Die große Rehabilitation?

April 10, 2025
3 mins read
(Foto: Münchner Philharmoniker)

Schwamm drüber? François Xavier Roth wird den SWR in Baden-Baden dirigieren, Anna Netrebko kehrt auf die Bühne zurück, und selbst von einem Europa-Gastspiel von Valery Gergiev wird derzeit gemunkelt.

English summary: Valery Gergiev, Teodor Currentzis, and François-Xavier Roth faced heavy criticism but are gradually returning to the spotlight. As global protest energy fades, controversial figures in classical music seem to be quietly reaccepted.

Die Welt ist gerade ziemlich anstrengend, und wir lernen derzeit an vielen Orten, dass dem öffentlichen Protest die Kraft ausgeht. Vladimir Putin bombt – trotz aller Friedensverhandlungen – einfach weiter, Donald Trump geht bei jeder Kritik in die aggressive Gegenoffensive und setzt seinen Kurs weitgehend unbeirrt fort. In Deutschland hat die Letzte Generation zum großen Teil kapituliert, und die Klimabewegung scheint auf stillem Rückzug. Je größer der Wahnsinn der Welt, desto kraftloser scheint der Protest zu werden.

Wird jetzt auch in der Klassik wieder zur Normalität, was vor Kurzem noch ein No-Go war? Kaum zu glauben sind die Nachrichten aus Spanien. Hier schreibt das Magazin Scherzo über die angebliche Rückkehr von Valery Gergiev nach Westeuropa. Der russische Dirigent hatte aus seiner Sympathie für Putin nie einen Hehl gemacht, stand im Wahlkampf an der Seite des russischen Präsidenten und dirigierte für Putin im syrischen Palmyra. Seit seinem Rausschmiss bei den Münchner Philharmonikern hat Gergiev seine Machtstellung in Russland weiter ausgebaut und bestimmt inzwischen die Geschicke am Mariinski in St. Petersburg und am Bolschoi in Moskau. Putinkritische Intendanten haben unterdessen in Russland ihre Jobs verloren.

Kaum zu glauben

Ausgerechnet jetzt, da sich der Konflikt mit Russland in Europa zuspitzt und Putin nicht daran zu denken scheint, auf die territorialen Eroberungen seines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges zu verzichten, heißt es, dass der Dirigent eine Rückkehr nach Europa plane. Bislang hatte Gergiev unter anderem in China gastiert. Scherzo berichtet, dass der Direktor der spanischen Konzertagentur Ibercamera den russischen Dirigenten zu einem Konzert nach Barcelona und einer Tour durch Spanien eingeladen hätte. Doch eine Tournee zu diesem Zeitpunkt scheint eigentlich unvorstellbar. Was an den Gerüchten dran ist, lässt sich nur schwer herausfinden, da es bislang keine Stellungnahme von Ibercamera selber gibt. 

Anders als Gergiev hat der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis verbal nie Position für eine der Kriegsseiten bezogen. Aber sein russisches Ensemble MusicAeterna wird von der VTB-Bank und von Gazprom unterstützt, und Ensemblemitglieder hatten Kampflieder für Putins Front geschrieben. Der SWR, dessen Chefdirigent Currentzis war, hat sich inzwischen (allerdings nicht aus politischen Gründen) vom Dirigenten getrennt, und Currentzis tourt in Deutschland und Westeuropa hauptsächlich mit seinem Utopia-Ensemble. Glaubt man den unbestätigten Meldungen von Scherzo, könnten kommende Saison auch Auftritte mit MusicAeterna in Spanien stattfinden – auch diese Auftritte sind offiziell allerdings unbestätigt. Bei den Salzburger Festspielen wird der Dirigent unter anderem Rameaus Oper Castor er Pollux dirigieren – hier dann aber mit dem Utopia Orchester.

Im aktuellen Spiegel-Porträt des Dirigenten erwägt Autor Matern von Boeselager: »Plötzlich scheint noch eine ganz andere Auflösung möglich für das Dilemma des Teodor Currentzis. Was, wenn er sich bald doch nicht mehr entscheiden muss zwischen der spirituellen Heimat Russland und der Weltkarriere im Westen? (…) Wie lange wird es dauern, bis die moralische Front bröckelt, wenn der Schulterschluss des Westens nicht mehr hält? Wie lange, bis man bereit sein wird, im Zeichen des Friedens alle Dissonanzen unter den Tisch zu kehren?«

Zum großen Teil normalisiert haben sich bereits die Verpflichtungen von Anna Netrebko. Die Sängerin hatte sich erst spät – und dann für viele auch nur halbherzig – von Russland und Präsident Putin distanziert. In einigen Opernhäusern stand sie danach zeitweise auf der roten Liste. Doch zuletzt hatten Paris, Wien und Berlin Spielpläne mit Netrebko vorgestellt, in Mailand und Verona hatte sie eh fast immer gesungen. Peter Gelbs MET in New York verzichtet allerdings auch weiterhin auf Einladungen. Tatsächlich ist die Sängerin ihrer Linie treu geblieben und steht derzeit nicht in Verdacht der Kreml-Propaganda oder der Kreml-Unterstützung.      

Roth in Baden-Baden

Ganz andere Proteste hatte die Verpflichtung von François-Xavier Roth (ausgerechnet als Nachfolger von Teodor Currentzis) beim SWR-Orchester ausgelöst. Nachdem bekannt wurde, dass der Dirigent wohl Dickpicks an Orchestermitglieder verschickt hatte, zog sich Roth kurzfristig zurück. Sein Vertrag mit dem Gürzenichorchester wurde einvernehmlich vorzeitig beendet. Bei Teilen des SWR-Ensembles regte sich weiter Widerstand gegen die Entscheidung des Senders, an Roth als neuen Chefdirigent festzuhalten: 48 Unterzeichnende hatten damals kritisiert, dass Programmdirektorin Anke Mai und Orchestergesamtleiterin Sabrina Haane ein falsches Bild über die Stimmung des Orchester gezeichnet hätten, indem sie nicht ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass es innerhalb des Ensembles Proteste gegen die Verpflichtung Roths gab. 

Auch hier schlugen die Wellen hoch: Abonnentinnen und Abonnenten drohten, ihre Abos zu kündigen, und im Orchester wurde weiter gestritten. Doch inzwischen scheinen auch diese Kämpfe ermüdet zu sein. Kürzlich führte Orchestergesamtleiterin Sabrina Haane durch eine äußerst lange Online-Konferenz, in der Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Gremien vorgestellt wurden,  die sich beim und für den SWR um Prävention kümmern und Ansprechpartner bei Übergriffen oder Fehlverhalten sind. Anke Mai schaltete sich erst am Ende der Konferenz dazu, als offensichtlich keine Lust mehr für kritische Fragen bestand. 

Wie das Publikum auf das Festhalten an Roth reagiert, wird sich am 31. Mai zeigen, wenn der designierte Chefdirigent das SWR-Orchester in einem Programm zu Ehren von Pierre Boulez im Festspielhaus Baden-Baden dirigieren wird.     

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Sehr langsamer Parsifal als Stimmfest

Jonas Kaufmann überzeugte in Erl als Parsifal, die Regie war zum Teil unfreiwillig komisch, und Asher Fish dirigierte vor allen Dingen langsam. Eine Presserundschau.

Athen als Vorbild für Hamburg?

Normalerweise sucht Stephan Knies in seiner Nordlicht-Kolumne nach innovativen Klassik-Projekten in Skandinavien. Aber wir dachten, der Junge muss mal in die Sonne. Nun ist er auch in Athen fündig geworden und stellt

Peter Seiffert ist tot

Der international gefeierte deutsche Tenor Peter Seiffert ist im Alter von 71 Jahren nach einem Schlaganfall verstorben.

Das Oster-Duell: Salzburg oder Baden-Baden?

Showdown zwischen Baden-Baden und Salzburg: Die Berliner Philharmoniker trumpfen mit Puccinis Madame Butterfly auf, Esa-Pekka Salonen und das Finnische Radioorchester setzen auf Chowanschtschina. Eine Feuilletonrundschau.

Von Klassik-Birnen und Sport-Äpfeln

Heute mit allerhand schiefen Vergleichen: Musik vs. Sport, Streams vs. CDs, Digital Concert Hall vs YouTube und Karfreitag in Dortmund vs. Karfreitag in Düsseldorf.  

Verramscht die ARD hochwertige Klassik? 

Im Fernsehen ist kaum Platz für Klassik, aber nun starten die ARD-Orchester eine Offensive bei YouTube. Auf Monetarisierung wollen sie dabei verzichten. Darüber müssen wir reden.  

Don't Miss