Eine neue Biografie erklärt Clara Schumann als Pionierin: Vom Wunderkind zum Musik-Star, von der Working-Mom bis zur befreiten Frau. Ein exklusiver Vorabdruck und ein Podcast mit Christine Eichel.
In ihrer neuen Biografie Clara (Siedler Verlag) stellt Christine Eichel eine moderne Künstlerin im 19. Jahrhundert vor. Sie hat Rechte für sich erkämpft, die heute oft noch nicht selbstverständlich sind. Eine mitreißende Biografie, die das Bild Clara Schumanns anhand zahlreicher Quellen vollkommen neu beleuchtet. BackstageClassical bringt den exklusiven Vorabdruck dieses Werkes und ein ausführliches Gespräch mit Christine Eichel über Clara als Musikerin, Ehefrau und Mensch (hier bei ApplePodcast, für alle Player, unten bei Spotify).
Clara – ein Vorabdruck
So fühlt es sich also an, wenn der größte Wunsch in Erfüllung geht. Niederschmetternd, ja beängstigend. Schon ein flüchtiger Blick in den Spiegel verrät der frisch verheirateten Clara Schumann, welches Los ihr beschieden ist: ein Leben als jenes brave Hausmütterchen, das sie nie sein wollte. Bis vor kurzem hat sie ihr Publikum in dekolletierten weißen Seidenkleidern begeistert, jetzt muss sie auf Geheiß des Gatten hochgeschlossene dunkle Kleider und ein sittsames Häubchen tragen. Von der strahlenden jungen Frau, die am Flügel die Welt erobern wollte, ist kaum noch etwas zu ahnen.
Das hatte sie sich ganz anders vorgestellt. In den Blütenträumen ihrer Mädchenjahre war Robert ihr schwärmerisch überhöhter Held gewesen, bald darauf das Objekt einer nahezu obsessiven Leidenschaft. Kein wohltemperierter Charakter, dieser Robert, zugegeben. Eher ein unsteter Gesell, dem bürgerliche Konventionen herzlich egal sind. Gerade das, so schien es, machte ihn zum idealen Kandidaten für das romantische Projekt einer Künstlerehe. Für eine Beziehung auf Augenhöhe also, in der man sich gegenseitig respektiert und inspiriert.
Geliebt für ihre Musik
Umso schockierender ist die Erkenntnis, dass all die innigen Momente Seite an Seite am Klavier, die überschwänglichen Briefe, die himmelstürmenden Gefühle eine gefährliche Illusion erzeugt haben: Sie werde für das geliebt, was sie ist – eine gefeierte Pianistin und Komponistin mit großer Zukunft. Nichts da. Unversehens ist sie in eine Sackgasse geraten, gepflastert mit Selbstzweifeln, zunehmend mit Verzweiflung. Ein Jahr mindestens, so Roberts Diktum, soll sie auf Konzerte verzichten. Mittlerweile darf sie nicht einmal mehr Klavier üben, weil es den Gatten in der hellhörigen Wohnung beim Komponieren stört.
»Protect me from what I want«, diesen Stoßseufzer wird gut ein Jahrhundert später der Künstler Nam June Paik auf Blechschilder prägen. Auch in Claras Umfeld gab es durchaus warnende Stimmen. Allen voran ihr Vater wollte sie vor der Erfüllung ihres Herzenswunsches schützen, erst durch rigorose Kontaktsperren, schließlich vor Gericht. Vergebens. Nahezu fanatisch haben Clara und Robert für diese Ehe gekämpft, doch es gibt Siege, die von Niederlagen kaum zu unterscheiden sind. Nun ist sie verheiratet; gestrandet, besser gesagt, im ersten Stock eines repräsentativen Gebäudes an der Leipziger Inselstraße. Dort hat sich das Paar eine Wohnung eingerichtet, in der Clara »so ganz glücklich« ist, wie sie tapfer behauptet.
War die Ehe ein Fehler?
In Wahrheit empfindet sie das neue Domizil als Gefängnis. Zwar lebt sie hier recht komfortabel, künstlerisch aber ist sie obdachlos geworden. Wie anders sollte man es nennen, wenn eine erfolgreiche Virtuosin nicht mehr öffentlich auftreten darf? Ihr gesamtes bisheriges Leben hat Clara abwechselnd im Maschinenraum pianistischer Exerzitien und im Rampenlicht der Konzertpodien zugebracht, nun ist sie zur Untätigkeit verdammt.
War die Ehe womöglich ein verhängnisvoller Fehler? In den ersten Wochen nach der Hochzeit zieht Clara eine bittere Bilanz: Alles, was sie sich aufgebaut hat, zerrinnt ihr buchstäblich zwischen den Fingern. Da ihr die gewohnten Übungsstunden fehlen, hapert es an der Geläufigkeit, und selbst wenn sie privat etwas vorspielt, vergeht sie vor Angst. Auch Roberts Dauerkritik an ihren pianistischen Fähigkeiten setzt ihr zu. Mal ist ihm ihr Klavierspiel zu mechanisch, dann wieder zu kokett, und zum Komponieren ermuntert er sie womöglich nur noch, weil es eine häusliche Betätigung ist.
Am schlimmsten aber quält sie das Auftrittsverbot. Die Anerkennung des Publikums ist identitätsstiftend für Clara, nur im aufbrandenden Applaus fühlt sie sich wertvoll. Was bleibt denn noch von ihr übrig, wenn sie nicht mehr als Pianistin glänzen darf? Wenig, viel zu wenig, wie sie fürchtet. Grund zum Zweifeln liefert ihr Robert ja auch mehr als genug.
Ohnehin weiß Clara nie, woran sie bei ihm ist. Mal heiter und aufgeräumt, dann wieder schwermütig und von allerlei körperlichen Beschwerden geplagt – wie damit umgehen? Natürlich wusste sie vor der Eheschließung, dass die tiefschwarzen Abgründe genauso zu Robert gehören wie seine euphorischen Höhenflüge. Jetzt wird ihr allerdings klar, wie fatal die emotionale Abhängigkeit von einem Mann ist, dessen Labilität sich zunehmend auf sie überträgt. Hat sie etwa gehofft, ihn durch das Zusammenleben therapieren zu können? Will er überhaupt therapiert werden?
»Wenn Du mich Kind nennst – irrst Du«
Zu viel Glück sei auch nicht gut, hat er ihr einmal geschrieben. Im Übrigen definiert er das eheliche Glück reichlich unromantisch mit den Begriffen »Fleiß, Sparsamkeit und Treue«. Was im Umkehrschluss heißt: Er will Clara auf ein Hausfrauendasein verpflichten, in dem das Künstlerische nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Wenn überhaupt. Früher hat er ihr Kompositionen gewidmet, jetzt schenkt er ihr ein Kochbuch. Und die Musik? Jene Kunst also, die sie so intensiv verbindet, seit Clara im Kindesalter dem neun Jahre älteren Robert begegnete?
Sollen ihre herausragenden Talente etwa nur noch das Accessoire einer kultivierten Gattin sein, nice to have, aber ohne die Perspektive einer professionellen Karriere? Und das nur, weil ihr Mann auf ehelichen Gehorsam pocht? Dass sie die »Herrschaft des Mannes« inakzeptabel findet, hat sie Robert lange vor der Heirat mitgeteilt. »Wenn du mich Kind nennst, das klingt so lieb, aber wenn du mich Kind denkst, dann trete ich auf und sage: Du irrst!«
Die Zähmung der Widerspenstigen
Gerade mal achtzehn Jahre war sie alt und längst eine arrivierte Pianistin, als sie gegen seine paternalistische Verniedlichung auf- begehrte. Der Brief ist umso bemerkenswerter, als er aus dem Jahr 1837 datiert. Ohne nennenswerte weibliche Vorbilder und gut fünfzig Jahre bevor Emmeline Pankhurst die Suffragettenbewegung gründet, wollte sich Clara nicht mehr von außen definieren – und kleinhalten – lassen. Doch offensichtlich hat Robert ihre Forderungen planvoll überhört; oder als Flausen abgetan, die man der kapriziösen jungen Dame schon noch austreiben wird.
Frei nach Ernst Bloch wäre Clara so gern ins Gelingen verliebt, fühlt sich zum Gelingen jedoch geradezu verpflichtet. Wenn man so lange für eine Ehe gekämpft hat, darf sie nicht scheitern. Allein ihrer Besorgnis um den ehelichen Frieden ist es deshalb geschuldet, dass sie sich Roberts Willen fügt und vorerst auf eine Fortsetzung ihrer pianistischen Laufbahn verzichtet.
Letztlich ergeht es Clara Schumann nicht besser als ihren vielen Geschlechtsgenossinnen des neunzehnten Jahrhunderts, die unter dem Radar des öffentlichen Musiklebens bleiben müssen, ganz gleich wie außerordentlich ihre künstlerischen Leistungen sein mögen. Irgendwann stoßen sie an die Grenzen limitierender Rollenerwartungen. Auch Robert will von Claras pianistischen Ambitionen nichts wissen. Ab und an erteilt sie jetzt den Damen des Leipziger Bürgertums Klavierunterricht. Für zwei Taler pro Stunde, eine lächerliche Summe, verglichen mit ihren früheren Konzerthonoraren.
Der Lohn ihres Gehorsams fällt noch kläglicher aus. »Mein Weib ist die Liebe, Gefälligkeit und Anspruchslosigkeit selbst«, resümiert Robert, als lobe er sich selbst für die gelungene Zähmung einer Widerspenstigen. Damit könnte diese Geschichte zu Ende sein. Eine Künstlerinnenbiografie mehr, die hoffnungsvoll beginnt und irgendwann versandet.
Eine Rose aus Stahl erblüht
Das Schicksal unzähliger Musikerinnen nicht nur des neun- zehnten Jahrhunderts ist Unsichtbarkeit, weil soziale Regeln und männliche Dominanz jegliche Entwicklungsperspektive unterbinden. Was folgt, ist das kollektive Vergessen. Es sei denn, man pfeift auf die Regeln.
1847 entsteht eine Portraitzeichnung des Malers Wilhelm Hensel, für die Clara ganz so posiert, wie es der Zeitgeschmack und nicht zuletzt ihr Ehemann verlangen: im züchtigen schwarzen Kleid mit weißem Spitzenkragen, das Haar halb unter dem notorischen Häubchen verborgen. Ihr gesenkter Blick schweift am Betrachter vorbei ins Nirgendwo, so als gezieme es sich nicht, direkten Augenkontakt aufzunehmen. Demütig wirkt sie, bescheiden, mit artig geneigtem Kopf und nur dezent angedeutetem Lächeln.
In Wahrheit ist eine Rose aus Stahl erblüht. Denn die Frau, die Wilhelm Hensel Modell sitzt, ähnelt nur noch entfernt der frisch verheirateten Clara. Sechseinhalb Ehejahre, vier Geburten und das beständige Ringen um eine eigenständige Künstlerexistenz liegen hinter ihr. Inzwischen ist sie wieder auf den großen Konzertpodien Europas zu Hause, unternimmt ausgedehnte Tourneen, spielt vor gekrönten Häuptern.
Was ist passiert? Wie konnte sie sich aus den ehelichen Zwängen befreien?
Ohne eisernen Willen und das sichere Gefühl, einer Berufung zu folgen, wäre das unmöglich gewesen. Nichts fällt ihr zu. Alles muss hart erarbeitet, ertrotzt, gegen Widerstände durchgesetzt werden. Dennoch geht sie unbeirrbar ihren Weg. Aus dem Fegefeuer der inneren Kämpfe und äußeren Hindernisse ist sie mit einer Erkenntnis hervorgegangen, die sich auf die paradoxe Formel bringen lässt: Man muss Opfer bringen, wenn man nicht selbst zum Opfer werden will.
Wer Clara wirklich war
Damit ist Clara Schumann eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die geschlechtsspezifische Beschränkungen weitgehend hinter sich lassen. In erster Linie betrachtet sie sich eben nicht als Frau, Gattin oder Mutter, sondern als Künstlerin. Das dazugehörige Credo formuliert sie in einem berühmt gewordenen Satz: »Die Ausübung der Kunst ist ja ein großer Teil meines Ichs, es ist mir die Luft, in der ich atme.« So deutlich haben wenige Zeitgenossinnen ihre Prioritäten formuliert – und ausgelebt.
Wer ist diese Vorkämpferin? Welche Bilder haben wir von ihr?
Vermutlich hat man sie als scheu lächelndes junges Mädchen auf dem Hundertmarkschein vor Augen, als romantische Ikone und talentierte Gattin im Windschatten eines wesentlich berühmteren Komponisten. Wer sie wirklich war, was sie wirklich geleistet hat, wird erst deutlich, wenn man die Frau hinter den Bildern entdeckt. Es ist an der Zeit, ihre Geschichte neu zu erzählen, befreit vom Firnis verklärender Lesarten. Nicht zuletzt deshalb, weil sie auch jenseits des historischen Kontextes eine überraschend moderne Frauenfigur ist, die heute sicherlich ähnlich anecken würde wie damals.
Superstar und Working Mom
Clara Schumanns Ringen um Autonomie, künstlerisch, menschlich, ökonomisch, steht für eine Neuverortung weiblicher Identität, die einzigartig ist im neunzehnten Jahrhundert. Lange bevor die Begriffe überhaupt erfunden wurden, erlebt sie als Working Mom die Herausforderungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, erkennt die Relevanz eines professionellen Karrieremanagements, betätigt sich im Networking, kämpft um ihre Work-Life-Balance.
Ihre Partnerschaftsprobleme muten ebenfalls verblüffend heutig an. Schon kurz nach der Heirat stellt sie fest, dass sie an einen beziehungsunfähigen Mann geraten ist, der sich zumeist in Schweigen hüllt, stundenlang hinter der verschlossenen Tür seines Arbeitszimmers verschwindet und seine Abende vorzugsweise im Wirtshaus verbringt. Ohne sie.
Von einer Unterstützung für ihre eigenen künstlerischen Belange kann keine Rede sein. Robert erwartet, dass sie ihm zu Diensten ist, und nimmt ihre eigenen Bedürfnisse gar nicht wahr. Zunehmend machen ihr auch seine depressiven Phasen zu schaffen, die sich im Laufe der Jahre zu einer schweren psychischen Erkrankung steigern. Parallel muss sie sich eingestehen, dass sie in eine toxische Beziehung geraten ist, in der die lange verschwiegene künstlerische Rivalität erst in passive, schließlich in offene Aggression umschlägt.
Queere Lebensaspekte
Nicht minder überraschen die queeren Aspekte ihres Lebens. Roberts »attische Nächte«, wie er seine Affinität zum eigenen Geschlecht antikisierend nennt, sind für eine Ehefrau nicht leicht zu verkraften. Bereits während der Verlobungszeit ist seine Bisexualität ein neuralgisches Thema für Clara. Später wird eine ihrer Töchter in einer lesbischen Beziehung leben, sogar fünf Jahre lang mit ihrer Geliebten in Claras Haus wohnen, eine Konstellation, die für einigen Konfliktstoff sorgt.
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Erfahrungen mit einer unkonventionellen Beziehung macht auch Clara selbst. Als Robert nach einem Selbstmordversuch seine Tage in der Endenicher Heilanstalt verdämmert, zieht der vier- zehn Jahre jüngere, noch weithin unbekannte Johannes Brahms bei ihr ein. Ein klassisches Downdating. Das Getuschel über diese ungewöhnliche Wohngemeinschaft kümmert Clara allerdings wenig. Fortan ist der junge Komponist ihr engster Freund, Lebensgefährte, Gehilfe, zuweilen auch Babysitter ihrer Kinder. Ein aparter Rollentausch.
Keine Kompromisse mehr mit Brahms
Die Frage, inwieweit handfest Erotisches eine Rolle spielte, ist weniger interessant als die Pointe dieser Episode: Clara nimmt sich, was sie braucht, hier in Gestalt eines sie verehrenden jungen Mannes, der sie in ihrem anstrengenden Alltag entlastet. Als die Sache irgendwann schwierig zu werden droht, löst sie die Wohngemeinschaft eben wieder auf und belässt es bei einer Freundschaft. Keine Kompromisse mehr.
Ohnehin wird sie sich nach der Befreiung vom gestrengen Übervater und vom problematischen Ehemann nie wieder auf einen Mann verlassen, weder auf einen festen Partner noch auf die Protektion eines Impresarios. Sie agiert als Businessfrau, eine Self Made Woman, die ihre Karriere selbst in die Hand nimmt. Nichts überlässt sie dem Zufall, stets behält sie die Kontrolle über ihr öffentliches Image, das sie mit inszenierten Portraits, später auch als Herausgeberin von Briefwechseln geschickt zu steuern weiß. Salopp gesagt, ist Clara Schumann die Lady Gaga des neunzehnten Jahrhunderts: eine selbstbestimmte Künstlerin, die ihren eigenen Mythos erschafft.
Die Fama des glücklichen Künstlerpaares
Dazu gehört wesentlich die Fama des glücklich liebenden Künstlerpaars, das durch Roberts frühen Tod tragisch auseinandergerissen wurde. Nur so kann Clara glaubhaft machen, es sei ihre höhere Mission, fortan das Erbe des Dahingeschiedenen in den Konzerthäusern dieser Welt lebendig zu halten. Ein geschickter Schachzug. Bis zuletzt tritt sie trauerumflort und ganz in Schwarz gekleidet auf die Bühne. Wenn ihr das Publikum dann schon vorab tief bewegt applaudiert, ist der Rest zumeist ein Kinderspiel.
Heute nennt man das Storytelling: Gib den Leuten eine emotional aufgeladene Geschichte voller Tragik und Drama, dann kannst du dir ihres Zuspruchs sicher sein. Diese Marketingstrategie funktionierte allerdings nur auf Basis des rührseligen Narrativs, sie und ihr Mann hätten bis zu seinem Tod die perfekte Ehe geführt. Was nicht der Fall war. Doch Clara wusste sich zu helfen. Planvoll veröffentlichte sie nur Briefe, die den Mythos befeuerten. Problematisches blieb in der Schublade.
Als süßliche Girlande rankt dieser klug ersonnene Mythos bis in die Gegenwart hinein. So urteilt der Herausgeber von Robert Schumanns Tagebüchern in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts, die Ehetagebücher seien ein »getreuer Spiegel eines im Ganzen glücklichen Zusammenseins mit der Gefährtin«.
Im Vorwort der 2007 erschienenen Ausgabe schreibt deren Herausgeber, die häusliche Zweisamkeit sei für das junge Paar »eine Quelle des Behagens und der Zufriedenheit« gewesen. Und noch 2019 betitelt eine Biografin das Kapitel über die ersten Ehejahre allen Ernstes mit der herzigen Zeile »Hochzeit und junges Glück«.
Regretting Motherhood
Clara Schumann hätte diese Art der Rezeption mit tiefer Befriedigung erfüllt. So wie sie auch die vielen Biografien gefreut hätten, die nach wie vor am Mythos eines Traumpaars der Romantik weben und Clara als tragische Heldin glorifizieren.
Was gern verschwiegen wird, sind die Schattenseiten dieser Erfolgsstory: die Entsagungen, die Einsamkeit, das ruhelose Leben einer Künstlerin, die Misserfolge und Zurückweisungen genauso kennt wie rauschende Erfolge. Auch eine gewisse Egozentrik wird man Clara Schumann kaum absprechen können, zuweilen sogar eine frappierende Kälte im Umgang mit ihrer Familie. Die stetig wachsende Kinderschar empfindet sie als Belastung, weshalb sie wahrscheinlich zwei Schwangerschaftsabbrüche herbeiführt. Wenn Dietrich Fischer-Dieskau Anfang der achtziger Jahre schreibt, achtmal sei im Hause der Schumanns die Geburt eines Kindes »freudig begrüßt« worden, so irrt er gewaltig.
Regretting motherhood, ein Begriff, der das lange tabuisierte Bedauern von Müttern benennt, Kinder in die Welt gesetzt zu haben, ist hier eher zutreffend – und unvermindert aktuell. Die Organisation einer adäquaten Kinderbetreuung, über die schon Clara Schumann nachdachte, stellt viele Frauen auch heute oft vor unlösbare Probleme. Hinzu kommt der gesellschaftliche Druck. Wenn Mütter bei beruflichen Terminen oder Geschäftsreisen immer noch gefragt werden, wer denn eigentlich beim Nachwuchs ausharrt, ist das nicht gerade ermutigend. Vermutlich sind weibliche Führungskräfte deshalb überwiegend kinderlos.
Inspirierend und irritierend
Auch Fischer-Dieskaus sentimentale Formulierung, dass Clara »ihren Mann mehr liebte als sich selbst«, kann man getrost vergessen. Nach dem Jammertal der ersten Ehejahre wird ihr klar, dass selbstlose Liebe eine Falle ist, der sie nur entkommt, wenn sie ihre eigenen Ziele in den Vordergrund rückt. So wie die Kinder empfindet sie auch Robert zunehmend als Belastung. Neben seiner Unzugänglichkeit und seinen psychischen Problemen macht Clara insbesondere die künstlerische Rivalität zu schaffen, die nach Roberts Willen zu seinen Gunsten entschieden werden soll – weshalb er anfangs versucht, sie auf ein Hausmütterchen zu reduzieren.
Claras Lösung heißt Loslösung. Zunehmend delegiert sie die familiären Pflichten, parkt die Kinder bei Familie, Freunden oder in Pensionaten, distanziert sich zuletzt auch von Robert. Nach sei- ner Einlieferung in eine Heilanstalt genießt sie ihre neue Freiheit und geht auf Englandtournee, um endlich international als Künstlerin durchzustarten.
Aber welche Biografie ist schon frei von Widersprüchen und Sollbruchstellen? Jenseits simpler Einordnungen, die Clara Schumann wahlweise als aufopferungsvolle Gefährtin oder rücksichtslose Karrieristin darstellen, lassen sich mit dem heutigen Blick neue Lesarten gewinnen. Anhand von Briefen, Tagebüchern und weiteren Quellen entsteht ein differenziertes Bild, mal inspirierend, mal irritierend, aber stets in Anerkennung der Tatsache, dass hier eine unerhört mutige Frau Pionierarbeit geleistet hat.
Imagebildung für den musikalischen Olymp
Kämpfen muss sie ein Leben lang. Und nicht immer gelingt der Balanceakt zwischen ihren vielen Rollen als Pianistin, Komponistin, Ehefrau, Mutter, Klavierpädagogin, Konzertveranstalterin, Herausgeberin, passionierte Briefeschreiberin. Sei’s drum. Für sie zählt nur, dass sie am Ende ihres Lebens auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte zurückblicken kann.
Mehr noch: Bis in die Gegenwart hinein hat sich ihr Name unauslöschlich ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt. Wer kennt heute noch eine Louise Farrenc, Sophie Menter, Marie Moke-Pleyel oder eine Augusta Holmès, die ihre Kompositionen unter dem Pseudonym Hermann Zenta veröffentlichte? Clara hingegen verstand es, sich mit bewundernswerter Hartnäckigkeit und ihrem ausgeprägten Sinn für öffentlichkeitswirksame Imagebildung einen Platz im musikalischen Olymp zu erobern.
Gerade die Ambition, sie unter dem Aspekt ihres Frauseins zu würdigen, führte in der Vergangenheit jedoch zu teils absonderlichen Kommentaren. So staunt ein Biograf, dass Clara sich »freispielte«, obwohl sie, der zeittypischen Mode folgend, ein Korsett trug: »Ihre ungeheure Kunstleistung muss auch unter diesem Aspekt beurteilt, bewundert werden.« Ein abstruses Kompliment.
Derselbe Biograf macht sich auch Gedanken darüber, welchen Einfluss Claras Hormonstatus auf die Komposition ihres g-Moll- Klaviertrios op. 17 gehabt haben könnte. Es entsteht einige Monate nachdem sie im Februar 1846 ihr viertes Kind zu Welt gebracht hat. »Hätte das Trio seinen hohen Rang auch dann erhalten, wenn Clara bereits im März mit der Arbeit begonnen hätte?«, räsoniert der Autor. »Hätte zu dieser Zeit das Hormonprogramm des Körpers noch einwirken können auf das Werk?«
Musik als Grundlage der Befreiung
Seine unsäglichen Überlegungen krönt er mit der Frage, »ob ihr Körper beim Komponieren mitformulieren konnte, sedierend oder stimulierend«.12 Unvorstellbar, dass solche Spekulationen über Männer angestellt würden, die ja ebenfalls gewissen hormonellen Schwankungen unterliegen sollen, wie man hört. Der mehr oder weniger subtile Sexismus, mit dem immer noch über Frauen geschrieben wird, ist nicht nur enervierend, er kann auch wenig zu einem authentischen Portrait beitragen, geschweige denn, dass solche Einlassungen der enormen Lebensleistung Clara Schumanns gerecht werden. Wesentlich spannender für heutige Leserinnen und Leser ist da schon die Frage, woher die Unerschrockenheit rührt, mit der sie sich über Regeln und Konventionen hinwegsetzt.
Bei Clara wird die Musik zum Transmissionsriemen der Befreiung. Von frühester Kindheit an ist es für sie selbstverständlich, sich in dieser Welt zu bewegen, dennoch muss sie als erwachsene Frau ihren Status als Berufsmusikerin immer wieder verteidigen. Von einer Ehefrau und Mutter erwartet man halt, dass sie sich in die häusliche Sphäre zurückzieht. Doch der stetig surrende Motor der Motivation und die Befriedigung, die sie aus ihrer Kunst zieht, sind stärker als alle Genderstereotype. Nicht zuletzt geht es um finanzielle Unabhängigkeit, eine unerlässliche Voraussetzung, um eigene Entscheidungen treffen zu können.
So überwindet sie gängige weibliche Leitbilder – auch heute noch eine der Grundbedingungen, wenn sich Frauen in einer klassischen Männerdomäne durchsetzen wollen. Das wurde zu ihrer Zeit durchaus registriert. Und nicht nur im positiven Sinne.
Ein neuer Blick auf Clara
Bezeichnend ist das Urteil eines Zeitgenossen, der nach einem Konzert unkte: »Im Klavierspiel erwies sie sich als eine große Künstlerin mit männlicher Energie und weiblichem Instinkt … Man konnte sie jedoch kaum als eine graziöse und sympathische Frau bezeichnen.«13 Solche Verbalinjurien nahm Clara Schumann gelassen hin. Schon ihr Vater hatte moniert, es fehle ihr an »Coquetterie«, also am Talent, mit dem Publikum zu flirten und sich als begehrenswertes Weibchen zu präsentieren.
Doch Clara ließ sich nicht verbiegen. Nur für ihr öffentlich verbreitetes Bild, das sie mit hübschen Portraits zu prägen wusste, brauchte sie ein dezidiert feminines Image. Der Ruf einer selbstbewussten Managerin oder gar eines Mannweibs hätte da nur geschadet. In der Aufmerksamkeitsökonomie des Konzertwesens war das Frausein nun mal ihr bester Trumpf, weil ihm etwas Außergewöhnliches, geradezu Sensationelles anhaftete. Auf der Bühne aber scherte sie sich nicht darum, ob sie als salonkompatibles Frauenzimmer wahrgenommen wurde. Da war sie einfach Pianistin und Komponistin, eine kompromisslose Künstlerin.
Leben als Lehrstück
Ihr Leben ist ein Lehrstück über die Bedingungen, unter denen weibliche Selbstverwirklichung gelingen kann. Emanzipation ereignet sich nicht im luftleeren Raum. Ob Kunst, Wissenschaft oder Politik: Mutige Frauen, die ihrer Zeit voraus sind, treffen wir überall dort an, wo ein Lebensthema entdeckt und mit aller Konsequenz verfolgt wird. Weder eine Clara Schumann, eine Marie Curie noch eine Rosa Luxemburg verwirklichten ein diffuses »Selbst«. Sie brannten für ihre Sache. Das verlieh ihnen die Energie, emanzipatorische Impulse auch wirklich umzusetzen.
Schon allein unter diesem Aspekt ist die Wiederentdeckung Clara Schumanns überfällig. Ihr ungewöhnlicher Lebensweg ist jedoch nicht nur faszinierend im Hinblick auf das Erreichte, er zeigt auch, welche Fallstricke lauern, wenn Frau mehr will als das sozial Probate. Wahrhaft inspirierende Erfolgsgeschichten verlaufen niemals linear.
Sie kennen auch Enttäuschungen, Rückschläge, Sinnkrisen. Gerade die dunklen Phasen machen diese Biografie so aufschlussreich. Mit enormer Willenskraft und der Überzeugung, im Beruf ihre Erfüllung zu finden, konnte sich Clara Schumann immer wieder aus belastenden Situationen befreien. Sonst wäre sie das deprimierte Hausmütterchen geblieben, das zu Beginn ihrer Ehe schrieb: »Wenn ich auch wirklich durch meine Kunst befriedigte, so fehlt meiner Persönlichkeit alles, was dazugehört, Glück in der Welt zu machen«.
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