»Ich bekämpfe die schwarzen Seiten in mir«

Juli 23, 2024
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Ausrine Stundyte als Katja Kabanova (Foto: Oper Bergen)

Die Sängerin Ausrine Stundyte singt bei den Salzburger Festspielen in der Dostojewski-Oper »Der Idiot«. Ein Gespräch über Dämonen, verlorene Zehen und Mirga Gražinytė-Tyla.

Wenn sie die Bühne betritt, ist der Ausnahmezustand angesagt. Sie hat von Tradition überfrachtete Rollen wie Tosca und Salome mit frischer Unvoreingenommenheit neu gedeutet und rätselhaften Figuren wie Renata in Prokofjews Der feurige Engel und Jeanne in Pendereckis Die Teufel von Loudun beklemmende Präsenz verliehen. Ihr Aufsehen erregendes Rollendebüt als Elektra bei den Salzburger Festspielen, mitten in der Corona-Pandemie 2020, hat Ausrine Stundyte endgültig in die oberste Liga des internationalen Opernbusiness katapultiert. Im Juni hat man sie in Lyon als Emilia Marty in Die Sache Makropulos bejubelt. Im Herbst wird sie mit Christof Loy an der Deutschen Oper Berlin Respighis La fiamma erarbeiten. Doch zunächst kehrt sie für Mieczyslaw Weinbergs Dostojewski-Oper Der Idiot in der Regie von Krzysztof Warlikowski nach Salzburg zurück. Im Interview mit Monika Mertl spricht die litauische Sopranistin über nährende und zehrende Rollen, späte Karriere und versäumte Mutterschaft sowie über ihre Lust, sich auf der Bühne zu verschwenden. 

Frau Stundyte, wieviel müssen Sie über eine Figur wissen, wenn Sie sie darstellen? 

Am Anfang habe ich in der Vorbereitung immer möglichst viel gelesen und recherchiert, aber ich habe festgestellt, dass es nicht wirklich weiterhilft. Jeder Regisseur kommt mit eigenen Ideen, auf die ich mich einlassen muss. Also habe ich irgendwann damit aufgehört. Ich bin keine intellektuelle Sängerin, sondern gehe die Rollen mehr von der emotionellen Seite an. Ich studiere die Partie musikalisch ein und versuche, den Charakter der Figur durch die Musik zu fühlen – was resoniert in mir, wo erkenne ich mich? Nach dem Konzeptionsgespräch fängt dann die konkrete Vorbereitung an, oft anhand von Filmen, die die Regisseure mitbringen. Die schaue ich mir an und versuche, emotionell einzutauchen, die spezifische Energie der Figur herzustellen. 

Ihre Domäne sind die todtraurigen, psychisch kranken Frauen, die in ihrer Parallelwelt eingeschlossen sind – sind Sie privat dann ganz anders? 

Jein. Das bin schon ich, ich habe viele solche Persönlichkeitsanteile, aber ich gestalte mein Leben anders. Im Leben suche ich Harmonie, Glück, Leichtigkeit. Ich habe diese schwarzen Seiten in mir, aber ich bekämpfe sie. Tief in meinem Innersten bin ich ein Eremit. Wäre ich nicht Opernsängerin geworden, würde ich vielleicht im Wald leben. Dieser Beruf rettet mich vor dem Schicksal der Protagonistinnen. 

Wie weit darf die Identifikation mit einer Rolle gehen, ohne dass Sie sich selbst gefährden? 

Oh, ich gefährde mich! Ich gefährde mich, egal, wieviel das kostet. Aber wenn ich mich nicht mit der Figur verschmelze, belüge ich das Publikum – und mich selbst. 

Sie haben einmal erwähnt, dass es stärkende und zehrende Rollen gibt – dass eine Elektra-Vorstellung Sie zum Beispiel energetisch aufbaut … 

Elektra ist eine unglaublich starke Frau, und wenn ich versuche, diese Anteile in mir zu erwecken, erwecke ich diese Power. Das fühlt sich sehr gut an. Elektra steht ja nicht bloß für Hass und Rache, das wäre viel zu eindimensional. Sie ist sehr menschlich, eine Kämpferin – das habe ich in mir auch! Jede Opernsängerin muss das haben, sonst schafft sie den Beruf nicht, diese Erwartungen, diese Bewertungen … 

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Ihr Rollendebüt als Elektra 2020 in Salzburg, mitten in der Pandemie, war ein Riesenerfolg, auch für Sie persönlich – wie haben Sie das erlebt? 

Das war schon ein großes Risiko, für mich und für das Festival, meiner Stimme diese Rolle anzuvertrauen, und dieses Wagnis war nur in der Konstellation mit Franz Welser-Möst und Krzysztof Warlikowski möglich. Ich habe mich so intensiv vorbereitet wie noch nie und dachte, ich mache das einmal und danach nie wieder. Dass es dann so gut geworden ist, war wirklich eine Überraschung. Inzwischen habe ich Elektra ja auch in Hamburg und an der Wiener Staatsoper gesungen – ich liebe diese Partie! 

Warlikowski ist einer Ihrer bevorzugten Regisseure. Wann und wie sind Sie einander zum ersten Mal begegnet? 

Das war in Paris für Lady Macbeth von Mszensk von Schostakowitsch, auch eine Rolle, die ich liebe ohne Ende. Ich hatte sie in einer anderen sehr guten Inszenierung gespielt, daraufhin hat man mich von der Opéra Bastille vorgeschlagen. Krzysztof und ich kannten einander damals noch nicht, aber wir haben uns sofort sehr gut verstanden. Ich habe mit den Regisseuren immer ein sehr positives Verhältnis, zum Beispiel auch mit Calixto Bieito, mit dem ich oft gearbeitet habe.

Die Pariser Lady Macbeth war jene Aufführung, in der Sie bei einem Bühnenunfall einen Teil Ihrer großen Zehe verloren haben? 

Diese Geschichte wird wohl auf ewig die Runde machen. Aber wenn ich einen Körperteil verlieren sollte, wenn den Göttern ein solches Opfer gebracht werden sollte, dann war das das kleinste. 

Eine andere signifikante Rolle in Ihrem Repertoire ist die Renata in Prokofjews Der feurige Engel, eine von einer irrationalen Besessenheit getriebene Frau, an der ein Exorzismus vollzogen wird. In der Regie von Andrea Breth im Theater an der Wien haben Sie das in einer Art und Weise gezeigt, die an die Grenzen des Erträglichen ging. Schauen Sie sich eigentlich die Aufnahmen Ihrer Vorstellungen selber an? 

Nein, das fällt mir sehr schwer, wenn, dann erst ganz zum Schluss, wenn die Aufführung abgespielt ist. Die DVD dieser Produktion mit Andrea Breth habe ich bis heute nicht gesehen, und ich werde sie auch nicht anschauen – höchstens, wenn ich in Pension bin. Immer, wenn ich Renata gesungen habe, brauche ich nach Ende der Vorstellungsserie zwei bis drei Monate, um psychisch wieder ins Gleichgewicht zu kommen. 

Ist es Leben auf Probe, wenn Sie in diese Rollen schlüpfen, und Kostüm und Dekoration bilden eine Art Schutz, so dass Sie viel mehr von sich zeigen können, als Sie es in der Realität tun würden? 

Zum Teil ist es sicher Leben auf Probe. Aber Dekoration und Kostüm empfinde ich nicht als Schutz für mich selber – eher für das Publikum. Die Zuschauer denken, dass ich eine Rolle spiele, sie wissen nicht, wieviel ich von mir zeige. Auf der Bühne trage ich keine Kleider, da bin ich nackt. 

Ausrine Stundyte in der Salzburger Elektra (Foto: Salzburger Festspiele, Uhlig)

Und wie gelingt es Ihnen, aus Ihren Rollen wieder heraus und nach Ihren Auftritten wieder »runter« zu kommen? 

Da schaue ich mir gern blöde, naive Filme aus den 1960-er Jahren an, mit Happy-end. 

Wenn man sich als Künstlerin auf so riskante Aufgaben einlässt, ist ein stabiles privates Umfeld auf jeden Fall wichtig, und eine tragfähige Partnerschaft – nicht?

Das ist natürlich sehr wichtig. Ich bin eine introvertierte Einzelgängerin und brauche viel Zeit für mich allein. Zu meinem Freundeskreis zählen nur sehr wenige Menschen, aber das sind wahre Diamanten. Und mein jetziger Partner kann auch gut für sich sein und mir die Zeit geben, die ich brauche. Der hat überhaupt nichts mit Oper zu tun, der mag Opern überhaupt nicht und kommt auch nicht in meine Vorstellungen. Aber das ist ja gerade das Tolle, dass da jemand ist, der Dich ohne das alles bewundert und liebt! 

Diesen Sommer stehen Sie in Salzburg wieder in einer neuen Partie auf der Bühne: als Nastassja Filippowna in Der Idiot von Mieczyslaw Weinberg, es dirigiert Mirga Gražinytė-Tyla, eine Kollegin aus Vilnius! 

Ich freue mich wahnsinnig darauf! Die Musik von Weinberg ist wunderschön, auch seine Symphonien, ich kannte ihn bis jetzt nicht. Und Mirga gilt ja als Weinberg-Spezialistin. Wir haben bisher noch nie miteinander gearbeitet. 

Backstage-Material der Tosca in Seattle

Mirga Gražinytė-Tyla ist nicht nur eine international erfolgreiche Dirigentin, sie ist auch Mutter dreier Kinder. Für Frauen in künstlerischen Berufen ist es immer noch ungewöhnlich und schwierig, das zu vereinbaren. Wie stehen Sie dazu? 

Für mich hat es sich nicht ergeben. Ich hatte immer auf den Ruf gewartet, ein Kind zu bekommen, so wie ich den Ruf verspürt habe, Sängerin zu werden. Ich dachte, der Wunsch nach Mutterschaft müsste so stark sein, dass er wichtiger ist als alles andere. Aber das ist nicht passiert. Jetzt ist es so, dass mein Partner Kinder hat, die ich gewissermaßen miete. Es macht Spaß, die verrückte Tante zu sein! 

Und wie ist der Ruf zum Singen erfolgt? 

Ich komme aus keiner Musikerfamilie, bin mehr oder weniger auf dem Land aufgewachsen, aber meine Eltern haben mir als Kind viele außerschulische Aktivitäten geboten – Theater, Malen, Tanzen, Singen. Nichts hat mich so besessen gemacht wie das Singen, das war wie eine Droge. Als ich zu Hause gesagt habe, dass ich Opernsängerin werden will, sind meine Eltern fast vom Stuhl gefallen, und meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich auch einen anderen Beruf ergreife. Das ist absolut vernünftig, weil es den Druck wegnimmt. Daher habe ich parallel zu meiner Gesangausbildung an der Universität Sozialarbeit studiert, nebenbei habe ich eine Zeitlang ein Nagelstudio betrieben. Aber der Ruf zum Singen war einfach stärker als alles andere. Ich habe ja keine Naturstimme, ich musste sehr viel kämpfen, um zu »meiner« Stimme zu finden, aber ich habe gemerkt, dass ich trotz aller Hindernisse arbeiten konnte ohne Ende. So habe ich alle Schwierigkeiten überwunden. Alles andere hat mich nur gequält, weil ich keine Leidenschaft verspürt habe. 

Ihre Professorin an der Musikakademie in Vilnius war Irena Milkeviciute, die Mutter von Asmik Grigorian. 

Ach, die Welt der Oper ist so klein! Bei Asmik muss ich mich bedanken, denn sie hat mich genau genommen auf den Weg gebracht. Ich war die Lieblingsschülerin ihrer Mutter, und als Asmik dann bei ihr Unterricht nahm, dachte ich: Jetzt muss ich weg. So bin ich an die Hochschule für Musik und Theater in Leipzig gegangen, und von Leipzig ins erste Engagement in Köln. Wäre ich in Litauen geblieben, wäre ich vielleicht Sängerin am Nationaltheater geworden … 

Asmik Grigorian war in Salzburg die Chrysothemis, aber abgesehen davon singen Sie beide ungefähr das gleiche Fach … 

Ja, aber ich empfinde das nicht als Konkurrenz, wir sind doch sehr unterschiedlich. Ich habe großen Respekt und große Bewunderung für sie. Ich kannte sie in Litauen noch gar nicht, aber während der „Elektra“-Proben haben wir uns angefreundet. 

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Wie eng ist Ihre Beziehung zu Litauen jetzt? 

Ich komme regelmäßig nach Hause, besuche meine Familie und meine Freunde, ab und zu singe ich dort. Man kann seine Wurzeln nicht ausreißen, aber durch die Jahre in diesem Beruf ist so ein komisches Gemüsemix aus mir geworden, ich bin weder Apfel noch Birne, gehöre nicht mehr wirklich nach Litauen, aber auch nicht nach Deutschland. In Belgien, wo ich meinen Wohnsitz habe, liegen nur meine Koffer. 

Wie ist die Stimmung in Litauen angesichts des Krieges in der Ukraine? 

Das Thema ist bei uns sehr aktuell, die Situation ist viel brisanter als hier im Westen. Denn es ist ja klar, dass wir das nächste Ziel sind, falls Russland seine Offensive ausdehnt. Das spürt man sehr stark. 

Wohin geht Ihre künstlerische Entwicklung, was planen Sie, was »muss« noch sein? 

Für April 2025 ist in Amsterdam mein Debüt als Färberin in Die Frau ohne Schatten fixiert. Aber ich plane überhaupt nix, denn es kommt ohnehin immer ganz anders. Ich hatte geplant, mit vierzig aufzuhören, aber da ging’s bei mir erst richtig los! So lange es läuft, läuft es, und wenn’s nicht mehr läuft, werde ich mich nicht mit Zähnen und Klauen festklammern. 

Es gibt aber doch noch tolle Rollen, die auf Sie warten! 

Wenn ich einen Wunsch habe, dann ist das Brünnhilde – an einem schönen Haus, mit einem verständnisvollen Dirigenten. Das Finale der Götterdämmerung wollte ich immer schon singen! Brünnhilde ist die einzige Wagner-Figur, die mich interessiert. Wagner entwirft ja keine komplexen menschlichen Charaktere, seine Figuren sind Träger von Ideen, und dabei sind die Soprane am wenigsten interessant! Ansonsten … ich habe bis jetzt alles gesungen, was ich wollte. Höchstens etwas Lustiges würde ich noch gern machen, zum Abschied! Wobei – lustige Opern gibt es eigentlich kaum. Aber vielleicht schreibt jemand etwas für mich …  

Monika Mertl

Monika Mertl ist freie Autorin und Kulturpublizistin in Wien. Ihre größte Liebe gilt seit früher Kindheit der Musik, studiert hat sie allerdings Theaterwissenschaft, deutsche Literatur und romanische Sprachen, sie hat eine praxisorientierte Ausbildung als Journalistin absolviert und als Dramaturgin im Theater gearbeitet. In ihrer Laufbahn als Kulturjournalistin ist sie dann sehr schnell doch bei der Musik gelandet. Ihre berufliche Leidenschaft gilt der Begegnung mit außergewöhnlichen Künstlerpersönlichkeiten.

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