Der Dirigent Franz Welser-Möst befürchtet, dass Boykotte die kulturfeindliche Politik von Donald Trump befeuern. Der Chef des Cleveland Orchestra plädiert für eine differenzierte Betrachtung und dafür, Kultur in den USA gerade jetzt als Flamme des Humanismus zu verstehen.
English summary: In an essay for BackstageClassical, conductor Franz Welser-Möst warns artists against boycotting US culture. He emphasizes the societal significance of music, says he wouldn’t visit the Kennedy Center right now but calls for support of cultural spaces that uphold humanism.
In diesem Gastkommentar für BackstageClassical äußert der Dirigent Franz Welser-Möst seine Bedenken über den aktuellen Boykottaufruf gegen die USA von Musikerinnen und Musikern, die aus Protest gegen die Politik von Donald Trump Konzerte absagen. Als Leiter des Cleveland Orchestra betont Welser-Möst die besondere Rolle von Musik und Kultur in den USA, die als demokratische Orte der Aufklärung und des Dialogs fungieren. Zuletzt hatten der Geiger Christian Tetzlaff und der Pianist András Schiff bekannt gegeben, dass sie ihre US-Auftritte aus Protest gegen die Regierung von Donald Trump absagen.
Von Franz Welser-Möst
Als wir letzte Woche Beethovens 5. Symphonie, Leoš Janáčeks »Aus einem Totenhaus« und »Leonore 3« mit dem Cleveland Orchestra in der Carnegie Hall in New aufgeführt haben, lag eine ganz besondere Spannung im Saal. An diesem Abend wurde mir einmal mehr bewusst, welche Bedeutung das Musikmachen in unserer Welt haben kann. Auf dem Programm standen Werke, in denen es um die Freiheit des Menschen geht – und die treffen in den USA gerade auf besonders wache Ohren.
Die »New York Times« hat die Botschaft hinter dem Programm sofort herausgehört. Wir seien als Orchester nie durch politische oder provokante Programme aufgefallen, sondern durch unsere Qualität und unsere breite gesellschaftliche Verantwortung. Um so deutlicher seien an diesem Abend die Signale der Freiheit in der Musik Beethovens und Janáčeks zu hören gewesen.
Orchester sind Orte der aufgeklärten Gesellschaft
Ich verstehe, dass derzeit einige Musiker ihre Konzerte in den USA absagen, dass sie das Land boykottieren – aus Protest gegen die aktuelle Politik. Aber als Dirigent, der seit 23 Jahren ein amerikanisches Orchester leitet, habe ich auch verstanden, dass Musik und Kultur in den USA eine ganz besondere Rolle einnehmen: Sie sind demokratische Orte einer breiten, aufgeklärten Gesellschaft.
Franz Welser-Möst auf der BackstageClassical Playlist bei Qobuz
Anders als in Österreich oder Deutschland werden die meisten Kulturinstitutionen hier von privaten Spenden finanziert. Gerade deshalb sind viele der Institutionen dem eigenständigen Denken und dem Dialog mit den Menschen verpflichtet – und nicht irgendeiner Regierung.
Viele Menschen demonstrieren gegen Trump
Nur ein Beispiel: Wir haben als Cleveland Orchestra vor einigen Jahren eine großzügige Spende von 50 Millionen Dollar erhalten, mit der wir unter anderem ein Humanismus-Festival gegründet haben, das ganz bewusst der Aufklärung und dem Glauben an den Intellekt gewidmet ist. Ich befürchte, dass generelle Boykotte der US-Kultur die Gefahr bergen, ausgerechnet jene Amerikanerinnen und Amerikaner zu treffen, die derzeit für die Demokratie auf die Straßen gehen.
Ich sehe hier in den USA, dass viele Menschen Angst vor dem Verlust von Werten haben. Ich sehe, wie viele Menschen die Bewegung von Bernie Sanders erreicht, der vor einer Oligarchie warnt: Zehntausende kommen zu seinen Veranstaltungen. Ich sehe, wie die Townhall-Meetings der republikanischen Partei zu Orten werden, in denen Bürgerinnen und Bürger gegen die derzeitige Politik aufbegehren. Und, ja: Auch in vielen Kultureinrichtungen der USA findet derzeit eine wichtige, intensive und zeitlose Auseinandersetzung mit humanistischen Werten statt – so wie in unseren Konzerten mit Beethoven und Janáček.
Boykotte würden das Ende vieler Orchester bedeuten
Was würde es für ein Orchester wie das Cleveland Orchestra bedeuten, wenn plötzlich alle Gäste aus Europa ihre Konzerte bei uns absagen würden? Ich bin ziemlich sicher, dass unser Ensemble damit existenziell gefährdet wäre. So würde ein Orchester bestraft, das in einer weitgehend demokratischen Stadt von vielen humanistischen Mäzenen unterstütz wird. Es wäre fatal, wenn derartige Inseln der Verantwortung plötzlich allein gelassen würden. Boykotte amerikanischer Kulturinstitutionen würden wohl dazu führen, dass die USA zu einer intellektuellen Wüste würden. Und damit wäre eine Politik unterstützt, die genau das in Kauf nimmt: Die Bedeutungslosigkeit der Kultur.
Ich plädiere dafür, dass wir uns (besonders als europäische Künstlerinnen und Künstler) vor unseren Entscheidungen, wie wir mit den USA umgehen, intensiv mit der Kulturszene hier auseinandersetzen. Dass wir ihre Strukturen, ihre tiefe Verankerung in der Gesellschaft und ihre Bedeutung für einen demokratischen Diskurs begreifen.
Kein Auftritt im Kennedy Center
Würde ich derzeit persönlich im Kennedy Center auftreten? Wohl nicht – die dortige Politik und das Durchgreifen der Regierungs-Akteure irritiert mich zu sehr. Aber um so wichtiger ist es, Orte, an denen Kultur als Form der Debatte, des Humanismus und der Menschenwürde gefeiert wird, zu unterstützen. Gerade jetzt. Wir müssen an die Kraft der Musik glauben – und sie behaupten.
Wir stellen fest, dass Beethoven uns gerade heute wieder erklären kann, wie wichtig die Würde des Menschen ist. Seine Musik ist immer auch ein Diskurs der Freiheit. Besonders in Zeiten, in denen dieses Licht der Kunst zu erlischen droht, ist es für uns Künstler wichtig, es besonders hell erstrahlen zu lassen.