
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
verrückte Zeiten verändern auch die Welt der Musik! Heute blicken wir in die USA, nach Berlin und nach Österreich – Wandel allerorten. Nur UNISONO bleibt wie immer. Aber es gibt auch Lichtblicke: in Gstaad und in Stockholm!
Welt aus den Fugen
Heieieiei, da gerät gerade etwas ganz schwer durcheinander: US-Vize JD Vance hat Europa mit einer einzigen Rede zum Aufwachen gezwungen. Nun geht es wohl auch darum, dass wir uns möglichst schnell wieder auf unsere eigene (Kultur)Tradition besinnen. Donald Trump hat derweil die Präsidentschaft des Kennedy Center übernommen und »woke« Angestellte rausgeschmissen. Sängerin Renée Fleming war das zu viel – sie trat als Beraterin zurück. Etwas Aufatmen in Österreich: Eine Rechts-Rechts-Regierung unter FPÖ-Chef Herbert Kickl ist (erst einmal) vom Tisch. Aber wir vergessen nicht, wie lange und still die Kulturschaffenden in Wien abgewartet haben, aus welcher Richtung der Wind in Zukunft weht (wir haben bei BackstageClassical in einer Reportage darüber berichtet). Und Deutschland? Wir haben noch die Wahl: In den derzeitigen Debatten spielt Kulturpolitik keine Rolle – aber was es bedeuten würde, wenn die AfD die Macht bekäme, habe ich in einem ausführlichen Essay beschrieben.

Ja was denn nun: Publikum oder Staat?
Nein, ich bin kein Freund davon, wie Gerald Mertens, der Geschäftsführer der Orchestergewerkschaft Unisono argumentiert. Ich finde, er redet die Situation von Orchestern und Veranstaltern zu leichtfertig schön, um nötige Transformationen zu vermeiden und einen Standard von gestern zu bewahren, der in Zukunft wohl kaum haltbar ist. Auch diese Woche hat Mertens wieder (weitgehend aus dem Bauch heraus, oder wie es heißt »nach Stichproben«) behauptet, dass die Klassik kein Nachfrageproblem habe, dass die Konzerte überall voll seien. Fakt ist: Mit 14.988 Veranstaltungen hat der Konzertbetrieb der 129 Kulturorchester und sieben Rundfunkchöre in Deutschland wieder das Niveau vor der Corona-Pandemie erreicht. Mertens Problem: Staat und Politik, würden trotz Erfolgen sparen und Gelder kürzen. Aber sind die Sparmaßnahmen, die offensichtlich kaum Wählerstimmen kosten, nicht Beweis genug, dass sich die Akzeptanz der Klassik in der Öffentlichkeit verschiebt – und dass unsere Kulturinstitutionen neue Wege finden müssen, um ihre Arbeit zu begründen (und zu finanzieren)? Am 31. Mai geht Mertens in Ruhestand – ob die Orchestergewerkschaft sich dann mutiger den Realitäten stellt?
Sind private Kulturfestivals besonders innovativ?
Das behauptet jedenfalls Christoph Müller. Er gibt dieses Jahr die Leitung des Gstaad Menuhin Festivals nach 24 Jahren ab. Müller hat neben den »Programm-Rennpferden« immer auch auf eine Profilschärfung gesetzt: Dirigentenworkshops, eigenes Orchester, innovative Experimente und Digitalisierung. Im BackstageClassical-Podcast spricht er darüber, wie wichtig Transformation in der Musik gerade jetzt ist. Das Gstaad Menuhin Festival unter dem Motto »Migration« startet am 18. Juli, danach wird Müller das Festival Settimane Musicali Ascona im Tessin neu aufbauen und ausrichten.
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Mehr als nur ein Umzug
In den Räumen des Wiener Musikvereins haben Béla Bartók, Kurt Weill, Alban Berg oder Leoš Janáček ihre Verträge mit der Universal Edition abgeschlossen. 110 Jahre lang war das Haus Stammsitz des Verlages – dafür sorgte ein traditioneller Mietfrieden. Doch damit ist nun Schluss: Der Musikverein wird die Räume in Zukunft selber nutzen und an andere vermieten. Der Verlag wird auch seinen zweiten Wiener Sitz aufgeben und sich neu orientieren. Das bestätigten Musikvereins-Intendant Stephan Pauly und Astrid Koblanck vom Verlag gegenüber BackstageClassical (hier die ganze Geschichte). Der britische Journalist Norman Lebrecht kommentierte die BackstageClassical-Nachricht mit: »Das Ende einer Epoche der Modernen Musik, fast das Ende der Zivilisation.«
Hofnärrisch oder ChiChi-Chialo?

Gehen wir einmal davon aus, dass sich CDU und SPD nach der Bundestagswahl über eine Koalition verständigen müssen. Dann gibt es zwei aussichtsreiche Kandidaten für die Nachfolge von Claudia Roth (Grüne): Carsten Brosda, Hamburgs effizienten Kultursenator (SPD), oder Joe Chialo von der CDU. Diese Woche konnte man sich in unserer kleinen Klassik-Blase schon ein bisschen wundern: Da haben wir uns wochenlang die Finger wund geschrieben, über Joe Chialos Berliner Streichkonzert, über seine Personalführung, seine Ignoranz gegenüber den Kulturinstitutionen, darüber, wie er seine Staatssekretärin Sarah Wedl-Wilson kaltgestellt hat, und nun das: Olaf Scholz hat mit seinem »Hofnarr«-Satz all das in eine vollkommen neue Richtung verlagert. Ja, Chialo ist ein guter Ablenkungsmanöver-Inszenierer. Mit dem Süddeutschen Magazin hat er gerade über Mode palavert: »Sexy ist nicht die Kleidung an sich, sondern das Selbstbewusstsein, sich mehr zu trauen als die Allgemeinheit», sagte er. »So verstehe ich auch Politik: Für seine Ideen zu kämpfen, dem Gegenwind standzuhalten, ist sexy!« Ich habe mir den Showdown zwischen »ChiChi-Chialo« und dem Kultur-Macher Brosda in diesem Text einmal genauer angeschaut (da wird übrigens auch erzählt, dass Brosda den »Hofnarren«-Schnack überhaupt erst erfunden hat – als Synonym für alle Kultursenatoren!).
Fazıl Say: »Sorge um Zukunft der Klassik«
Der türkische Pianist und Komponist Fazıl Say ist pessimistisch, was die Zukunft der Musik angeht, besonders, »weil zu wenig in Bildung investiert wird«. Der Musiker, der sich immer wieder kontrovers in die Tagespolitik einmischt, ist müde von der Weltlage: »Die Welt versinkt derzeit in so vielen Dramen«, sagt er, »und die Politik findet kaum kluge und menschliche Antworten«. Say ziehe sich derzeit immer weiter in seine eigen musikalischen Welten zurück. Das ganze Interview mit Antonia Munding lesen Sie hier.
Personalien der Woche
Er ist eine der einflussreichsten Stimmen der deutschen Liedermacher-Szene: Wolf Biermann wird für sein Lebenswerk mit dem Deutschen Musikautor*innenpreis der GEMA ausgezeichnet. +++ Ähnliche Meldungen wie von UNISONO gibt es auch aus Österreich: Die Bundestheater verzeichnen Rekordzahlen und einen Jahresüberschuss von 1,4 Millionen Euro. Die Staatsoper ist fast täglich ausverkauft, die Volksoper steigert ihre Auslastung auf 87,2 %. Trotzdem warnt Holding-Chef Christian Kircher, dass Planungssicherheit nur noch für etwa eineinhalb Jahre gegeben sei. +++ Anna Netrebko hat auf Instagram gerade einen Film zu ihrem 30. Bühnenjubiläum vorgestellt. Zu sehen auf dem YouTube-Profil ihres Managers Miguel Esteban. Nun ist der prominenteste deutschsprachige Künstler, der in der Doku über »die Netrebko« redet ausgerechnet Justus Frantz! Deutschlands ehemaliger Klassik-Onkel und Klavierspieler, der noch heute in Russland auftritt und immer wieder für eine Annäherung des Westens an Putin wirbt. +++ Die Klarinettistin Sabine Meyer beendet ihre Karriere und will sich mehr Zeit für das Klavierspiel nehmen. All das erzählt sie in einem launigen Interview Markus Thiel vom Merkur. +++ Die Sängerin Edith Mathis ist am 9. Februar in Salzburg verstorben – kurz vor ihrem 87. Geburtstag.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Dass Kultur andauerndes Neudenken ist, sehen wir immer wieder in der NORDLICHT-Kolumne von Stephan Knies. Er zeigt, wie skandinavische Kulturschaffende sowohl Kultur-Immobilien als universelle Veranstaltungsorte neudenken (etwa am Beispiel der Harpa in Reykjavik) und wie man in Schweden oder Norwegen ein junges Klassik-Publikum erreicht. Dieses Mal geht sein Blick nach Stockholm. Dort feiert das 20-Minuten Format Short Stories Erfolge: Junge Komponistinnen und Komponisten schreiben eine 20-Minuten Oper, bekommen ein Sängerensemble, ein 16-köpfiges Orchester und die Ressourcen der Oper. Das Ergebnis: Ein begeistertes Publikum und ausverkaufte Vorstellungen. Außerdem: Ein spannendes Zukunftslabor der Neuen Musik. Das Neudenken von Musik und Formaten ist hier nicht nur erfolgreich, sondern macht auch Spaß!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif.
Ihr
Axel Brüggemann