
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute lauschen wir der Stille in den USA, schauen aufs Regietheater und flanieren ein bisschen auf dem Gerüchte-Boulevard. England stellt seine Kulturförderung in Frage und es gibt einen großartigen neuen Mahler!
Boykott oder jetzt erst recht?
Es sind individuelle Entscheidungen: Christian Tetzlaff und András Schiff wollen nicht mehr in Trumps USA auftreten. Für Aufsehen sorgte diese Woche der Gastbeitrag von Franz Welser-Möst bei BackstageClassical, in dem der Chef des Cleveland Orchestra erklärte, warum er derzeit ebenfalls eher nicht im Kennedy Center auftreten würde, sich aber gegen generelle Kultur-Boykotte aussprach: »Sie schaden den Falschen.« Ähnliche Argumente hat Markus Thiel vom Münchner Merkur bei Münchner Orchestern – unter anderem bei Philharmoniker-Intendant Florian Wiegand – gehört. Auch sie plädieren eher für weitere Gastspiele in den USA. Malte Boecker vom Beethoven-Haus Bonn verhandelt verschiedene Projekte mit den USA und spricht sich auch gegen Boykotte aus: »Gerade jetzt ist es spannend und relevant, sich über wechselseitige Perspektiven, Kooperationen und Projekte auszutauschen.« Die Stimmung am Kennedy Center, die Reaktionen von US-Künstlern und die aktuellen Entwicklungen in Europa habe ich in einem ausgeruhten Text aufgeschrieben, den ich Ihnen gern ans Herz legen möchte. Er endet mit dem Satz: »Egal, wie man mit den USA umgeht: Boykott oder bewusstes Auftreten – es ist die Debatte, die derzeit geführt werden muss. Schweigen ist am Ende nur Ausdruck von Opportunismus.«
Amuse-Gueule aus der Gerüchteküche
Wie wäre es mit ein bisschen Gossip zum Wochenanfang? Derzeit gibt es allerhand freie Jobs – und ziemlich viele Spekulationen. Kommt Lorenzo Viotti wirklich an die Deutsche Oper in Berlin? Kaum vorstellbar. Wird Esa-Pekka Salonen die Pariser Oper als Nachfolger von Gustavo Dudamel übernehmen? Eher wahrscheinlich! Und wen hat die Tschechische Philharmonie als Nachfolger von Semyon Bychkov auf dem Zettel? Den naheliegenden Jakub Hrůša – oder doch: Simon Rattle? Und wenn wir schon beim Spekulieren sind: Der Salzburg-Vertrag von Markus Hinterhäuser läuft bis 2031 – mit einer Option zur vorzeitigen Auflösung im Herbst 2029. Aber natürlich könnte man sich einvernehmlich auch schon vorher trennen. Ich habe darüber mit der Künstlichen Intelligenz gesprochen. Sie schlägt Namen wie Serge Dorny, Matthias Naske, Sophie de Lint oder Elisabeth Sobotka vor. Lässt sich aber auch für Barrie Kosky oder Viktor Schoner erwärmen. Oder kommt doch alles ganz anders? Eine Ordnung der Gerüchte gibt es hier.

Waschmaschine einräumen reicht nicht
Wenn Regisseure opulenten Hyperrealismus auf die Bühne bringen und die Sängerin eine Arie lang eine Waschmaschine ein- und ausräumen muss, reicht das nicht. Das sagt Regisseruin Vera Nemirova im BackstageClassical-Podcast. Sie inszeniert gerade den Steppenwolf in Rostock und wird im Sommer ein Doppel aus Gianni Schicchi und Elektra in Heidenheim auf die Beine stellen. Nemirova beklagt, dass einige Kollegen nach einem ersten Erfolg die Neugier verlieren und ihre Konzepte auf verschiedene Opern aufpfropfen. Sie begeistert sich dagegen dafür, wie Tobias Kratzer oder Barrie Kosky das Theater von Götz Friedrich, Peter Konwitschny oder Hans Neuenfels in die Zukunft führen. Hier geht es zum ganzen Gespräch.
Berlin sendet Zeichen
Letzte Woche haben wir uns an dieser Stelle Gedanken darüber gemacht, wer das Rennen um den Job des Bundesbeauftragten für die Kultur machen könnte und Nachfolger von Claudia Roth wird. Letzte Woche gab es einen Hinweis: Joe Chialo besuchte gemeinsam mit Friedrich Merz ein Konzert der Staatskapelle Berlin (beide saßen in der ersten Reihe im erster Rang!). Kurz danach gab die Staatsoper ihr neues Programm bekannt: Die Zukunft der Oper, die Intendantin Elisabeth Sobotka vorgestellt, klingt ein bisschen wie große Oper aus der Vergangenheit: Anna Netrebko ist im Maskenball zu hören, Simon Rattle darf Magdalena Kožená zum Schlauen Füchslein mitbringen, ansonsten allerhand alte Sobotka-Connections: Bertrand de Billy und Lydia Steier mit Hoffmanns Erzählungen, Enrique Mazzola dirigiert Verdi – wirklich spannend nur: Thomas Guggeis‘ Entführung aus dem Serail in einer Inszenierung von Andrea Moses. Und Christian Thielemann? Der kümmert sich um die Wiederaufnahme des Ringes. Tja.
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Personalien der Woche I
Komponist Beat Furrer hat seine neue Oper Das große Feuer in Zürich vorgestellt: Ein Ritt von der Stille in die Stille – und doch etwas verwirrend, findet Georg Rudiger. +++ Was war denn da los? Die Ballettkompanie Ballet of Ukraine hat den Nussknacker in Schweden aufgeführt. Schwedische Medien haben nun aufgedeckt, dass die Spuren nicht in die Ukraine, sondern nach Russland führen. Die ganze Story hat der BR. +++ Die Intendantin des Tonhalle Orchesters Zürich, Ilona Schmiel, hat ein spannendes Interview über die Folgen von Corona im Deutschlandfunk gegeben. Ihr Credo: Es gab einen technischen Innovationsschub, aber gerade der Wert des Live-Konzertes wurde neu entdeckt. Heute kommt ein neues Publikum in die Konzerte, sagt sie, das vor allen Dingen spontaner geworden sei: »48 Stunden vor einem Konzert weiß man noch nicht, ob ein Abend ein Erfolg wird.« Was den Orchestern derzeit fehlt: Nachwuchs im Instrument Oboe! +++ 330 Millionen Euro will der Unternehmer Klaus-Michael Kühne zum Opernhaus in Hamburg beisteuern – mindestens. Im SPIEGEL erklärte er nun, dass dieses kein Egotrip sei. Außerdem sei der Drops noch nicht gelutscht: »Wenn die Oper doppelt so teuer werden sollte, wie geplant, werden wir die Reißleine ziehen«, stellte Kühne klar. Ob das Haus überhaupt gebaut wird, will er erst in zwei Jahren entscheiden.
England stellt Kulturförderung in Frage
Der Arts Council England (ACE) wird für seine Förderstrategie kritisiert. Der Direktor der Wigmore Hall, John Gilhooly, wirft dem ACE Vertrauensverlust vor und verzichtet ab 2026 auf öffentliche Gelder. Der Vorwurf: Der ACE würde die Spitzenförderung vernachlässigen. ACE-Chef Darren Henley verteidigt die Verteilung von 220 Mio. Pfund für klassische Musik (2023-2026) und betont die »Let’s Create«-Strategie seines Hauses. Kritiker bemängeln eine Gleichsetzung von Gemeinschaftsprojekten mit künstlerischer Exzellenz. Inzwischen hat die neue Regierung eine Überprüfung von ACEs Förderpolitik angeordnet.

Personalien der Woche II
Der Prozess gegen den Intendanten des Maggio Musicale, Alexander Pereira, hat begonnen. Italien fordert zehn Millionen Euro von ihm, die Staatsanwaltschaft fordert Haftstrafe. Mit einem Urteil wird am 29. Mai gerechnet. +++ Die deutschen Musikhochschulen schlagen Alarm: In einem offenen Brief an den Vorstand und den Aufsichtsrat der GEMA fordern sie eine Verschiebung der geplanten Reform. »Wir sind zutiefst besorgt«, heißt es in dem Schreiben der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM). Die Reform sei nicht ausreichend diskutiert worden und könnte schwerwiegende Folgen haben – insbesondere für junge Komponistinnen und Komponisten. +++ Schöne Geste: Zum 100. Geburtstag von Pierre Boulez hat das Festspielhaus Baden-Baden den Platz vor dem Theater in Boulez-Platz umbenannt (hier auch noch Mal das große Boulez-Interview aus unserem Archiv). +++ Übersiedlung der Musik und Kunst Privatuniversität in Wien: 15 der 35 Pavillons am Otto Wagner-Areal sollen ab 2030/2031 für die unterschiedlichen Unterrichtsdisziplinen wie Tanz, Gesang oder Musik gestaltet werden. Neben den Lehrräumen soll es auch Platz für studentisches Wohnen geben.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Wie Sie vielleicht anhand der Werbung in den letzten Wochen gesehen haben, hat BackstageClassical eine neue Kooperation mit dem Streamingdienst qobuz (da Musik hier in höchster Auflösung und mit fairen Verteilschlüsseln für Künstlerinnen und Künstler angeboten wird). Dort haben wir auch eine eigene Playlist, auf der Musik zu unseren Themen nachzuhören ist. Ich bin beim Stöbern der Neuerscheinungen auf die fünfte Symphonie von Gustav Mahler mit Paavo Järvi und dem Tonhalle-Orchester Zürich gestoßen und habe dieses Werk für mich noch einmal neu entdeckt: Ohne Pathos, ohne sich in Extremen zu suhlen geht Järvi dem Werk mit großer Intelligenz auf den Grund, sucht nach den Strukturen unter den Behauptungen des Als-Ob und findet: kompositorische Strenge im emotionalen Chaos. Eine andere Seite der Sinnlichkeit. Klar, wer Schmackes will, ist hier weniger gut beraten, wer die Symphonie aber noch Mal neu durchhören möchte, dem sei diese Einspielung ans Herz gelegt.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif
Ihr
Axel Brüggemann
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