Einst wollte Pierre Boulez Opernhäuser in die Luft sprengen. Aber der Klassik-Provokateur wurde besonnener, in diesem historischen Interview dachte er sogar darüber nach, eine Oper zu schreiben. Außerdem erklärt er seine Bayreuth-Tempi.
English summary: Pierre Boulez reflects on his evolution from a radical provocateur to a more introspective artist in this interview. Once wanting to “blow up opera houses,” he now values deeper orchestral engagement and embraces slower tempos to uncover structural depth. Discussing Bayreuth, Wagner, and modern opera, Boulez emphasizes innovation over tradition. He remains committed to new compositions, valuing logic, experimentation, and a balance of rationality and emotion in music.
2025 ist das Pierre Boulez-Jahr: Am 5. Januar 2016 ist der französische Dirigent in Baden-Baden verstorben, am 26. März 1925 wurde er in Montbrison geboren. Ein Interview aus dem Archiv als Auftakt des Gedenkjahres.
Monsieur Boulez, Sie kommen gerade aus der Probe zu Mahlers fünfter Sinfonie mit der Staatskapelle Berlin – und: Sie haben erschreckend langsame Tempi gewählt.
Zugegeben, ich habe schon mal schneller dirigiert. Aber wissen Sie, ich habe erst spät mit dem Dirigieren begonnen, habe lange mit der Technik gekämpft, hatte Angst vor Fehlern und dachte, die kniffeligen Stellen einfach schnell hinter mich bringen zu müssen. Jetzt bin ich dabei, den Fehler zu korrigieren.
Wird der Provokateur etwa altersweise?
Heute höre ich dem Orchester genauer zu, dringe tiefer in die Strukturen ein statt sie zu verkürzen und lasse einen eigenen Strom zu. Vielleicht kann man sagen: Ich habe an Freiheit gewonnen.
Waren die schnellen Tempi – besonders bei Wagner und Mahler – auch eine Angst des Logikers vor dem Klang-Kitsch? In „Parsifal“ haben Sie alles Heilige eliminiert und nur noch Motiv-Extrakt dirigiert.
Das war Programm: Mich hat das aufgeblasene Pathos geärgert, mit dem Wagner gespielt wurde, in dem jedes Crescendo zum Fortissimo getrieben wurde. Das finde ich unerträglich – noch heute.
1976 haben Sie den Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ dirigiert und den Protest des „Mobs“, wie Sie es nannten, gespürt. Nun hat Wolfgang Wagner Sie zurückgeholt. Ist das mehr als der Schachzug des greisen Herrn von Walhall?
Wolfgang Wagner hat sich schon bei den „Ring“-Protesten kompromisslos hinter uns gestellt. Sicher, das aufgebrachte Publikum war eine unangenehme Erfahrung für mich, die ich eigentlich nicht noch einmal machen wollte. Aber Bayreuth ist ein spezieller Fall. Hier geht es um die Arbeit an Wagner, und – das Schönste – ich darf mir den Regisseur selbst aussuchen.
Damals hat Patrice Chéreau die „Ring“-Götter zu Menschen geschrumpft – 2004 dirigieren Sie Martin Kusejs „Parsifal“-Regie. Warum ausgerechnet Kusej?
Meine spannendsten Arbeiten waren mit Peter Stein und Patrice Chéreau – beide sind Schauspielregisseure. Kusej kommt ebenfalls aus dem Schauspiel und hat einige aufregende und überraschende Inszenierungen gezeigt. Ich glaube, dass er einen neuen Blick für die Oper hat.
Werden Sie Wagner anders dirigieren?
Immerhin werden 38 Jahre seit meinem ersten „Parsifal“ vergangen sein. Die Veränderung ist ein Prozess wie bei jemandem, der sich täglich im Spiegel beobachtet und glaubt, derselbe zu bleiben. Wenn er aber ein Foto von vor 30 Jahren sieht, ist er geschockt. So wird es vielleicht auch mit meinem Wagner-Dirigat kommen.
»Tradition ist die Fortsetzung von Manierismen.“
Pierre Boulez (Komponist)
Damals wurden Sie „Robespierre Boulez“ genannt – ein Revoluzzer. Heute sind Sie erstaunlich entspannt. Ist eine Revolution auf der Opernbühne überhaupt noch möglich?
Wenn Sie den Chéreau-„Ring“ jetzt sehen, fragen Sie sich, was damals eigentlich so revolutionär gewesen ist. Ich glaube, dass die Erneuerungen in der Oper Prozesse sind: Erst hat sich das Publikum über die Regie von Wieland Wagner aufgeregt, als sie akzeptiert wurde, kam Chéreau und sorgte für einen Skandal – fünf Jahre später wurde auch unser Ring gefeiert. Vielleicht ist es das, wofür wir gekämpft haben – und wofür wir kämpfen: die ständige Entwicklung.
Ihr Parsifal von 1966 war so schnell, daß in der Gralsoper nichts Heiliges geblieben ist.
Wieland Wagner hat mich gebeten, in Bayreuth zu dirigieren. Damals war ich 38. Ich wollte bewußt mit der Tradition brechen, nie aber mit der Geschichte. Ich definiere Geschichte als etwas Wichtiges, die Tradition halte ich dagegen für nichts anderes als die Fortsetzung von Manierismen. Geschichte verlangt nach einer gegenwärtigen Befragung, Tradition ist ein totes Museum.
Sie haben einmal gefordert, die Opernhäuser als bürgerliche Bastionen in die Luft zu sprengen. Inzwischen haben Sie selbst zwei Anläufe genommen, ein Singspiel zu komponieren: erst mit Jean Genet, dann mit Heiner Müller. Beide sind vorzeitig gestorben. Sind damit auch die Opern-Pläne tot?
Ich will noch immer eine Oper schreiben und dabei die Form als solche infrage stellen: die alte Stellung von Orchester, Bühne und Publikum. Peter Stein hat mich einmal gebeten, die alten Genet-Skizzen herauszukramen, um sie endlich zu komponieren. Aber er schrieb sie von Krankheit gezeichnet, und sie sind einfach unverwendbar. Leider starb auch Heiner Müller, zwei Monate bevor er mir sein Libretto geben wollte.
Welche Gegenwarts-Literaten kämen für eine neue Oper infrage?
Sicherlich Edward Bond und ganz besonders Elfriede Jelinek – für mich die stärksten dramatischen Persönlichkeiten.
Gab es schon Gespräche?
Noch nicht. Aber Jelinek wäre schon sehr aufregend.
Sie setzen sich in einer Zeit für die Oper ein, da ihr die politische Lobby abhanden kommt.
Ja, und das wird mit den neuen Rechts-Regierungen immer schlimmer. Le Pen hat eines der schrecklichsten Kulturprogramme überhaupt aufgestellt. Er sagte, dass er keine „Nihilisten wie Beckett“ sehen will. Das ist doch absurd.
Als Komponist haben Sie Ihre Standpunkte oft gewechselt: Einmal propagierten Sie „Schönberg est mort“, sind von der Zwölftontheorie zum Serialismus gewechselt – was ist als Konstante geblieben?
Die Disziplin des Musikers, das Experiment zu wagen. Es geht mir um die musikalische Freiheit. Das ist keine Frage der Politik, sondern des Gedächtnisses. Wer etwas Neues schaffen will, muss sich von Altem trennen. Als die Zwölftonkomposition zu dogmatisch wurde, als die formale Disziplin zur Anonymität führte, habe ich versucht, mich von ihr zu distanzieren und mit der Aleatorik …
… der freien Entscheidung des Dirigenten, wie ein Stück fortzuführen ist…
… eine Individualität der Musik zu schaffen. Ich habe verschiedene strukturelle Welten durchschritten, aber sie sind durch ein unterirdisches Labyrinth miteinander verbunden.
Neuere Kompositionen wie „Rituel“ klingen fast romantisch transzendent.
Mich interessiert jetzt das Spiel mit der Wahrnehmung, das Kuriosum, zu meinen, alles zu verstehen, und im nächsten Augenblick zu wissen, dass man nichts begriffen hat. Die musikalischen Gruppen überlagern sich, bis sie nicht mehr zu verfolgen sind – nur das Schlagzeug sorgt für Ordnung, steht für die messbare Zeit, das größte aller Geheimnisse.
Sie gelten als der Mathematiker der Musik – täuscht der Eindruck, dass Ihre Kompositionen immer direkter werden?
Wenn Sie meine Skizzen sehen, entdecken Sie den Prozess, dass ich immer versuche, eine Logik aufzubauen, um sie danach zu dekonstruieren. Das ist der Sinn der Logik – und vielleicht der modernen Musik überhaupt.
Wenn man in 100 Jahren über klassische Musik unserer Zeit redet, worüber wird gesprochen: Über Madonna oder Pierre Boulez?
Vielleicht geht es dann nicht um mich, aber mit Sicherheit auch nicht um Madonna. Es ist eine Illusion, daß klassische Musik populär war. Sie hat stets Nischen bedient. Stellen Sie sich einmal vor, eine Opern-Truppe wäre 1785 in ein österreichisches Bauernhaus gegangen und hätte dort Mozarts „Così fan tutte“ aufgeführt. Ich hätte gern das Gesicht der Dienstmagd gesehen. Verabschieden Sie sich vom Mythos, daß Mozart ein Popstar war und die Klassik populär.
Sie ist also immer elitär?
Natürlich! Jeder isst seine Hamburger bei McDonald’s, aber es würde keiner behaupten, dass Fast food mit der Küche eines Sternekochs vergleichbar wäre. Die Popmusik ist per definitionem eine Fast-Listening-Music, die ihre Effekte auf den Moment ausrichtet. Nehmen Sie den Rhythmus eines Rap-Songs und vergleichen ihn mit der anarchischen Vielfalt von Strawinskys „Le sacre du Printemps“, dann werden Sie sehen, daß Pop meilenweit hinter den Erkenntnissen der Neuen Musik hinterherhinkt. Ich wünsche mir, daß Menschen in der Schule musikalisch erzogen werden, um zu erkennen, wie limitiert das Radio-Gedudel ist. Aber das ist ein pädagogisches und damit ein politisches Problem.
Verschwimmen die Grenzen nicht längst? Neue Musik nutzt zum Beispiel Mittel zur Reproduktion originaler Klänge. In einem Club wird dazu vom DJ eine Platte „gescratcht“.
Aber ich bitte Sie, das haben Komponisten wie Pi Scheffer schon 1948 gemacht. Ich habe in letzter Zeit öfters MTV geschaut, weil ich die Verbindung von Visuellem und Akustischem spannend finde. Aber in den Clips werden die Möglichkeiten verschenkt. Jeder Film folgt einer modischen Formatierung und läßt sich von anderen nicht unterscheiden. Das ist nicht wirklich innovativ.
»Musik braucht mehr Zeit als ein Bild.«
Pierre Boulez (Komponist)
Innovationen in der Neuen Musik sind dagegen so komplex, daß sie kaum verstanden werden. Müssen wir uns an neue Töne gewöhnen?
Eine Tugend des Gegenwartskomponisten ist das Urvertrauen in die Zukunft. Deshalb ist mein Leben auch meinen inneren Überzeugungen gewidmet und folgt keinen Moden. Natürlich kommt man sich da manchmal ziemlich einsam vor. Und das ist ein Grund, warum ich angefangen habe zu dirigieren. So kann ich das Publikum direkter erreichen.
Sie haben nach dem Weltkrieg bei Olivier Messiaen studiert. 60 Jahre, später sitzen Sie in der „Cité de la Music“, einer Musik-Burg, mitten in Paris. Ist die Neue Musik inzwischen institutionalisiert?
Schon nach dem Krieg haben sich besonders deutsche Radioorchester um Neue Musik gekümmert, und die Donaueschinger Musiktage oder die Darmstädter Sommerkurse waren ebenfalls Institutionen, in denen die Neue Musik gewachsen ist. Das ist wie mit der Gegenwartsmalerei. Sie war lange eine Außenseiterdisziplin. Jetzt können sich Museen vor Publikum kaum retten. Die Musik hat allerdings den Nachteil, daß sie sich nicht so leicht erschließt wie ein Bild. Sie braucht mehr Zeit.
Waren Darmstadt und Donaueschingen nicht hermetische, weltfremde Elfenbeintürme?
Das sehe ich anders. Menschen aus allen Ländern haben sich hier gefunden, nicht, um sich abzuschotten, sondern um sich zu solidarisieren und von hier aus zu strahlen.
Komponisten wie Hans-Werner Henze wurden ausgeschlossen …
Er hat sich selbst ausgeschlossen, kam aus einer anderen Tradition und verfolgte andere Ziele. Wir waren doch keine Geschmacks-Diktatoren.
War es ein Zufall, daß sich die Avantgarde damals ausgerechnet in Deutschland angesiedelt hat?
Das hatte damit zu tun, daß hier zwölf Jahre absolute Stille herrschte, daß Neue Kunst als „entartet“ galt und die Sehnsucht groß war, die alte Tradition neu aufzunehmen und fortzusetzen.
Fortgesetzt wurde besonders die Zwölftonmusik Weberns und Schönbergs, die durch die Nazi-Herrschaft abrupt abgebrochen wurde.
Es ist wahr, daß viele Komponisten ihren Stil aufgegeben haben, manche gingen zum Film nach Hollywood. Aber es gab auch Ausnahmen: Paul Hindemith wurde Professor in Yale. Strawinsky und Bartok haben in Amerika am Hungertuch genagt, sind ihrer Musik aber treu geblieben. Für mich war das mathematische Spiel mit zwölf Tönen nach 1952 eine Form, um mich selbst zu disziplinieren. Ich habe strenge Regeln gesucht, in denen ich meine Ideen konkretisieren konnte. Schließlich braucht jede Kreativität einen Rahmen.
War der Rückgriff auf die Zwölftontechnik auch eine Angst vor der Emotionalität der Musik, die das Dritte Reich beherrscht hatte?
Es bestand keine Angst, aber mit Sicherheit eine Vorsicht gegenüber den unkontrollierbaren Gefühlen der Musik.
Damals schrieben Sie ihr Werk „Hammer ohne Meister“ und wurden von Strawinsky zum legitimen Erben ernannt …
Strawinsky war 75, also jünger als ich heute. Und er war mein Vorbild, obwohl ich mit seinem Neoklassizismus nichts anfangen konnte. Ich fand es toll, wie er am Treiben der jungen Generation teilnahm, beobachtete. Diese Neugier habe ich von ihm gelernt.
Aber Sie haben dann mit dem Skandal-Aufsatz „Schönberg ist tot“ den Serialismus begraben. Warum?
Schönberg war der Hüter des westlich-zivilisierten Kultur-Grals. Aber ich hatte damals neue Kulturen aus Asien und Afrika kennengelernt und wollte neue Landschaften beschreiten. Ich habe eine neue Form für das gesucht, was ich damals zu sagen hatte …
… da haben Sie John Cage getroffen, der an der Aleatorik getüftelt hat, an der Zufälligkeit einer Komposition, in der die Musiker selbst entscheiden können, wie sie weiterspielen.
Eine aleatorische Komposition ist, als würden sie den Musikern einen Stadtplan geben: Der Komponist entwirft die Straßen und Häuser, aber das Orchester findet seine eigenen Wege. So hatte ich eine mobile Struktur, ein komplexes System, in dem ich alle Kombinationsmöglichkeiten, alle Wege mitdenken mußte. Ich habe erkannt, daß der Zufall in der Musik nicht länger ignoriert werden kann.
Sie sind ein sehr analytischer Komponist, gleichzeitig dirigieren Sie immer auch emotional. Gibt es bei Ihnen eine Grenze zwischen Ratio und Emotio?
Die kann es in der Musik nicht geben. Je mehr man eine Partitur rational studiert, desto emotionaler kann man sie dirigieren. Eine Partitur dringt rational durch den Kopf in den Körper und verläßt ihn emotional aus den Händen.
Als Komponist reden Sie gern vom Fortschritt. Ist der Dirigent in Ihnen verantwortlich für die musikhistorischen Rückblicke?
Es ist doch klar, daß nicht einmal die radikalste Musik von der Geschichte getrennt werden kann. Es gibt immer Kontinuitäten. Als Dirigent kann ich beweisen, daß ich als Gegenwartskomponist die Geschichte kenne – und daß ich einen Standpunkt zu ihr habe.
Viele Ihrer Dirigenten-Kollegen berufen sich auf die Tradition, wenn sie versuchen, klassische Musik historisch aufzuführen.
Die historische Aufführungspraxis hat sicherlich viele Verdienste, aber ich glaube, daß man nie eine historische Wirklichkeit erreichen wird, sondern nur versucht, die Vorstellung zu imitieren, wie Musik früher geklungen haben könnte. Je mehr man die Musik in die Zeit ihrer Entstehung zurückverlegt, desto ferner rückt man sie aus unserer Gegenwart.
(Das Interview wurde 2002 in der Staatsoper Berlin geführt)