»Ein Sieg Trumps wäre fatal«

Oktober 18, 2024
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Michael Blumenthal war US-Finanzminister in der Ära Carter und erster Direktor des Jüdischen Museums in Berlin (Foto: Jüdisches Museum, Sucksdorff)

Michael Blumenthal emigrierte 1938 nach Schanghai, wurde Finanzminister von Jimmy Carter und gründete das Jüdische Museum in Berlin. Ein Gespräch über Migration, den US-Wahlkampf und das Oratorium Emigrée beim DSO.

1938 wurde der der Vater von W. Michael Blumenthal, ein jüdischer Textilhändler in Berlin, in Buchenwald inhaftiert. Danach floh die Familie in letzter Sekunde nach Schanghai, wo China 18.000 Jüdinnen und Juden aufnahm, als viele andere Länder die Grenzen bereits geschlossen hatten.  Nach dem Krieg emigrierte Blumentahl in die USA, wurde wirtschaftspolitischer Berater von John F. Kennedy und Finanzminister von Jimmy Carter. Später war er erster Direktor des Jüdischen Museums in Berlin.

Nun spielt das Deutsche Symphonie Orchester am 31. Oktober und am 3. November die europäische Erstaufführung des Oratoriums Emigrée von Hollywood-Komponist Aaron Zigman. Es erzählt die eine Liebesgeschichte im jüdische Ghetto von Schanghai. Im Gespräch mit Axel Brüggemann erinnert sich Michael Blumenthal, der heute 98 Jahre alt ist, an seine Flucht aus Deutschland, spricht über die aktuelle Flüchtlingssituation in der Welt und über den Konflikt im Nahen Osten (hier der Podcast für alle Player und für applePodcast).  

Michael Blumenthal und Thomas Schmidt-Ott im Podcast

Herr Blumenthal, erinnern Sie sich noch an Ihre Flucht aus Deutschland nach Schanghai?

Ich erinnere mich sehr gut. Meine aktive Erinnerung setzt bereits vorher ein: In der Zeit der Kristallnacht. Ich sehe noch immer sehr genau unser zertrümmertes Geschäft am Olivaer Platz und  die brennende Synagoge in der Fasanenstraße. Ich bin damals dahin gerannt und habe mir das angeschaut. Natürlich erinnere ich mich auch an unsere Überfahrt nach Shanghai.

Alls das muss für Ihre Eltern sehr belastend gewesen ein – wie haben Sie die Situation in Ihrer Familie damals wahrgenommen?

Wir haben das emotionale Ausmaß als Kinder überhaupt nicht erkannt. Wir hatten ein Urvertrauen in unsere Eltern, darin, dass sie das Richtige tun würden. Die Vorstellung einer Bootsfahrt über die halbe Welt in den damals unbekannten asiatischen Orient habe ich eher als Abenteuer verstanden. Für meine Eltern war das natürlich ganz anders. Sie waren spätestens seit 1938 vollkommen traumatisiert! Mein Vater hatte selbst nach der Machtergreifung Hitlers nie an Auswanderung gedacht. Er verstand sich als Deutscher, auch weil er als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient hatte. Dass er 1938 in Buchenwald inhaftiert wurde, hat ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er in einem Steinbruch körperlich arbeiten. Er hatte in sechs Wochen fast 60 Pfund verloren. Plötzlich hatte er alles verloren. Diese neue Situation lähmte ihn. Damals waren es ja oft die Frauen, die am Ende die Initiative übernommen haben. Und so war es auch bei uns: Ohne meine Mutter wäre meine Familie aufgeschmissen gewesen.

Als Ihre Eltern sich entschlossen zu fliehen, war es fast zu spät … 

Man durfte schon nichts mehr aus Deutschland mitnehmen, und es gab kein Land, das uns Juden überhaupt noch aufnehmen wollte. Es war nur noch von Schanghai die Rede – vom letzten Zufluchtsort. Es kursierten damals Horrorgeschichten: Schmutzige Straßen, überall Gestank und eine Stadt ohne Gesetze. Als dann ein Letzter Versuch meiner Eltern scheiterte, nach Brasilien zu gehen, war China war uns die einzige Chance. 

Das eigene Land will einen ermorden, und kein anderes Land der Welt ist bereit, einen aufzunehmen…

Da war tatsächlich traumatisierend. Ich erinnere mich, dass unser Schiff auf dem Weg von Neapel nach Schanghai verschiedene Häfen ansteuerte: Eden, Suez, Bombay, Colombo, Hongkong. Überall war die Flagge des Commonwealth gehisst, aber mit unseren deutschen Pässen, in denen ein großes »J« gedruckt war, durften wir nicht einmal an Land gehen. Zuvor hatte Roosevelt auf der Konferenz von Evian versucht, die Juden auf verschiedene Länder zu verteilen. Tatsächlich zeigten viele Länder Mitleid, aber alle hatten Ausreden, warum sie uns nicht aufnehmen konnten. In der Schule kursierte der Witz, dass die Konferenz nicht gut gehen konnte, schließlich liest sich Evian rückwärts » Naive!« Und das waren wird damals: Naiv!

Schanghai war schließlich auch kein Paradies: Nach der Machtübernahme der Japaner wurden Sie als Juden auch in Asien ghettoisiert.

Aber die Japaner hatten immerhin kein Interesse an unserem Tod. Und so haben die meisten von uns überlebt! Ich wundere mich heute manchmal, wie groß das Interesse an unserer relativ kleinen Gruppe noch immer ist. Die Geschichte der Schanghai-Juden ist ja letztlich ziemlich banal: Die Japaner haben uns für zwei Jahre eingesperrt – danach sind wir in die ganze Welt weiter gezogen. Klar, die Verhältnisse waren nicht leicht, einige haben sich das Leben genommen – aber die meisten haben überlebt. Dass man heute Oratorien wie Emigrée über diese Sache komponiert, ist schon verrückt. 

Kann Kunst überhaupt Erinnerung schaffen? Hat ein Stück wie Emigrée eine Wirkung?

Ich glaube schon, dass Musik einen emotionalen Einfluss auf die Menschen haben kann. Aber machen wir uns nichts vor: Die Musik ist ganz hübsch, aber der Plot, in dem ein Jude und ein Chinesin heiraten, hat letztlich nur wenig mit der Realität zu tun. Aber vielleicht inspiriert Kunst uns am Ende, über gewisse Mechanismen des Menschseins zu reflektieren. Als ich das jüdische Museum konzipiert habe, war es mir ebenfalls wichtig, dass unsere Besucher verstehen, wie einflussreich das  jüdische Leben für die deutsche Kultur war. Auf jeden Fall kann man sagen, dass wir inzwischen aus der historischen Situation gelernt haben…

Auszug aus Emigrée in New York bei YouTube

Ist da so? Mir kommt es gerade im Wahlkampf von Donald Trump oder in den aktuellen Wahlkämpfen in Deutschland so vor, als würden Flüchtlinge auch heute wieder zum Spielball von Populisten werden… 

Das stimmt schon, aber es gibt sowohl in den USA als auch in Deutschland inzwischen Gesetze, nach denen Flüchtlinge, die vom Tode bedroht sind, hereingelassen werden. Solche Regeln gab es damals nicht! Es steht auf einem anderen Blatt, dass auch heute in vielen Ländern eine große Angst herrscht, dass zu viele Ausländer ins Land kommen… 

Aber gerade hier wird von populistischen Politikern nur selten differenziert.

Um so wichtiger ist es, uns bewusst zu machen, dass wir es heute mit einem viel größeren Komplex zu tun haben als damals. Heute sind wir mit einer globalen Flüchtlingsbewegung konfrontiert. Das ist nicht vergleichbar mit den 1930er Jahren. Natürlich habe ich allein auf Grund meiner eigenen Geschichte zunächst einmal Verständnis für jeden Menschen auf der Flucht. Aber ich verstehe auch die Angst, dass zu viele Menschen, die gar keinen Anspruch auf Asyl haben, in unsere Länder drängen. Es geht hier um die Frage des politischen Managements, und ich glaube dass es eine Herausforderung für Kamala Harris und alle demokratischen Politikerinnen und Politiker wird, ohne Stigmatisierungen und ohne Ressentiments politische Lösungen zu finden, um die Zuwanderung fair und menschlich zu regulieren. Das Problem ist, dass derzeit die allgemeine Angst vor Überfremdung von Demagogen wie Trump ausgenutzt wird, um an die politische Macht zu kommen. Das ist skrupellos, aber es scheint zu funktionieren. Um so wichtiger ist es, realpolitisch klug zu handeln.

Sie waren ja selber ein Politiker – was würden Sie den Politikern von heute raten?

Leider gibt es keine magische Lösung. Wir befinden uns in einer historischen Periode, die wir überstehen müssen. Dass Problem der Einwanderung lässt sich derzeit nicht final lösen, sondern nur temporär managen. Aber dafür muss man zunächst klar zwischen legaler und illegaler Einwanderung trennen. Für Kamala Harris wird es eine Hauptaufgabe sein, einen Mittelweg zu finden und ihn dann auch im Kongress durchzubekommen. Ich beneide sie nicht um diese Aufgabe.

Mit dem Staat Israel haben Juden einen Ort gefunden, an dem sie zu Hause sind, an den sie immer fliehen können. Doch gerade steht dieser Ort wieder unter Beschuss. Wie blicken Sie auf die aktuelle Situation in Nahost? 

Ich habe in der Regierung von John F. Kennedy viel mit Israel zu tun gehabt und kenne Politiker wie Netanjahu persönlich. Ich beobachte, wie die USA, besonders Präsident Joe Biden, versuchen, Druck auf den Nahen Osten auszuüben – aber ich sehe auch, dass das derzeit misslingt. Das liegt natürlich auch am Grundkonflikt: Zwei Völker beanspruchen aus tiefster religiöser Überzeugung das Anrecht auf einen kleinen Flecken Erde. Keiner der beiden ist zu Kompromissen bereit. Ich bin fest überzeugt, dass dieser Konflikt auch in den nächsten 10 Jahren nicht gelöst werden kann. Man kann die  Situation nur temporär managen. Aber derzeit wird sie so schlecht gemanaget, dass wir am Rande des Schlimmsten stehen, was passieren kann. Ich bin Zionist im Sinne, dass es ein Existenzrecht Israels geben muss, aber ich verstehe auch, dass es eine andere Seite gibt: 1.200 Menschen wurden brutal ermordet, und es ist verständlich dass auf dieses Massaker eine israelische Reaktion folgte. Doch nun sind auch 40.000 zum Teil unschuldige arabische Menschen ums Leben gekommen. Ich stehe hilflos vor dieser Situation und habe keine Idee, wie das weitergehen soll. 

Sie haben eben gesagt, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben. Um ehrlich zu sein: Mich befallen Zweifel, ob das für eine junge Generation noch immer zutrifft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir als Welt sehr schnell sehr viel gelernt: Wir haben die UNO gegründet, haben mit dem Marshall-Plan verstanden, dass man Europa aufbauen und als Partner einbinden kann. Ich habe persönlich an dieser europäischen Stabilität in meiner Zeit unter Kennedy und Johnson gearbeitet. Und wir waren erfolgreich: Wir hatten von 1945 bis  in die 1990er Jahre eine weitgehend friedliche Welt. Die technologische Revolution hat dann vollkommen neue Paradigmen aufgestellt. Und jetzt wird sich zeigen, ob das, was wir gelernt und aufgebaut haben, auch in der kommenden Generation Bestand haben wird. Ich muss ehrlich sagen, dass auch ich mir da leider nicht mehr sicher bin. Wenn ich sehe, wie die Hälfte meiner US-Mitbürger über Trump und die Demokratie denken, wie Protektionismus und Nationalismus das Fremde ausgrenzen, dann zweifle ich, ob wir wirklich genug aus der Geschichte gelernt haben. 

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… ja, und wer was genau gelernt hat.

Dass wir in den USA, aber auch Ihr in Deutschland gelernt habt – das haben wir alle erlebt. In einer sehr langen Zeit des Friedens. Aber nun sehe ich auch in Deutschland Bewegungen, die von machtbesessenen und geschichtsvergessenen Demagogen angeführt werden. Ich beobachte Ähnliches in Frankreich, in Italien, in Ungarn und Österreich. Sind wir dabei, die Geschichte zu vergessen? Um so wichtiger wäre es, sie immer wieder zu erzählen und zu erinnern: in der Politik ebenso wie in der Kultur! 

Glauben Sie, dass ein Wahlsieg Trumps die bestehende Weltordnung endgültig aus den Fugen heben wird? 

Dass ein Sieg von Trump fatal sein wird, ist klar. Besonders für mein Land, die USA. Wie fatal, das kann derzeit wohl niemand vorhersagen. Immerhin haben wir noch Gesetze in den USA und eine unabhängige Justiz. Es wird unmöglich für Trump sein, Gesetze wie einst Hitler in den ersten Tagen seiner Regierungszeit aufzuheben. Was das betrifft, sind wir in einer etwas besseren Situation. Aber daran, dass ein Sieg Trumps fatal wäre – daran besteht kein Zweifel. 

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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