Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit erneutem Rumoren im SWR-Orchesterbauch, nervigen Lamenti von unisono und Deutschem Musikrat und einem bewegenden Gespräch über Emigration, Donald Trump und den Nahen Osten.
»Ein Sieg Trumps wäre fatal«
Es ist okay, wenn Sie flüchtig durch diesen Newsletter fliegen und schnell scrollen. Aber dieses Gespräch sollten Sie sich unbedingt ansehen oder zumindest auf Wiedervorlage legen: W. Michael Blumenthal ist 98 Jahre alt, er emigrierte 1938 aus Berlin nach Shanghai, beriet John F. Kennedy, wurde Finanzminister von Jimmy Carter und war Gründungsdirektor des Jüdischen Museums in Berlin. Anlässlich der europäischen Erstaufführung des Oratorium Emigré von Aaron Zigman beim DSO habe ich mich mit ihm über die aktuelle Migrationspolitik, den US-Wahlkampf, die Situation in Israel und die Bedeutung der Musik für eine Gesellschaft unterhalten. »Ein Sieg Trumps wäre fatal«, sagt Blumenthal über den Politiker, der auf seinen Wahlkampf-Veranstaltungen neuerdings das Ave Maria mit Luciano Pavarotti spielen lässt. Für mich persönlich stellt sich danach die Frage: Sind wir noch in der Lage aus der Geschichte zu lernen? Mein Lese- und Hör-Tipp der Woche!
Roth bei Orchesterversammlung des SWR
Was für eine Atmosphäre muss beim SWR herrschen? Programmdirektorin Anke Mai verschickt inzwischen Mails, in denen sie Musikerinnen und Musikern mit empfindlichen juristischen Strafen droht, wenn diese außerhalb des Senders über den internen Umgang mit der Causa François-Xavier Roth sprechen. Doch das Arbeitsklima scheint bereits derart vergiftet, dass einige SWR-Mitarbeiter keine andere Chance mehr sehen, als sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Sie misstrauen dem Umgang mit ihren Bedenken durch Mai und Orchesterleiterin Sabrina Haane. Bei einer Orchesterversammlung soll Intendant Kai Gniffke sein Missfallen über Roths früheres Verhalten erklärt haben. In einer zweiten Versammlung empfanden einige Orchestermitglieder Roths Antwort auf die Frage, ob es auch in seiner Freiburger Zeit zwischen 2010 und 2015 bereits zu ähnlichen Vorfällen (anzüglichen Textnachrichten) gekommen sei, als »unwirsch und ausweichend«. Auf Anfrage von BackstageClassical will der SWR die Situation Mal wieder nicht kommentieren. Doch nach Veröffentlichung unseres aktuellen Textes erreichten uns von verschiedenen Seiten weitere Details über den Hergang der Orchesterversammlung, denen wir gewissenhaft nachgehen. Das Publikum hat Haane nach der Ankündigung, mit Roth in die Zukunft zu gehen bereits ausgebuht, das Orchester ist gespalten – wie will der SWR diesen Weg weitergehen?
Personalien der Woche I
Ein Kasten Bier, einige betrunkene Mitarbeiter und sexuelle Pöbeleien haben eine Probe in Halle gestört – nun geht die Diskriminierungsstelle der Sache nach. +++ Das Berliner Konzert von Teodor Currentzis verkauft sich schleppend. Die Konzertdirektion Adler half mit einer Facebook-Kampagne nach, aber unliebsame Kommentare verschwanden. Wir haben Mal versucht, nachzufragen, was da los war. +++ Die Wiener Philharmoniker werden zum Neujahrskonzert 2025 das Johann Strauß-Jahr einläuten und gemeinsam mit Riccardo Muti auch eine Komposition der Strauß-Zeitgenossin Constanze Geiger aufführen. Was am Pult noch nicht gelang, passiert nun wenigstens im Programm: Heureka, eine Frau! Hier das gesamte Programm. +++ Die Sanierung des Nationaltheaters Weimar wird sich erneut verzögern. Im Umbau geht es darum, dass die Nutzfläche um 1.700 Quadratmeter erweitert werden soll. Doch nun wurde bei allen Bewerbungen Nacharbeitungsbedarf festgestellt.
Schluss mit dem Genöle!
Es hat sich ein Ton in die Kulturbranche eingeschlichen, der erstaunt. Immer lauter werden die Lamenti über Kürzungen: In den Kulturhaushalten in Berlin und München, in den Kulturredaktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in den Orchestern und bei Musiklehrerinnen und Musiklehrern. Aber wie hilfreich ist das Dauerlamento? Wie effektiv die beleidigt vorgetragene Behauptung der eigenen Relevanz? In einem Essay habe ich darüber nachgedacht, warum die Berliner Kulturszene vielleicht andere Formen des Protestes wählen sollte. Ob unisono-Chef Gerald Mertens nicht kontraproduktiv agiert und wie Antje Valentin vom Deutschen Musikrat eigentlich darauf kommt, dass das durchschnittliche Brutto-Einkommen von Musiklehrenden in Deutschland 14.650 Euro betrage. Ein Plädoyer für einen klügeren Protest und vor allen Dingen: für mehr Lust an Visionen für die Zukunft.
Frantz traurige Abschieds-Promo
Der Pianist Justus Frantz will noch einmal auf Tournee gehen – gemeinsam mit seiner Philharmonie der Nationen. In den Interviews dazu schwankt er zwischen Himmel und Hölle. Der Bild Zeitung erklärte er, dass er an einem Gehirntumor leide und sich bei ihm ein lebensbedrohliches Aneurysma gebildet habe. In einem Bunte-Interview machte Frantz seine Beziehung mit seinem 53 Jahre jüngeren Manager öffentlich: «Ich habe mich entschieden, transparent über dieses Thema zu sprechen«, so Frantz. Eine der nächsten Stationen für den Pianisten wird Dubai sein – dort soll er am 15. November einen Ball dirigieren, organisiert von Putin-Freund Hans-Joachim Frey. Glaubt man der Website von Placido Domingo, wird auch er dort auftreten. Ob die Sängerin Sonja Yoncheva ebenfalls – wie angekündigt – in Dubai singen wird, hat ihr Management auf BackstageClassical-Anfrage nicht beantwortet. Auf ihrer Homepage ist der Auftritt nicht verzeichnet.
Totales Chaos am Brucknerhaus
Auch das noch: Nachdem bereits Intendant Dietmar Kerschbaum und Bürgermeister Klaus Luger ihren Rücktritt erklären mussten, wurde nun auch der kaufmännische Geschäftsführer des Brucknerhauses Linz, René Esterbauer, freigestellt. Untersucht wird, ob eine E-Mail mit einer eventuell kompromittierenden Kommunikation zwischen dem Ex-Bürgermeister und dem Ex-Intendanten vorsätzlich zurückgehalten wurde. Interimistisch wurde nun der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer Alexander Stefan mit der Geschäftsführung beauftragt. Der Krimi um den Selbstbedienungsladen Brucknerhaus wird immer chaotischer.
Personalien der Woche II
Dem Spardruck in Berlin kann man auch anders als mit Lamento begegnen: In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärt Staatskapellen-Chefdirigent Christian Thielemann, dass es zwar lächerlich sei, an seinem Gehalt zu sparen, dass er sich dem aber nicht verwehren würde, wenn andere mitzögen: »Ein persönlicher Gagen-Verzicht wäre ohnehin nur eine symbolische Geste«, sagt der Dirigent. »Ich weiß nicht, ob das gegenüber der Politik irgendetwas bringen würde, und wenn, dann sicher nur, wenn auch andere mittun, die an der Spitze der anderen großen Bühnen und Orchester stehen.« +++ Die Seite Slipped Disc berichtet, dass der eher regimekritische Dirigent Vladimir Urin den Presidential Coucil for Culture in Russland verlassen musste – stattdessen zog der putintreue Sänger Ildar Abdrazakov nach, der vor einiger Zeit auch auf westlichen Bühnen auftrat.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Als ich neulich mit dem Dirigenten Omer Meir Wellber zu Mittag aß, hatte der die große Partitur der Oper Alma unter dem Arm, ein neues Werk der israelischen Komponistin Ella Milch-Sheriff über die Beziehung von Alma Mahler zu ihrer Tochter Anna. Wellber schwärmte: »Eines der besten neuen Stücke, die ich dirigiert habe!« Am 26. Oktober ist Premiere an der Volksoper in Wien. Ich habe mich mit der Komponistin und der Regisseurin Ruth Brauer-Kvam über ihren Blick auf Alma Mahler unterhalten.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif.
Ihr
Axel Brüggemann