Der Panzer-Tenor und die Sehnsucht nach Schönheit

Juni 2, 2024
7 mins read
Die SANCTA-Inszenierung von Florentina Holzinger (Foto: Mecklenburgisches Staatstheater, Wytyczak)

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

heute mit der russischen Front in den Reihen des SWR, mit einer neuen Biederkeit beim jungen Klassik-Publikum, mit Protesten in Weimar und allem, was man über Arnold Schönberg wissen muss.

Der »Sowjetische Werbe Rundfunk«

In Sachen Dickpics und François-Xavier Roth schweigt der SWR bekanntlich, nachdem auch bei ihm erste Hinweise eingegangen sind und die Sache geprüft wird. Und nun (kurz vor der Abschiedstournee von Teodor Currentzis als Chefdirigent mit Brittens War Requiem) ist die alte Russland-Baustelle noch einmal aufgebrochen. Auf dem Facebook-Kanal des Orchesters blieben Fragen unbeantwortet, die den Tenor Alexander Y. betreffen. Er ist Ensemblemitglied beim SWR Vokalensemble, das gemeinsam mit dem SWR beim War Requiem auftreten soll. Auf seinem eigenen Facebook-Profil posierte Alexander Y. auf einem russischen Panzer neben russischer Flagge, er gratulierte Vladimir Putin zum Geburtstag und bat den »Herrn« (Gott), »seinem Diener« (Putin) ein erfolgreiches Leben zu schenken und ihn »für viele zu bewahren«. Außerdem schrieb er: »Alles Gute zum Sieg, Landsleute und alle Beteiligten! Ich wünsche euch allen Gesundheit, Wohlstand und einen friedlichen Himmel über unseren Köpfen! Und natürlich FÜR DEN SIEG!« (Der aktuelle Stand der Affäre ist hier nachzulesen)

Dieses Bild postete der Tenor des SWR Vokalensembles am 20.3.2022 (Foto: Facebook)

Erst auf Anfrage von BackstageClassical antwortete nun die Pressestelle: »Dem SWR sind die Beiträge von Alexander Y. bekannt. Herr Y. äußerte sich auf seiner Facebook-Seite als Privatperson und nicht für den SWR. Gleichwohl distanziert sich der SWR in aller Deutlichkeit von diesen Beiträgen. Das haben wir Herrn Y. auch in einem persönlichen Gespräch zum Ausdruck gebracht. Herr Y. hat seinen Account mittlerweile offline genommen.« Fakt ist, dass der Tenor seine Seite zu diesem Zeitpunkt noch nicht offline geschaltet hatte (was viel über die Autorität des SWR sagt). Eine Stellungnahme der Orchester-Gesamtleiterin Sabrina Haane blieb ebenso aus wie ein Kommentar von Teodor Currentzis und eine Antwort auf die Frage, ob Alexander Y. an der Aufführung des War Requiems teilnehmen wird. Es wird wohl noch einige Nachfragen geben bis zu den Auftritten in Hamburg, Berlin, Baden-Baden und Dortmund. Vor allen Dingen, wie lange der Intendant, die Programmdirektorin und die Chorleiterin von den Posts wussten – wir bleiben dran.

Neue Biederkeit beim jungen Publikum?

Podcast »Guten Morgen,…« (abonnieren, um keine Folge zu verpassen)

Leipzigs Opernintendant, Tobias Wolff, setzt in seinem aktuellen Spielplan auf Vielfalt! Im aktuellen Podcast »Guten Morgen, Tobias Wolff (hier für alle Player)«, beobachtet er einen Wandel alter Rituale an der Abendkasse: »Die klassische Donnerstagabend-Lucia di Lammermoor-Repertoirevorstellung ist weniger besucht, und auch eine Carmen ist am Samstag Abend kein Selbstläufer mehr. Viele der Wahrheiten von früher gelten heute nicht mehr.« Außerdem entdeckt Wolff eine neue Sehnsucht nach Biedermeier bei einem jungen Opernpublikum: »Es gibt eine junge Generation, die durch die vielen Ereignisse in der Welt verunsichert ist. Und dann hat plötzlich eine Produktion, die man selber vielleicht als etwas betulich wahrnimmt, ein  junges, begeistertes Publikum. Da staunt man und weiß gleichzeitig, dass das seine Berechtigung haben muss.« Außerdem stellt Wolff die 14-Jahre-Regelung in Frage, nach der eine Künstlerin oder ein Künstler dann in eine Festanstellung übernommen werden muss: »Die Regel führt oft dazu, dass man nach 14 Jahren sagt: ‚Jetzt ist Schluss‘. Dabei könnte man gut noch fünf oder sechs Jahre weitermachen. In Österreich ist das anders geregelt – und vielleicht sollten wir darüber auch in Deutschland Mal diskutieren.«   Alle Thesen von Wolff zusammengefasst und den Podcast gibt es hier.

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Krawall in Kassel – und kein Ende

Es macht eigentlich keinen Spaß mehr, aus Kassel zu berichten. Das Orchester pflegt seine Aversion gegen Intendant Florian Lutz – und immer wieder wird der Zoff neu befeuert. Nun legt Francesco Angelico das Amt des GMD nieder und will sich als Chefdirigent nur noch um den Konzertbereich kümmern, bevor sein Vertrag im Sommer 2025 nach acht Jahren auslaufen wird. Sein Stellvertreter plant offensichtlich auch einen Ortswechsel. 

Highlights aus BackstageClassical 

Personalien der Woche I

Die SANCTA-Inszenierung von Florentina Holzinger (Foto: Meklenburgisches Staatstheater, Wytyczak)

Ich zeige hier einfach schon Mal das Bild von Florentina Holzingers Nackedei-SANCTA aus dem Mecklenburgischen Staatstheater. Ehrlich gesagt, beim ersten Anblick kam mir die Überlegung: Vielleicht bin ich jetzt wirklich alt geworden, und jetzt ist eben die Zeit für eine neue Generation gekommen, es turboaffentittengeil zu finden, die Oper mit Nacktheit zu verbinden. Für mich hatte das bereits Johann Kresnik erledigt, später Calixto Bieito. Ja, zugegeben: beides Kerle! Ich werde mir das Holzinger-Spektakel bei den Wiener Festwochen anschauen und mich und meine Meinung dann noch Mal bilden. Gehört Holzingers pseudo-Provokation in Wirklichkeit vielleicht auch zur »neuen Bierderkeit«?  Die New York Times war auf jeden Fall begeistert! +++ In einem merkwürdigen Text in der NZZ raunt nun auch Marco Frei über das Ende der Ära Serge Dorny in München. Neue Fakten gibt es nicht, dafür aber viel »Gefühl« … ich bleibe dabei: die werden sich schon zusammenraufen da! +++  Einen Tag zu spät: Gratulation Neil Shicoff zum 75.! Abgesehen davon, dass dieser Tenor eine einfach großartige (und einmalige) Stimme hatte, verbinde ich mit Shicoff eines meiner ersten Interviews, damals noch für das Opernglas (da habe ich als Student geschrieben): Der Sänger sprach offen über den Psycho-Stress vor den Aufführungen, über das dünne Nervenkostüm und die Erfüllung, wenn dann alles klappt. Danach hat er mich zu einem gemeinsamen Spaziergang durch den Zürcher Zoo eingeladen. Ein großer, dem der BR hier gratuliert.


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62 Minuten über Schönberg

Alle reden über das Bruckner-Jubiläum, Schönbergs 150. Geburtstag wurde bislang ein wenig vernachlässigt. Das wird nun – bis zum eigentlichen Fest am 13. September – anders. Spannend ist die aktuelle Ausstellung (Mit Schönberg Liebe hören) im Arnold Schönberg Center in Wien, die den Komponisten als liebenden Menschen zeigt: Liebesgaben und Briefe an seine Frau (der er aus dem fiktiven »Montebello« schrieb), die Verarbeitung des Todes seiner ersten Frau, die Liebe in seinen Werken – und die liebevolle Erfindungskraft, mit der er seine Familie beglückte. Ausgestellt werden Schönbergs Spielkarten oder sein Koalitionsschach für vier Personen. In der aktuellen Folge von Alles klar, Klassik? widme ich mich 62 Minuten lang dem Leben und Werk Schönbergs: Dirigent Dirk Kaftan erklärt, warum die Zwölftonmethode alles andere als unsinnlich ist, die wohl versierteste Schönberg-Forscherin, Therese Muxeneder, spaziert mit mir durch die Lebensstationen des Komponisten, und die Leiterin des Schönberg-Center, Ulrike Anton, erklärt die wichtigsten Daten des Jubeljahres. Unbedingt reinhören!   

Weimarer Studierende sauer auf Musik-Hochschul-Präsidentin

In Weimar eskaliert der Streit um die Abschaffung des Instituts für Alte Musik (wir hatten berichtet). Nun protestiert auch Hille Perl: »Das Institut für Alte Musik zu schließen und eine so hervorragende Musikerin wie Frau Lina Tur Bonet nicht an ihrem Haus zu halten kann – auch im Hinblick auf die Stellung Weimars innerhalb der ostdeutschen Hochschullandschaft – nur als Fehler interpretiert werden.« Studierende der Hochschule beklagen gegenüber BackstageClassical, dass die Hochschulleitung in ihrer Entscheidung intransparent bleibt und die öffentliche Debatte scheut. Die aktuelle Petition gegen die Schließung des Instituts für alte Musik hat inzwischen über 27.000 Unterschriften gesammelt.

Personalien der Woche II

Es war schon ein wenig erstaunlich, dass Yusif Eyvazov öffentlich auf seinem Insta-Profil über ein Konzert in Russland berichtete und postete: »Thank you Moscow for this unique experience tonight. Missed you and will be back soon.« Ausgerechnet in einer Zeit, in der auf europäischen Bühnen die Rehabilitation seiner Frau Anna Netrebko stattzufinden scheint: Mailand, Wien und in Zukunft vielleicht auch wieder Zürich öffnen ihr die Türen, verschlossen bleiben sie weiterhin an der MET in New York und in Salzburg. +++ Im Bad Blog of Musick berichtet Arno Lücker über eine E-Mail von der rbb-Programmdirektorin Martina Zöllner, in der sie unter anderem erklärt »… es gibt Menschen, die mit dem Begriff Kultur etwas anderes und vor allem etwas Anstrengendes verbinden«. Lücker nimmt die Mail auseinander und analysiert, was passiert, wenn die Angst vor dem Wort Kultur erst einmal in den »Kultur«-Redaktionen eingenistet ist. Bei BackstageClassical werden wir uns kommende Woche übrigens in einer langen Recherche den Radioorchestern und ihrer Arbeit widmen. Stay tuned! +++ In der New York Times zieht Javier C. Hernández einen eher enttäuschten Schlussstrich unter die Ära von Jaap van Zweden als Chefdirigent des New York Philharmonic, der dort als eher unnahbarer Maestro operierte: »He does not often speak to audiences or socialize with the Philharmonic’s musicians, staff and donors — he does not drink alcohol, considering it a distraction from his musical studies — and he likes to retreat to his office at Geffen Hall after concerts.« +++ Der Dirigent Jan Latham Koenig hat sich schuldig bekannt, Minderjährige in einer Schwulen-App angeschrieben zu haben. Dafür wurde er zu einer 14monatigen Strafe verurteilt, die er aber nicht antreten muss, da er bereits öffentlich gelitten habe, sagte der Richter. +++ Riccardo Muti findet, dass Frauen derzeit besser dirigieren als Männer: »Ich widme einen Teil meiner Zeit der Akademie für junge Dirigenten, die ich vor einigen Jahren gegründet habe«, sagte er dem BR, » (…) Ich muss übrigens sagen, dass in den letzten Jahren die Dirigentinnen mit wenigen Ausnahmen viel besser waren als die Männer. Das ist meine Zukunft, jungen Dirigentinnen und Dirigenten beizubringen, dass es wichtig ist, nicht zu vergessen: Der Dirigent trägt die meiste Verantwortung.« Na denn.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Anna Maria Mozart. Wird Ihre Rolle in der Musikgeschichte vergessen?

Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Vielleicht ja hier! Letzte Woche hatte Thomas Schmidt-Ott vom DSO auf BackstageClassical über die Geschichte der Diskriminierung der Frau in der Musikgeschichte geschrieben. Darauf antworteten Dorothee und Henry C. Brinker und erklärten, warum die Musikgeschichte in ihrer Sicht eher »eine Feier der Frauen« war. Tatsächlich habe ich BackstageClassical genau dafür gegründet: Rede und Gegenrede. In den sozialen Medien zeigte sich dann, dass es selbst in diesen Themen möglich ist, gepflegt miteinander umzugehen. Und tatsächlich hatte Ott Brinker zum Feminismus-Symposium nach Berlin eingeladen (zog die Einladung dann aber auf Grund der Spontanität wieder zurück). Trotzdem: Gut, dass wir die Musik nutzen, um über wichtige Themen unser Gesellschaft zu streiten. Aus allen Richtungen!

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif.

Ihr 

Axel Brüggemann

redaktion@backstageclassical.com

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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»Ich muss der Welt abhanden kommen«

Bayreuths Brünnhilde Catherine Foster über den Mythos der Bayreuther Festspiele, die exzessive Vorbereitung für ihre Stimme auf ihre Rollen und den Sinn des Regietheaters. 

Buhs für SWR Orchester-Leiterin Haane

Der SWR steht in der Kritik: Das Abo-Publikum, Orchester-Fans, ein Großteil der Presse und offensichtlich auch einige Partner kritisieren das Festhalten an François-Xavier Roth.

Lieber Markus Hinterhäuser,

Die Salzburger Festspiele beginnen, und Axel Brüggemann hat eine etwas längere Postkarte an den Intendanten Markus Hinterhäuser geschrieben – aus Gründen.