Chor und Gesellschaft

April 8, 2025
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Festival Junge Stimmen (Foto: altrofoto.de)

Sechs der renommiertesten Knabenchöre Europas zeigten beim FESTIVAL JUNGE STIMMEN in Regensburg ihrer Kunst – und ihre große gesellschaftliche Relevanz. Ein Festivalreport.

English summary: At the FESTIVAL JUNGE STIMMEN in Regensburg, six of Europe’s top boys’ choirs celebrated music, diversity, and unity. Amidst concerts and cultural exchange, even a choir football match sparked friendly rivalry. Highlights included a gala with 400 voices, emotional performances, and deep reflections on choir life’s social value—proving choir singing is a school for life.

Ganz am Ende von drei Tagen großer Harmonien wurde es dann noch ein Wettstreit. Dabei hatte Domkapellmeister Christian Heiß im Vorfeld dieses internationalen Chorfestivals aus Anlass der tausendfünfzigsten Geburtstages der Regensburger Domspatzen die Losung ausgegeben, dass es um »Gemeinschaft, Vielfalt und Völkerverständigung in ungewissen Zeiten« gehen solle. Da hatte Heiß die Fußballleidenschaft seiner Jungs und eines Großteils der 300 angereisten Sänger unterschätzt. Und so bestimmte erst einmal die sportliche Rivalität die Musik.

Kicken mit Stimme

Mit Ausnahme des Riga Cathedral Boys Choir, der bereits zum nächsten Konzert weitergereist war, stellten alle anderen Chöre – Dresdner Kreuzchor, Augsburger Domsingknaben, Escolania de Montserrat aus Spanien, Windsbacher Knabenchor und die Domspatzen – beim schon traditionellen Chorfußball je eine eigene Mannschaft. Und als wäre dieses Premierenfestival nicht ohnehin schon ein riesiger Erfolg gewesen, setzten die Domspatzen noch eines drauf und gewannen das Turnier der Knabenstimmen, die Männerstimmen besiegten im Spiel um Platz drei ihren Angstgegner aus Windsbach im Neunmeterschießen. Drei Jahre zuvor hatten die Domspatzen beim 75. Windsbacher Jubiläum noch eine umstrittene Niederlage erlitten. »Unsere Revanche war das perfekte Ende dieses Superfestivals«, sagte dann auch Alexander Röhrl, 18, Tenor und Mittelfeldregisseur der Domspatzen – mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. 

Festival Junge Stimmen (Foto: altrofoto.de)

Das hatte über das ganze Wochenende auch Domkapellmeister Christian Heiß, auch wenn über seine fußballerischen Qualitäten nur wenig bekannt ist. Sein Fazit: »Dieses Festival ist jetzt Benchmark, an der wir uns in Zukunft messen lassen wollen.« Es gibt wenige in Deutschland, die Musik dramaturgisch so zwingend inszenieren können wie die beiden Düsseldorfer Musikwissenschaftler Clemens und Nick Prokop von der Unternehmensberatung TYE, die das Chorfestival im Auftrag der Domspatzen arrangierten. Christian Heiß nahm die beiden »Andersmacher« beim Wort. Am zweiten Tag gab es drei Begegnungskonzerte in der Dominikanerkirche St. Blasius und der Alten Kapelle, die das Publikum noch einmal ganz neu in die Welt des Chorgesangs eintauchen ließ.

Ein Festival als „Benchmark“ für die Zukunft

Wann hört man schon einmal zwei Weltklassechöre unmittelbar hintereinander mit ihrem ganz eigenen Stil und Repertoire, ihrer ganz unterschiedlichen, hörbaren Tradition? Die Domspatzen und die Escolania de Montserrat, die Augsburger Domsingknaben im Quervergleich mit den Windsbachern und der Dresdner Kreuzchor meets Riga Cathedral Boys Choir. Aber eben nicht im Wettbewerb, sondern in der musikalischen Begegnung und Bereicherung für Sänger wie Zuhörer. Und wenn die beiden Chöre jeweils am Ende gemeinsam Bruckners ebenso eingängige wie überwältigende Hymne Locus Iste intonierten, dann war den Besuchern Eindruck und Rührung ins Gesicht geschrieben. So wie Tomasz und Erika Wojtek, ein polnisches Ehepaar, das extra aus Krakau angereist war. Tomasz sichtlich beeindruckt: »So etwas gibt es bei uns zuhause nicht. Danke!« Das war der Spirit des Festivals.

  • Festival Junge Stimmen (Foto: altrofoto.de)

Zwischen den Konzerten hatten die Besucher die Möglichkeit in der Festivallounge in der Bavariathek bei Domspatzen-Kaffee (»Espresso Forte«) und Laugenbrezen die Manager der sechs Chöre im Gespräch zu erleben. Spätestens dann wusste man, warum Chor nicht gleich Chor ist. Pater Efrem, pädagogischer Leiter der Escolania de Montserrat aus Barcelona erzählte, dass die 33 Knaben des Chores täglich zwei liturgische Dienste bedienen müssen, aufs Jahr gesehen seien das 420 Messen. Plus Konzerte käme man auf rund 450 Auftritte im Jahr. Da musste auch Christina Ostrower, Chormanagerin der Domspatzen, stutzen. Die Domspatzen kommen aufs Jahr gesehen auf rund 60 Dom-Termine, dafür hat Ostrower vier Spatzen-Chöre zu managen, drei Knabenchöre und der neue Mädchenchor, insgesamt gut 320 Sängerinnen und Sänger, die sich ihre liturgischen Pflichten zu gleichen Teilen aufteilen, so Ostrower. Hinzu kommen für alle vier Chöre etliche Konzerte und Reisen.

Das Konzept »Klangfänger«

Hochspannend auch das Treffen zwischen Claudia Brinker, Konzertmanagerin des Windsbacher Knabenchors und Leonhard Fitz, Kaufmännischer Direktor der Augsburger Domsingknaben. Während die Windsbacher ihre Sänger aus allen gesellschaftlichen Milieus gewinnen, eben nicht nur Gymnasium, sondern auch Mittel- und Realschule, sind die Augsburger Domsingknaben an gar keine Schule angebunden. Mit ihrem Konzept der »Klangfänger« gehen die Windsbacher in die Schulen und scouten ihre Talente. In Augsburg kann man ab 6 Jahren eine Aufnahmeprüfung ablegen. »Leider«, beklagt Direktor Fitz, «haben wir deutlich weniger Probenkontaktzeit als etwa die Domspatzen«. 

Im Gespräch zwischen Ilze Baumane, Geschäftsführerin des Riga Cathedral Boys Choir und Alexandra MacDonald, kaufmännischer Chordirektorin des Dresdner Kreuzchores, ging es vor allem um die gesellschaftliche Relevanz der Chorausbildung. Beide Chöre sind staatliche oder städtische Einrichtungen, also keine Kirchenchöre im klassischen Sinne, obwohl das liturgische Repertoire dominiert. »Kinder, die sich musikalisch früh bilden, sind im Kopf viel besser vernetzt. Die haben in der Regel auch in der Schule ein höheres Leistungsniveau«, glaubt Baumane. Und Alexandra MacDonald geht noch einen Schritt weiter: »Das, was heute zunehmend verloren geht, dass man aufeinander hört, das man einander zuhört, das lernt man im Chor.« Chorschule als Schule fürs Leben.

Im Chor singen: Wie die Väter, so die Söhne

Dass das nicht nur so dahingesagt ist, sondern sich sogar belegen lässt, dafür sind Bernhard Kisch, 52, und Michael Bestele, 50, das beste Beispiel. Die beiden Augsburger Jugendfreunde waren in den 1980er und 90er Jahren bei den Domsingknaben. Beim »Klanghäppchen« des Windsbacher Knabenchores im Haus der Bayerischen Geschichte liefen sich die beiden Familienväter am Festivalsamstag nach 40 Jahren das erste Mal wieder über den Weg. Im Gespräch über die guten alten Zeiten erzählen sie, dass sie ihrer Söhne wegen zum Festival nach Regensburg gekommen sind. Bernhards Sohn Leonhard, 18, singt bei den Windsbachern, Michaels Söhne Johannes, 15, und Vitus, 10, bei den Domspatzen. Sie schwelgen in Erinnerungen unvergessener Momente.

Bernhard erinnert sich an ein Konzert am Comer See Mitte der 1980er Jahre, als sie Händels Messias gaben und »die Zuschauer so ausgeflippt sind, dass sie uns buchstäblich aus dem Saal getragen haben«. Heute singt der langjährige Bürgermeister von Bad Windsheim noch in der Kantorei der Stadt, manchmal kommt auch Leonhard dazu »und natürlich ist er längst besser als ich«, sagt Bernhard. »Die Chorerfahrung war für mich das Beste, was mir im Leben passiert ist. Die Gemeinschaft bei den Konzertreisen, die erlernte Konzentration, auf den Punkt das Beste zu geben, das trägt dich durchs ganze Leben.« Für Michael ist »Chor der Beweis, was man regelbasiert erreichen kann. Das geht heute in der Gesellschaft immer mehr verloren, wir sehen ja wohin das führt.« Eine gelungene Chorschule ist heute mehr denn je gesellschaftlich relevant. Dann machen sich die wiedergefunden Freunde gemeinsam auf den Weg zum Audimax, der Höhepunkt des Festivals kommt erst noch.

Er hat den Spatz gefunden

Ein Gala-Konzert mit sechs Chören auf Weltniveau, das hat es auch in der Domspatzen-Heimat Regensburg noch nicht gegeben. Auf die Fahnen über der Bühne werden Grußbotschaften (u.a. von Bayerns Wissenschaftsminister Markus Blume), Einspielfilme zu allen Chören, Liedtitel und Komponisten projiziert. Die Domspatzen beginnen den Reigen der Chöre humorig mit „Zu Regensburg auf der Kirchturmspitz“, die Knabenstimmen im blauen, die Männerstimmen im schwarzen Konzertanzug. Der erste musikalische Höhepunkt, Passer Invenit (Zu Deutsch: Er hat einen Spatz gefunden), eine Komposition von Wolfram Buchenberg, die die Domspatzen eigens für das Jubiläumsjahr in Auftrag gegeben haben. Chormanagerin Christina Ostrower hatte die Zuhörer noch am Nachmittag in der Festivallounge dazu ermuntert, »den Spatz fliegen zu hören.« Passer, Passer, Passer singen die Spatzen aus Fleisch und Blut im mantraartigen Crescendo, was dem Werk seinen beflügelten Duktus verleiht. Er habe das Ostinato ganz bewusst gewählt, um das Spatzengezirpe anschaulich zu machen, erzählt Buchenberg in seiner Grußbotschaft. Und in der Tat: Diese Spatzen fliegen im Audimax bis unter das Dach. 

Festival Junge Stimmen (Foto: altrofoto.de)

Im kurzen Bühnentalk mit Moderator Clemens Prokop erzählt Domkapellmeister Christian Heiß, dass man sich – wie viele – zum Geburtstag gute Freunde eingeladen habe. »Und wir haben uns die Champions League der Knabenchöre eingeladen.« Und dann kommt auch schon der Riga Cathedral Boys Choir. Beim Stück des lettischen Komponisten Jānis Vaivods (Shining like a Crystal) treten die 13-jährigen Solisten Ernests und Gustavs (beide Sopran) an den Bühnenrand nach vorne. Die beiden sind beste Kumpels und so etwas wie die heimlichen Stars des Chors. Ernests singt fast alle großen Soli, Gustavs ist der verlängerte Arm von Dirigent Mārtiņš Klišāns. Die 20-minütige Ansingprobe für das Konzert hatte der selbstbewusste Gustavs übernommen, weil Klišāns im Hotel aufgehalten wurde. Eine halbe Stunde vor der Gala treffen wir beide zum Gespräch:

Ernests: »Gustavs hat das größte Selbstbewusstsein der Welt. Keine Ahnung wie er das macht! Ich bin dafür zu scheu.«
Gustavs: »Stimmt doch nicht, Du bist unsere beste Stimme!«
Ernests: »Wir ergänzen uns wohl ganz gut. Wahrscheinlich sind wir deshalb so eng befreundet.«

Auch auf der Bühne ergänzen sich Ernests und Gustavs perfekt. Ihre Stimmen entwickeln einen besonderen Zauber, gerade weil sie zerbrechlich und selbstbewusst zugleich klingen. 

Emotionale Höhepunkt: 300 Sänger auf einer Bühne

Es ist eine Gala in Best of-Manier: Die Windsbacher mit ihrer großen Artikulationspräzision bei Hugo Distlers rhythmisch anspruchsvollem Feuerreiter; das harmonische Klangbild des Dresdner Kreuzchors bei Mendelssohns Statement-Motette »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«; das ganz eigene Repertoire der Escolania de Montserrat, das Stimmungen und Emotionen transportieren kann, »die mitten ins Herz gehen«, wie Dirigent Llorenç Castelló auf der Bühne erzählt. Den Song of the Birds des katalanischen Komponisten Pau Casals durften die Domspatzen als lautmalerisches Geburtstagsständchen verstehen. Den Reigen beschlossen die Augsburger Domsingknaben mit Palestrina, Purcell, dem beschwingten Veni Sancte Spiritus von Georg Grün und der Botschaft, dass sie natürlich viel mehr sind als nur die Talentschmiede für Regensburg oder Windsbach. Bernhard Kisch und Michael Bestele sehen das sicher genauso.

 Leonhard (l.) und Bernhard Kisch (Foto: Privat)

Der dramaturgische Climax nach über drei Stunden Konzert: Alle sechs Chöre und 400 Sänger stehen dichtgedrängt auf der Audimax-Bühne und singen noch einmal »unser Lieblingsstück«, wie es Christian Heiß nennt: Anton Bruckners Blockbuster Locus Iste. Mit dem Schlussakkord reißt es die Besucher im Audimax von den Sitzen. Bravo! Fußgetrampel! Zugabe-Rufe! Eine Regensburger Dame ruft laut: »Des war super! Hörts bitte ned auf!“   

Die Zugabe kommt mit einem Volkslied-Klassiker: Der Mond ist aufgegangen – im Rotationsmodus. Jeder Kapellmeister dirigiert mit seinem Chor eine Strophe des Liedes und übergibt im fliegenden Wechsel an den nächsten Kollegen und dessen Chor, ehe Gastgeber Christian Heiß beim letzten Stück des Abends alle sechs Chöre noch einmal gemeinsam übernimmt. Und Heiß hatte recht: Es ist der Schulterschluss von sechs Chorgemeinschaften, die auch Konkurrenten sein könnten, der am Ende viele so berührt. Als um 22.45 Uhr noch ein Erinnerungsfoto von allen Sängern auf der Bühne geschossen wird, kommen auch einige junge Damen des Domspatzen-Mädchenchores mit aufs Bild, die eifrig bei der Organisation geholfen hatten. Wer sagt denn, dass die Champions League in Zukunft nur für Knabenchöre reserviert ist. 

Weiteren Geburtstagsevents der Domspatzen

Autor Thilo Komma-Pöllath, 53, war zwischen 1979 und 89 selbst ein Regensburger Domspatz.Als er sich mühevoll in den 1. Chor unter Domkapellmeister Georg Ratzinger hochgesungen hatte, kam er ein halbes Jahr später in den Stimmbruch und wurde aus dem Aufgebot für eine große Amerika-Tournee gestrichen. Die Enttäuschung war damals groß, heute singt der Bariton manchmal noch unter der Dusche oder mit seinen Kindern.

Thilo Komma-Pöllath

Thilo Komma-Pöllath ist Journalist, Reporter und Buchautor in München. Er schreibt u.a. für SZ-Magazin, Focus, Stern und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt und Der Freitag.
Der wichtigste Aspekt seiner Arbeit liegt im anwaltschaftlichen Journalismus: Menschen und Bürger, denen Unrecht widerfährt, kommen auf ihn zu und erzählen ihm Ihre Geschichte. Diese Menschen suchen die Öffentlichkeit als letzte Option, um auf ihren Fall aufmerksam zu machen, um systemische Ungerechtigkeiten offen zu legen, um persönlich Hilfe zu bekommen.

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