Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
was ist eigentlich mit unseren Orchestern los? Oder anders gefragt: Warum scheinen sie gerade an vielen Orten um ihre Existenz und um ihre Rechte zu ringen? In diesem Newsletter schauen wir nach Bremerhaven, nach Kassel und zum SWR nach Stuttgart – überall geht es um die Frage: Warum kommen Orchester und ihr Management nicht zusammen?
Interne Kritik an der SWR-Kommunikation über Roth
Letzten Mittwoch gab es eine Krisen-Online-Konferenz beim SWR. Eigentlich sollte es um einen neuen Zusammenhalt gehen, nachdem die Zusammenarbeit mit François-Xavier Roth bestätigt wurde und ein Brief von 48 Musikerinnen und Musikern an Programmdirektorin Anke Mai und Orchester-Gesamtleiterin Sabrina Haane öffentlich wurde. Es ist symptomatisch, dass falsche Einladungen verschickt wurden und die eine Hälfte des Orchesters in einem Chatroom saß, die andere in einem anderen. BackstageClassical liegen nun neue Dokumente vor, die zeigen, warum das SWR Symphonieorchester einfach nicht zur Ruhe kommt, warum das Ensemble weiterhin gespalten über eine Zusammenarbeit mit Roth ist, warum Orchesterdirektorin, Programmleiterin, aber auch der Orchestervorstand weiter Vertrauen bei Musikerinnen und Musikern verspielen und warum Intendant Kai Gniffke nun persönlich tätig werden will. Vor allen Dingen aber wird klar, wie Sabrina Haane in ihrer Pressearbeit bewusst ein Bild der Einheit vermitteln wollte, das so gar nicht existiert. Hier geht es zur Reportage aus dem rumorenden Bauch des SWR Symphonieorchesters.
In 20 Minuten zum GMD von Bremerhaven
Wer Generalmusikdirektor (GMD) in Bremerhaven werden will, hat genau 20 Minuten Zeit: So lange dürfen die Anwärterinnen und Anwärter vor dem Orchester dirigieren – und das soll dann sofort den Daumen heben oder senken. Stimmrecht hat das Orchester aber keines. Kein Wunder, dass so etwas unisono-Geschäftsführer Gerald Mertens auf die Palme bringt. »Als Musikerverband haben wir in der Vergangenheit schon einiges erlebt bei der Suche nach musikalischen Leitungen für Orchester«, sagt er. »Was jedoch gerade in Bremerhaven passiert, schlägt dem Fass den Boden aus.« Die Entwicklung ist ein weiterer Tiefpunkt in der Kommunikation zwischen Intendant Lars Tietje und seinem Orchester. Nach dem Abgang von GMD Marc Niemann wollen Tietje und Kulturdezernent Michael Frost das Orchester offensichtlich entmachten. Außerdem befürchtet das Orchester, dass der scheidende Kulturdezernent dem Intendanten als »kleines Abschiedsgeschenk« noch schnell eine Vertragsverlängerung anbietet.
Kassels neuer Chefdirigent mit Doppel-Job
Auch in Kassel ist das Orchester »not amused«! Gerade hat es erfahren, dass sein designierter GMD, Ainārs Rubiķis, nebenbei auch noch GMD beim Tiroler Symphonieorchester Innsbruck (TSOI) werden wird. In Kassel soll Rubiķis kommende Saison Francesco Angelico ablösen, der mit Intendant Florian Lutz aneinander geraten war. Angelico wirft dem Intendanten vor, sich nicht ausreichend um die musikalischen Aspekte der Oper gekümmert zu haben. Auch das Kasseler Orchester kritisierte Lutz‘ Vorgehen bei der Dirigentensuche und sprach sich bereits explizit gegen Rubiķis aus – es votierte mit großer Mehrheit für den Briten Kerem Hasan. Der Hessische Minister für Kultur, Timon Gremmels, hatte das Vorgehen gegenüber BackstageClassical in einer Stellungnahme verteidigt. Rubiķis Doppel-Engagement dürfte die Situation in Kassel nicht leichter machen. Ironie der Geschichte: Sowohl für Angelico als auch für Hasan war Innsbruck ein Sprungbrett nach Kassel, Rubiķis hebt die Häuser wieder auf ein Niveau.
Grundsätzliches zu Orchestern und ihrer Leitung
In der Krisen-Schalte vom SWR beklagte Programmdirektorin Anke Mai, dass Informationen ohne Ihre Zustimmung an die Presse (unter anderen an die Badische Zeitung und an BackstageClassical) gelangt waren. In Kassel gab es einen legendären »Maulkorb-Beschluss« von Intendant Florian Lutz für das Orchester, und auch in Bremerhaven wurde gerade ein Brief vom Kulturdezernenten Michael Frost verschickt, indem er Orchstermitgliedern explizit mit Konsequenzen drohte, da BackstageClassical über die Missstände am Haus berichtet hatte. Wir als Redaktion überlegen sorgfältig, bevor wir interne Informationen, die uns regelmäßig erreichen, veröffentlichen und gehen den Vorwürfen in gründlichen Recherchen und Gesprächen mit den Betoffenen nach. In den Fällen vom SWR, in Bremerhaven und Kassel ist die Situation ähnlich gelagert: Interne Kritik wurde von den Führungsgremien weitgehend ignoriert. Oft werden Dialoge zwar angeboten, eine echte Kommunikation auf Augenhöhe durch die Androhung von Sanktionen aber im Vorfeld unterbunden. Um so wichtiger erachten wir es, dass diese Debatten öffentlich werden. Es ist die Aufgabe von Journalismus, zu fragen, wie Machtstrukturen an Institutionen funktionieren, die von Steuern oder Rundfunkgebühren mitfinanziert werden. Kulturjournalismus hat die Aufgabe, genau diese Machtfragen transparent zu machen – und BackstageClassical wird das auch weiterhin tun.
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Der Festspiel-Papst im Gespräch
Er hat in den Anfängen des Schleswig-Holstein Musik Festivals in Scheunen gestanden und Butterbrote für die Pausen gestrichen. Matthias von Hülsen ist der deutsche Festspiel-Papst: Nach Schleswig-Holstein und Mecklenburg hat er vor 10 Jahren auch ein Jugend-Festival in Polen gegründet. Ich habe mich für den Podcast von BackstageClassical »Guten Morgen…« mit von Hülsen über die Bedeutung der Musik im Leben der Menschen unterhalten. Eine seiner Überzeugungen: »Das Entsetzliche ist, dass unser Gemeinwesen zum großen Teil einfach nur noch verantwortungslos vor sich hin dümpelt. Diese Verantwortungslosigkeit schleicht sich wie eine Krankheit ein. Sie muss bekämpft werden. Das ist Demokratie! Nur wenn alle Menschen begreifen, dass sie gefordert sind – jeder auf seine Weise – wird die Demokratie bewahrt werden. Demokratie ist letztlich nichts anderes als die Gemeinschaft von uns Einzelnen im Wir.«
Die spannenden Podcasts bei BackstageClassical
- Die neue Sehnsucht nach Schönheit: Leipzigs Intendant Tobias Wolff
- Eine Sendung zum Leben und Werk von Arnold Schönberg
- Die Dirigentin Marie Jacquot über ihre Arbeit und die Zukunft des WDR-Orchesters
- Christine Eichel über das Leben von Clara Schumann
- Lisa Batiashvili und Alondra de la Parra über Musik und Politik
Ist die Friedensbotschaft müde geworden?
Wie glaubhaft ist es eigentlich, wenn ein Musiker an einem Abend für die Krebshilfe, am anderen für schulische Bildung und am nächsten für Frieden in Nahost auf der Bühne steht? Klar: Soziale Verantwortung ist wichtig. Aber gibt es inzwischen auch eine Art Wohltätigkeits-Tourismus in der Klassik? Wann hilft das Engagement den betroffenen Menschen, wann eher den Künstlerinnen und Künstlern? Antonia Munding ist dieser Frage anhand des Nahostkonflikts für BackstageClassical nachgegangen. Ihre Reportage fragt danach, warum nicht nur Daniel Barenboim, sondern auch die Botschaft des West-Eastern Divan Orchestra so müde geworden ist, und was das Galilee Chamber Orchestra von Saleem Ashkar, das seine Deutschland-Tour absagen musste, anders macht. Prädikat: Sehr lesenswert!
Russia today
Der von Hans-Joachim Frey organisierte Petrovsky Ball in St. Petersburg war eine große Propaganda-Veranstaltung für den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Mit dabei unter anderem Valery Gergiev und Alexander Malkevich, ein Propagandist aus der Prigoshin-Ecke, der auf der EU-Sanktionsliste steht. Malkevich würdigte die Veteranen des Ukrainekriegs: »Wir alle müssen verstehen, dass unser friedliches Leben und solch wundervolle Bälle ohne Sieg unmöglich sein werden. Für all das müssen wir härter arbeiten.« Brisant: Im November will Frey einen Opernball in Dubai organisieren. Hier wird neben Sonya Yoncheva auch Plácido Domingo angekündigt – auf BackstageClassical-Anfrage, ob Domingo wirklich in Dubai auftritt, kam keine Antwort.
Personalien der Woche
Das Hickhack an der Kölner Oper kennt kein Ende: Die Sanierung am Offenbachplatz verzögert sich erneut, was die Parteien im Kölner Rat zu einer Reaktion veranlasst hat. Für die nächste Sitzung des Betriebsausschusses am 17. September ist eine Aktuelle Stunde beantragt worden. Zuvor wurde bekannt gegeben, dass sich die Fertigstellung der Oper um mindestens ein weiteres Jahr verzögern wird, zudem steigen die bisherigen Baukosten von 730 Millionen Euro auf nunmehr 798 Millionen Euro. +++ Der Dirigent Teodor Currentzis hat sein eigenes Aufnahme-Label Theta bei Outhere Music gegründet. Den Auftakt soll eine Bruckner-Einspielung mit Utopia machen. Mit Currentzis Russland-Verbindungen scheint Outhere Music-Direktor Charles Adriaenssen keine Probleme zu haben. Er sagt: »Als er mich bat, mit ihm bei diesem neuen musikalischen Abenteuer zusammenzuarbeiten, stimmte ich zu, weil ich es für wichtig erachtete, einem der interessantesten Musikvisionäre unserer Zeit eine Stimme zu geben.«
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Auch wenn in diesem Newsletter viel über Orchesterprobleme geschrieben wurde – die Wiener Symphoniker genießen gerade ihren Honeymoon mit dem neuen Chefdirigenten Petr Popelka. Im Gespräch sagt der ehemalige Kontrabassist der Sächsischen Staatskapelle: »Die Gefahr ist groß, dass die Musik für Musikerinnen und Musiker, die fast jeden Abend spielen, zur Routine wird – zum „Dienst“. (…) Als Musiker habe ich mir nichts mehr gewünscht, als inspiriert zu werden, als Ideen aufzunehmen und mit allen Kolleginnen und Kollegen ernsthaft an der bestmöglichen Interpretation zu arbeiten. (…) In meiner Arbeit mit den Wiener Symphonikern habe ich genau diese Neugier im Orchester gespürt, den Spaß an der gemeinsamen ‚Geburt‘ von Musik, an diesen Momenten, wenn alle merken: ‚Jetzt passiert etwas!‘« Und was passiert! Am kommenden Freitag dirigiert Popelka die Gurre-Lieder im Wiener Musikverein.
Ach ja, und dann noch ein bisschen Eigenwerbung: Für die Bremer Philharmoniker habe ich gemeinsam mit Intendant Guido Gärtner ein neues Format entwickelt: Wigald Boning wird der erste Gast in der Reihe Playlist sein. Seine Musikwünsche aus Pop, Klassik und Jazz werden vom gesamten Orchester unter Chefdirigent Marko Letonja interpretiert – dazwischen plaudern wir über die Rolle dieser Stücke für den Soundtrack in Bonings Leben. Ich freue mich, wenn wir uns am 28. September im Tabakquartier sehen.
In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif
Ihr
Axel Brüggemann