Thomas Schmidt-Ott, Orchesterdirektor des DSO, hatte an dieser Stelle in seinem Essay »Wann entstand die Frauenfeindlichkeit in der Musik?« darüber geschrieben, wann die Frauen von der Bühne verdrängt wurden. Dorothee und Henry C.Brinker haben einen anderen Blick auf die Geschichte. Hier ihre Replik.
Von Dorothee und Henry C.Brinker
Das Capture funktioniert jedenfalls. »Wann entstand die Frauenfeindlichkeit in der Musik?« titelt Dr. Thomas Schmidt-Ott auf BackstageClassical – und verblüfft mit dieser zeitgeistig steilen, in Frageform vertrauenserweckend harmlos formulierten These, dass in der Musik Frauenfeindlichkeit herrscht. Wie bestellt grollt aus den Social-Media-Schützengräben prompt das Artilleriefeuer des kalkulierten Widerspruchs, ein Parameter für Erfolg.
Worum geht’s? Der Orchesterdirektor des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin sieht eine Unterrepräsentanz von Frauen in der Musik und führt in einer Lesezeit von 13 Minuten aus, warum das so ist, warum das so wurde. Dass der Doktor irgendetwas Großes ausbrüten würde, war schnell nach seinem Amtsantritt klar.
Wie wir jetzt wissen: Feminismus im Konzerthaus. Der Kick-Off-Event ist für den 2. Juni terminiert: »Kultur für alle, von allen und mit allen« heißt das Symposium über feministische Musikpolitik. Das Ankündigungsplakat mit einer stilisierten, bunt schillernden Vulva läßt keine Zweifel an Schmidt-Otts Entschlossenheit zu. Der musikalische Kreuzzug für das ewig Weibliche in der Musik steht in den Startlöchern. Aber mal ehrlich: wäre der Bierbrauer nicht besser im Stadion mit Taylor Swift auf der Bühne aufgehoben? Da darf er sogar bei laufendem Programm aus dem großen Plastikbecher Bier trinken.
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Denn wer das globale Musikleben spartenübergreifend betrachtet, fragt sich, ob nicht ein entscheidender Teil der musikalischen Realität einfach ausgeblendet wird. Nur 1,8 % beträgt der Anteil der Ernsten Musik/Klassik am Musikmarkt, Jazz und Volksmusik noch weniger, der Rest ist Pop. Und dort ist alles anders, als es angeblich in der E-Musik ist. Der Anteil der Künstlerinnen, die im vergangenen Jahr an den größten Chart-Hits in den USA beteiligt waren, ist auf 35 Prozent geschossen. Das ist ein Höchststand, wie aus einer Studie der University of California hervorgeht. Zum zweiten Mal in Folge ist der Anteil von Künstlerinnen in den populären Charts gestiegen. Dies sei ein bemerkenswerter Meilenstein und wert, gefeiert zu werden, sagte Forschungsleiterin Stacy Smith in einer Sendung des Deutschlandfunks. Die Grammys in diesem Jahr: weitgehend Frauensache, wenn auch meist von Männern produziert, das ist dann wieder ein bisschen wie bei Dr. Schmidt-Ott und seinen Musikerinnen.
Aber bleiben wir doch noch bei den Betrachtungen im Aufsatz, um den es hier geht. Das Patricharchat sei es, dass seit 2.500 Jahren die Frauen in der Musik unterjoche, so Schmidt-Ott. Ganz schlimm dabei: die Kirche. Dabei hat doch gerade sie für die Frauen als musikalische Akteure Spielräume öffentlich-offiziellen Musizierens geschaffen, die andernorts so nicht exisitierten. Viele Beispiele finden sich im gerade erschienenen Buch von Arno Lücker „250 Komponistinnen“. Die erste Komponistin notierter Musik: die Nonne Cassia, in Byzanz um 800 eine Meisterin der Gregorianik, bis heute geschätzt. Dabei war es zu ihrer Zeit unüblich, dass Komponisten namentlich in Erscheinung traten, ganz egal ob Mann oder Frau.
Von durchgängiger Frauenfeindlichkeit in der Musikgeschichte zu sprechen, verbietet sich aber auch aus ganz anderen Gründen. Im Digitalen deutschen Frauenarchiv findet sich reiches Material. Der mittelalterliche Minnesang hat es über spätere geistliche und weltliche Madrigale, Motetten und Kantaten-Werke, die Oper, das Kunstlied, Operette und Musical geschafft, die Liebe zur Frau zu dem zentralen Thema der Musik werden zu lassen, bis heute und über alle Sparten. Gerade fand in Hamburg ein Konzert zum Thomas-Selle-Jahr statt: der vor allem Kennern der Alten Musik bekannte Komponist schuf Anfang des 17. Jahrhunderts mit einer Vertonung des Salomonischen Hohelieds der Liebe das einzigartige Zeugnis einer musikalischen Sangesfeier zu Ehren der Geliebten. Musik spiegelt auch eine biologische Konstante der Menschheitsgeschichte wider, die heute gern geleugnet wird: der Mann wirbt um die Gunst der Frau, auch mit Musik.
Texte über Feminismus auf BackstageClassical
- Marlene Brüggen über Anfeindungen gegen feministische Klassik-Programme.
- Thomas Schmidt-Ott über die Musikgeschichte der Frauenhttps
- Holger Noltze über »Diversity Töröö« in Konzertprogrammen
Von Musik nur als Kunst in der Öffentlichkeit zu sprechen, als einer Kultursparte für professionelle Akteure, als Sammlung schriftlich dokumentierter Klangerfindungen wird der wahren Natur von Musik nicht gerecht. Musik ist die Sprache der Seele, hier leisteten und leisten Frauen Unglaubliches. Ihre »Vermittlunsarbeit« beginnt mit der Zuwendung der Mutter im ersten Gesang für Ihr Kind. Es könnte diese kulturgeschichtlich wichtige Prägung für ein Leben mit Musik sein, die uns heute am meisten fehlt.
Wir öffnen die Konzertprogramme für Komponistinnen, während immer mehr Kinder auf das Schlaflied der Mutter als musikalische Initiation verzichten müssen. Mütter unserer Zeit sind so komplex beruflich und privat gefordert, dass für eine zeitvergessene, musikalische Zuwendung den Kleinsten gegenüber kaum Gelegenheit ist. Es sind die größten Komponisten der Musikgeschichte, die Zeugnis ablegen von der Bedeutung der musikalischen Mütter für ihre Kunst. Als Johann-Sebastian Bach im Alter von neun Jahren seine Mutter verlor, hatte sie ihn musikalisch so weit begleitet, dass er mit seiner schönen Stimme im Choreinsatz das Familieneinkommen aufbessern konnte. Mozart schrieb nach dem Tod seiner Mutter, die ihn auf einer Paris-Reise begleitet hatte, herzzerreißende Briefe an Freund und Vater, es war DER Verlust seines Lebens. Auch Beethoven fand für den Tod seiner Mutter am 17. Juli 1787 erschütternde Worte: »Sie war mir eine so gute und liebenswürdige Mutter, meine beste Freundin. O! Wer glücklicher als ich, da ich noch den süßen Namen Mutter aussprechen konnte, und der wurde gehört, und wem kann ich ihn jetzt sagen?«
Brahms hätte seine Mutter am liebsten immer und überall als seine Begleiterin mitgenommen, ihren Tod verarbeitete er im berühmten Deutschen Requiem: »Ja, die Mutter, wenn sie uns genommen wird. Mit der wir so eng waren wie mit keiner sonst. Aus der wir kommen und nach deren Schutz und Geborgenheit wir uns ein Leben lang sehnen. Als meine gestorben war, und wir heraus traten aus der Halle, da brach ein Gewitter los, das uns Hören und Sehen verging, eigens vom Teufel inszeniert.« Die Liste der Frauen und Mütter, die auf die denkbar persönlichste Weise Musikgeschichte mitschrieben, ließe sich beliebig erweitern. Diese zahllosen großen Frauen und ihre Leistungen einfach zu vergessen, ist unwürdig und verfälscht die Musikgeschichte.
Man könnte es auch Frauenfeindlichkeit nennen.
Dorothee und Henry C.Brinker leiten den Speicher am Kaufhauskanal in Hamburg.
(Gastartikel geben nicht die Meinung der Redaktion wieder)