Wie der Krieg die gute Botschaft müde macht

September 4, 2024
7 mins read
Die Initialzündung: Das Konzert des West-Eastern Divan Orchestra in Ramallah (Foto: BSA)

Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra wirkte ausgelaugt auf seiner letzten Tournee, und das Galilee Chamber Orchestra musste seine Auftritte absagen. Wie der Krieg in Nahost die Friedensbotschaft der Musik verändert. Eine Reportage.

Daniel Barenboim wirkte kraftlos wie lange nicht mehr, als er sein West-Eastern Divan Orchestra (WEDO) auf der Jubiläumstournee zum 25jährigen Bestehen anführte. Das ist kein Wunder angesichts der desaströsen Lage in Nahost. In seiner derzeitigen Eskalation scheint der Konflikt, der die Orchestergründung einst motivierte, vollkommen unlösbar. Seit seinen Anfängen beschwört das West-Eastern Divan Orchestra  die einzigartige, große Idee von Solidarität und Humanität, an der es auch jetzt – trotz allem – festhält. Und dennoch wirkt manches an diesem Orchester inzwischen müde und erschöpft. 

Unvergessen sind Daniel Barenboims Worte 2005 in Ramallah, mit denen er das Publikum gewonnen hatte, noch bevor der erste Funke aus Beethovens »Schicksalssymphonie« zündete. Den Frieden, betonte Barenboim damals, könne das gemeinsame Musizieren nicht herstellen, Musik sei aber imstande, ein gegenseitiges Verständnis zu kreieren. Und sie fördere die Voraussetzungen: Geduld, Mut, vor allem aber die Neugierde auf die Geschichte des jeweils anderen. 

Anne Sophie Mutter und Daniel Barenboim auf Tournee (Foto: Salzburger Festspiele, Borelli)

Was ist aus dieser Neugierde inzwischen geworden? Und was hat das West-Eastern Divan Orchestra in Anbetracht der wohl dramatischsten Zuspitzung des Konflikts seit Jahrzehnten noch zu sagen? 

Fehlende Worte

In Salzburg verzichtete Barenboim diesen Sommer aus gesundheitlichen Gründen auf eines der musikalischen Highlights, dirigierte anstelle von Schönbergs Pélleas et Mélisande Schuberts große C-Dur Symphonie – eher solide als ergreifend. Nach dem letzten Konzert in Luzern schrieben Kritiker über beklemmend langsame Tempi, die Beethovens revolutionären Geist in Hoffnungslosigkeit hüllten.

Vor allem aber hatte Barenboim seine Worte ans Publikum der Solistin Anne Sophie Mutter überlassen. Die sprach von der »Hoffnung auf einen baldigen und langfristigen Frieden«, bevor sie wieder zur Geige griff, um als Zugabe Bachs Sarabande aus der Partita für Violine d-Moll zu spielen. Angeblich wunderten sich auch einige Musikerinnen und Musiker des Orchesters, warum ausgerechnet Mutter mit ihnen auf Tour gegangen war. Was wird aus dem Bekenntnis zu Freiheit und Menschlichkeit in Nahost, wenn es eher pauschal und von einer Gastkünstlerin formuliert wird, deren Biografie und künstlerisches Schaffen sich nie mit diesem Konflikt überschnitten haben? Natürlich ist Mutter erschüttert über die Entwicklung – wie so ziemlich jeder Mensch, der Nachrichten schaut. Aber sitzen hinter ihr im Orchester nicht die eigentlich betroffenen Menschen? 

Zu viel Routine?

Kann es sein, dass zu viel Routine eingekehrt ist in die musikalischen Friedens-und Freiheits-Appelle? Ein Orchester kann und darf nicht zur moralischen Institution erstarren, sondern bleibt nur aussage- und ausdrucksstark, wenn es weiterhin Neugierde weckt, das Interesse an einem komplexen Hören und damit das Ringen um Balance, um die Zwischentöne. 

Spätestens seit seinem Ramallah-Konzert wird das West-Eastern Divan Orchestra gern als mustergültiges Beispiel angeführt, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Nahost Konflikt geht. Auf Ramallah folgten weitere Auftritte in Ländern des Nahen Osten. Konzerte in Doha und Abu Dhabi wurden auch deshalb zu beflügelnden Beispielen einer gelebten Utopie, weil sie an Brennpunkten des Konflikts oder in dessen unmittelbarer Nähe stattfanden. Nur in Israel konnte das West-Eastern Divan Orchestra aus Sicherheitsgründen (und auf Grund der israelischen Skepsis gegenüber palästinensischen Musikerinnen und Musikern) bislang noch immer nicht auftreten. Dafür ist es gern gesehener Gast auf europäischen Festivals von Luzern bis Salzburg – auch als lukrativer Friedensbringer.

Anzeige

Beinahe reflexartig ist das West-Eastern Divan Orchestra im Laufe der Jahre zum künstlerischen Gewissen Deutschlands (und eines großen Teils Europas) avanciert. Damit liegt viel Verantwortung auf den Schultern der jungen Musikerinnen und Musiker. Doch dass selbst die exzellenteste musikalische Ausbildung nicht zwangsläufig Friedens-und Debattier-Experten hervorbringt, konnte man zuletzt aus verstörenden social media Posts einiger Studierender der Barenboim/Said-Akademie in Berlin herauslesen. Und klar: Das Massaker, das die Hamas am 7. Oktober in Israel verübte, die Verschleppung der Geiseln und der seitdem immer blutiger geführte Krieg mit zehntausenden palästinensischen Opfern rüttelt auch am Selbstverständnis des West-Eastern Divan Orchestra.

Mehr zum Nahostkonflikt bei BackstageClassical

Als einziger israelischer Künstler, der zugleich die palästinensische Staatsbürgerschaft besitzt, hat Barenboim der Botschaft nach Menschlichkeit, Solidarität, und Freiheit bislang eine besondere Glaubwürdigkeit verliehen. Eine Freiheit, die in der Überzeugung, wurzelt, dass es keine militärische Lösung geben kann, auch weil die Geschichte der Palästinenser und Israelis untrennbar miteinander verbunden ist. All das hat der Dirigent regelmäßig nicht nur in Talkshows, sondern auch an wichtigen politischer Stellen mit brillanter Rhetorik klargemacht.

Heute stellt sich allerdings die Frage, ob die pure Musik, so wie sie auf der letzten Tour des Orchesters gegeben wurde, adäquate Antworten bietet. Oder ob erklärende Worte, wie Barenboim sie einst prägte, nicht wichtiger sind als je zuvor. Nicht nur als Online-Statement oder im Programmheft. Sondern direkt gesprochen und adressiert an das Publikum – an die Welt. Gerade, weil Musik nicht nur in der Lage ist, die unterschiedlichsten Menschen miteinander zu verbinden, sondern auch für den despotisch-verzerrten Gegenpart missbraucht werden kann. 

Doku der Deutschen Welle über das West-Eastern Divan Orchestra

Die große Medien-Aufmerksamkeit für die Konzerte des West-Eastern Divan Orchestra hat im letzten Monat eine kurze dpa-Meldung überschattet, die von der Absage eines anderen besonderen Orchesters berichtete: Nur einen Tag vor seinen geplanten Auftritten vom 9. bis 13. August in Brandenburg, Berlin und Amsterdam, hat das israelische Galilee Chamber Orchestra seine Konzerte aufgrund von Sicherheitsbedenken abgesagt. Iran und Hisbollah hatten kurz zuvor neue Angriffe auf Israel angekündigt. Seit 12 Jahren bespielt das Galilee Chamber Orchestra mit 17 jüdischen und 17 arabischen Musikerinnen und Musikern verschiedene Orte in Israel – vor allem auch die Dörfer an den Grenzen zu Gaza und zum Westjordanland. 

Die Alternative: Das Galilee Chamber Orchestra

Für die Proben pendeln die Orchestermitglieder täglich zwischen Tel Aviv und Nazareth – in Sichtweite zu den militärischen Auseinandersetzungen. Ebenso wie das West-Eastern Divan Orchestra will das Galilee Chamber Orchestra mit klassischer Musik eine andere, friedvolle Realität zwischen jüdischen und arabischen jungen Menschen schaffen  – und beruft sich dabei auf den Freiheitsbegriff Beethovens. 

Nach dem 7. Oktober 2023 war auf der Website des Orchesters zu lesen, dass man die Arbeit bereits am 9. Oktober wieder aufgenommen habe. Schweigen sei keine Option, wenn die Gegenwart ihre Menschlichkeit verrate. Auch weil man trotz Ohnmachtsgefühlen zeigen wolle, dass sich die Musik des Galilee Chamber Orchestra nicht in symbolischen Gesten erschöpfe, sondern das Ergebnis einer alltäglichen Arbeit sei, die nicht aus Rache und Wut bestünde. Noch im Dezember 2023 spielte es in der Salesianer-Kirche in Nazareth Pergolesis Stabat Mater – vor israelischen Arabern und Juden. Dass es nun seine Europa-Konzertreise absagen musste, ist ein harter Schlag für dieses mutige Orchester, aber auch für das europäische, insbesondere das deutsche Publikum, dessen künstlerischer Fokus auf den Nah-Ost-Konflikt sehr eng geworden ist.

Das Galilee Chamber Orchestra ist vor Ort im Nahen Osten (Foto: GCO)

Entstanden ist das Galilee Chamber Orchestra 2012 als Exzellenz-Ableger des Education Programms polyphony. Auf der Grundlage klassischer Musik versucht man in verschiedensten Bildungsprogrammen die Kluft zwischen der jüdischen und arabischen Community in Israel zu überbrücken. Polyphony wurde 2006 von Nabeel Abboud Ashkar in Nazareth gegründet. Ashkar gehört zur christlich-arabischen Minderheit Israels,  studierte unter anderem Geige an der Hochschule für Musik und Theater Rostock und zählte neben Michael Barenboim zu einer der ersten Stamm-Besetzungen des West-Eastern Divan Orchestra. Sein Bruder Saleem Ashkar, international gefeierter Pianist, übernahm 2012 die künstlerische Leitung des Galilee Chamber Orchestra, das penibel darauf achtet, immer mit derselben Anzahl arabischer und jüdischer Musiker:innen zu spielen. 

Für seine Europa Tournee im August hatte das Ensemble neben Beethoven und Mendelssohn auch die Uraufführung Nocturnal Whispers des israelisch-arabischen Komponisten Nizar Elkhater geplant – er stellt in seinem Werk die Welt westlicher Klassik arabischen Musik-Formen gegenüber.

Im Rahmen dieses Textes wurden die künstlerischen Leiter von polyphony und Galilee Chamber Orchestra mehrfach angefragt – aber sie wollten sich zur aktuellen Situation nicht äußern. Warum, das lässt sich nur mutmaßen. Die Unterstützung für ein Orchester dieser Form dürfte mit einer in Teilen rechtsextremen israelischen Regierung immer schwieriger werden. Galilee und polyphony hängen von Förderungen ab, um die existentiell wichtige Arbeit mit den Musikerinnen und Musikern vor Ort zu sichern.

Barenboim spricht zu den Musikern

Nach der letzten Probe auf der Tournee des West-Eastern Divan Orchestra soll Daniel Barenboim kurz zum Orchester gesprochen haben. Mit leiser Stimme. Er hat seinen jungen Musikerinnen und Musikern wohl gesagt, dass die aktuelle Situation fürchterlich sei, und wie wichtig es wäre, dass sie gemeinsam musizieren – jetzt und später. Dann verließ er die Bühne. 

Während man sich fragt, wie es mit dem West-Eastern Divan Orchestra ohne Daniel Barenboim weiter gehen kann (sein Sohn Michael Barenboim scheint für viele bereits der sichere Nachfolger), lohnt der Blick über die westeuropäischen Konzertsäle hinaus nach Nazareth – wo Musikerinnen und Musiker des Galilee Chamber Orchestra seit zwölf Jahren Beethovens Humanismus verbreiten. Genau dort, wo das West-Eastern Divan Orchestra noch nicht gespielt hat, speziell auch an den Grenzgebieten zu Gaza und dem Westjordanland. Dabei spielen sie nicht nur auf vergleichbar hohem Niveau, sondern beleuchten das klassisch-romantische Repertoire auch in ungewohnten Perspektiven – indem sie es mit Werken arabisch-israelischer Komponisten wie Nizar elkhaters Nocturnal whispers verbinden.  

Die Idee, Menschen durch die Musik über alle Grenzen hinweg zu verbinden, lebt das Galilee Chamber Orchestra derzeit wie kein anderes künstlerisches Kollektiv. In seinem Ringen um die tägliche Probenarbeit zwischen Nazareth und Tel Aviv zeigt es, dass die Gefährdung dieser Idee, ihre Zerbrechlichkeit zugleich auch ihr Motor ist. Und genau deshalb wünschte man sich von einem solchen Orchester umfassend zu hören – nicht nur die über alle Grenzen erhabene Musik, sondern auch begleitende Worte und Diskussionen. 2025 möchte das Galilee Chamber Orchestra die abgesagte Europa-Tour nachholen. Hoffentlich kommt es auch dazu.

Antonia Munding

Antonia Munding studierte klassischen Gesang, Musikwissenschaft, Germanistik und Journalismus. Sie war als Sängerin an verschiedenen Bühnen engagiert und arbeitete als Nachrichtenredakteurin. Als freie Autorin veröffentlicht sie unter anderem bei den Frankfurter Heften, Deutschlandfunk Kultur und der Freitag.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Malkovich gibt Celibidache

Der Film »Die gelbe Krawatte« über den Dirigenten Sergiu Celibidache mit John Malkovich ist abgedreht – noch ist nicht klar, wann er erscheint.

Gheorghius neuer Tosca-Skandal

Angela Gheorghiu unterbrach die Zugabe eines Tenors in Korea. Nun entschuldigt sie sich beim Publikum. Ein Video zeigt den Buhsturm für die Sängerin.

Kassel feuert Verwaltungsdirektor

Kassels Verwaltungsdirektor Dieter Ripberger war erst im Februar aus Tübingen gekommen – nun wehrt er sich gegen seien Rauswurf. Er bekommt Rückendeckung von Intendant Florian Lutz und dem Ensemble.

Kaufmanns Erl kuschelt mit Currentzis

Teodor Currentzis wird in Erl sein neues UTOPIA-Programm erarbeiten, dafür lädt das Festspielhaus »ausgewählte Gäste« zu einem »nicht öffentlichen Konzert«.

Happy Birthday, Arnold!

Heute feiert Arnold Schönberg 150. Geburtstag. BackstageClassical blickt auf seine jüdischen Einflüsse und thematisiert sein Leben in einem Podcast.

Don't Miss