auch der Umgang mit »zwischenmenschlichen Beziehungen«, »Psychologie und Konfliktmanagement«.

Petrenko mit Mahlers 7. Symphonie

Es werde für ihn »nie normal sein‘, vor diesem Orchester zu stehen«, betonte Petrenko im Gespräch. Auch nach fünf Jahren fühle sich die Zusammenarbeit »frisch und überraschend wie am ersten Tag« an. Man würde gemeinsam immer wieder die »Komfortzone zu verlassen«. Dabei betont Petrenko die Wechselseitigkeit des Prozesses: »Ich selbst muss das Orchester herausfordern… Und wie fordert das Orchester Sie heraus? Mit dem, was jeder und jede in die Interpretation einbringt«. Unterschiedliche Sichtweisen der Musiker auf Phrasierungen nimmt Petrenko auf und formt sie im Sinne der Partitur: »Ich nehme auf, was mir die Orchestermitglieder anbieten, wir sprechen darüber, bei der Probe oder danach. Jeder, der sich einbringt, soll sich wohl fühlen und den Eindruck haben: Mein Wert wird gesehen, ich habe die Möglichkeit, mein Können zu zeigen. Das muss ich einbinden in das, was der Komponist vorgibt«.

Immer an der Grenze

Um das Orchester an seine Grenzen zu bringen, setzt Petrenko auf eine Art der »Provozieren«, indem er den Musikern »immer bewusst zu machen, dass wir ein besonderes Orchester sind. An jedem Pult sitzt ein Musiker von enormer Begabung und Ausstrahlung. Das bringt aus meiner Sicht eine Verpflichtung mit sich. Wir müssen aus einer Partitur herausholen, was der Komponist wollte, und eigentlich noch mehr. Ich sage oft in der Probe: Mit Ihrem Potenzial dürfen wir nicht auf Nummer sicher gehen. Davon fühlen sich die Musiker angespornt«.

Für seine Zukunft mit den Berliner Philharmonikern wünscht sich Petrenko, »dass sich das weiterentwickelt«. Trotz seines »großen Respekts vor diesem Orchester« und der Notwendigkeit, »mental in guter Verfassung zu sein«, schöpfe er Kraft aus dem positiven Feedback der Musiker. »Jeder Tag mit diesem Orchester ist ein besonderer Tag«, resümiert Petrenko. »Umso glücklicher bin ich, wenn uns etwas Schönes gelingt. Denn das ist das Allerwichtigste für mich: dass ich das Gefühl habe, mit meiner Arbeit dem Orchester etwas Gutes zu tun«. Er hoffe, in dieser Beziehung noch gelassener zu werden, auch wenn er darin »offen gesagt limitiert« sei. Eines stehe fest: »Egal, wie viele Jahre wir noch zusammenarbeiten werden: Es wird für mich nie normal sein, vor diesem Orchester zu stehen«.

Text entstand auch mit Hilfe von KI

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