»Ich sorge mich um die Zukunft der Kultur«

Februar 12, 2025
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Der Pianist und Komponist Fazil Say (Foto: Borggreve)

Der Pianist und Komponist Fazil Say über Musik in schwierigen Zeiten, über türkische Lehrer und kulturelle Aneignung bei Mozart.  

English summary: Turkish pianist and composer Fazıl Say discusses music in turbulent times, political engagement, and cultural appropriation in Mozart’s „Alla Turca.“ Despite facing prison sentences and concert cancellations, he remains committed to artistic and social expression. Say blends Eastern and Western traditions, introducing Turkish music to Europe while making classical music accessible in Turkey. He reflects on the decline of interest in complex music, concerns over cultural education, and economic struggles affecting the arts. Say is currently composing a mandolin concerto for Avi Avital and aspires to record Bach’s complete works, emphasizing his deep connection to the composer’s mathematical clarity and meditative quality.

Der Pianist Fazil Say hat seine Popularität immer wieder genutzt, um  Missstände zu benennen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, um für Frieden und freie Meinungsäußerung einzutreten. Dabei polarisiert er und musste neben Applaus auch eine Gefängnisstrafe und Konzertabsagen hinnehmen. 

Als Antonia Munding Say am Telefon in Istanbul erreichte, hatte er gerade das piano symphonique-Festival in Luzern eröffnet, Geburtstagsglückwünsche entgegengenommen und vor seiner anstehenden US-Tour (wo er zum allerersten Mal ausschließlich eigene Werke spielen wird!) an einer neuen Komposition gearbeitet. 

BackstageClassical: Fazil Say, Sie haben einmal gesagt, alles was Sie erleben wird irgendwann als Musik aus Ihnen herauskommen. Wie verarbeiten Sie die aktuellen politischen Ereignisse in einer verrückten Welt?

SAY: Die Welt versinkt derzeit in so vielen Dramen, und die Politik findet kaum kluge und menschliche Antworten. Das ist enttäuschend und zermürbend. Natürlich bewegt mich die Tragödie im Nahen Osten besonders, da sie meinen eigenen Lebensbereich berührt. 

Sie haben sich immer wieder in die Politik eingemischt… 

SAY: … ich bin ja sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Letztlich hat sich mein Leben immer zwischen östlicher und westlicher Kultur abgespielt. Ich bin klassischer Musiker mit türkischer DNA. Und es ist mir ebenso wichtig, die klassische Musik einem türkischen Publikum nahe zu bringen wie durch meine Kompositionen und Interpretationen auch in Westeuropa das Interesse an türkischer Musik zu wecken. Natürlich überlege ich mir dabei stets, für wen ich gerade spiele. Wenn ich die Hammerklaviersonate in einer anatolischen Provinzstadt spiele, mag das für ein deutsches klassisch informiertes Publikum zu wild klingen – aber in einer akademisch korrekten Version würde Beethoven dort niemanden erreichen.  

Sie haben in Luzern gerade Mozarts alla turca aus der A-Dur Klaviersonate gespielt –  einen der großen »Ohrwürmer« der Klassik. Er ist inspiriert von einer bestimmten Vorstellung, wie türkische Musik klingt – zu einer Zeit, wo man in Westeuropa orientalische Kultur gefeiert hat. Würde man Mozart heute kulturelle Aneignung vorwerfen?

SAY: Vielleicht. Aber die Bezeichnung, alla turca ist ja ein Kompositionsstil, der auf die türkische Janitscharen-Musik und auf die Belagerung Wiens durch die Türken zurückgeht. Über Monate hörten die Wiener Tag und Nacht diese durchdringenden Marschrhythmen, die Zimbeln und Pauken. Das hat sich ins Gedächtnis eingebrannt. Bereits Rokoko-Komponisten haben alla turca komponiert, und für die Komponisten der Wiener Klassik war es ein Muss. Es gibt mehr als 150 Musikwerke, die mit alla turca betitelt sind. Mozarts Violinkonzert Nummer fünf, seine Entführung und natürlich der letzte Satz aus der A-Dur Sonate sind wahrscheinlich die prominentesten Beispiele.  Die linke Hand der alla turca aus der A-Dur Sonate imitiert jedenfalls ganz korrekt diese Janitscharen-Rhythmen. Mozart erzählt hier, wie die türkische Militärmusik in die deutsche Kultur eingesickert ist, obwohl er nie die Türkei bereist hat. Aber darauf so eine Melodie zu finden, die Millionen von Menschen kennen und mitpfeifen ohne dass sie sich abnutzt – das ist genial.

Black Earth von Fazil Say

Bach, Beethoven oder Mozart hatten keine Ahnung, wie eine türkische Ney-Flöte klingt oder eine Saz.  In einem Ihrer neuesten Werke, setzen Sie Mozarts Requiem genau diesen Instrumenten aus. Ist Ihr Stück Mozart ve Mevlana auch eine Antwort auf Mozarts alla turca? 

SAY: Nein, es ist weniger eine Antwort als vielmehr eine Handreichung, oder lieber eine Hommage an die großen Künstler Mozart und Mevlana. Sie sind mir beide sehr wichtig, weil sie verschiedene Welten geprägt haben. Das Stück ist inspiriert von den Texten des Sufi-Philosophen und Dichters Mevlana und Themen aus Mozarts Requiem. Es gab eine wunderbare Uraufführung im KKL Luzern im November 2024. Mit dem Berliner Rundfunkchor und phantastischen Sängern. Und wenn sich auf der Bühne Ney-Flöte und türkische Pauke in die Themen aus dem Lacrimosa mischen, dann verschmelzen tatsächlich die Kulturen. 

Sie haben sich dafür eingesetzt, die erste Generation klassischer türkischer Komponisten bekannter zu machen. Zur 100 Jahrfeier der türkischen Republik übertrug der Deutschlandfunk ein Konzert mit Werken der großen fünf Komponisten: Cemal Resit Rey, Ulvi Cemal Erki, Ferid Alnar, Ahmed Adnan Saygun und Necil Kâzim Akses. Außerdem wurde auch ein Stück von Ihnen gespielt. Hat sich in der Wahrnehmung etwas geändert…?

SAY: Ich habe inzwischen 106 verschiedene Werke der »Türkischen Fünf« aufgenommen. Sie sind alle im Netz verfügbar. Auch avantgardistische Stücke der zweiten Generation, zu der meine Lehrer gehörten. Insgesamt liegen sechs große Alben mit türkischen Komponisten von mir vor. Aber ob das ein Interesse weckt? Also, ich schaue manchmal, welcher Komponist wie oft geklickt wurde, und die Zahlen sind – um ehrlich zu sein –  total schlecht. Okay, das ist bei Schönberg, Berg, Bartok oder sogar Prokofjew ähnlich. Die Akzeptanz für Atonales oder Abstraktes nimmt ab. Vor dreißig Jahren galt Strawinsky noch als spannende Figur in der Musikwelt. Ich zweifle, ob das noch immer so ist.

Kultur war stets ein Gradmesser von Demokratie und Gesellschaft. Wenn die Zwischentöne und die komplexen Strukturen nicht mehr erkannt und anerkannt werden, hat die Demokratie ein Problem? 

SAY: Ich mache mit große Sorgen um die Zukunft der Kultur. Obwohl klassische Musik  weiterhin Publikum in die großen Konzertsäle der Metropolen zieht, scheint es, dass wir weltweit immer mehr Zuhörer verlieren. Auch, weil zu wenig in Bildung investiert wird – ob in Europa oder Amerika. 

Wie ist die Situation in der Türkei?

SAY: In der Türkei ist die Situation dramatisch. Eine musikalische Grundbildung in den Schulen gib es nicht. Es gibt nach wie vor Konservatorien, doch die leiden wie alle Kulturinstitutionen unter der großen Inflation. Vor vier Jahren war ein Euro acht türkische Lira wert, heute sind wir bei 38 Lira! Leider verdienen die Leute aber nicht das Fünffache. Und diese ökonomischen Probleme strahlen natürlich auch auf die Kultur, auf die Musik, die Konzerte aus – auch auf die Erziehung und die Ausbildung. Konservatorien, Orchester oder Opernhäuser rangieren in dieser Situation an letzter Stelle. 

Das sind düstere Aussichten… Was kann man tun…?

SAY: Ich mache weiter. Aber inzwischen ein bisschen mehr für mich selbst. Das alte »Wir-Gefühl« hängt irgendwie in der Luft. Die Solidarität, der Zusammenhalt – wo sind sie geblieben? Aber ja, ich mache weiter, auch, weil am Ende die Hoffnung bleibt, dass es irgendwann wieder besser oder zumindest anders wird.

Kommen wir zu etwas Schönem: Haben Sie heute schon Bach gespielt? 

SAY: Nein, noch nicht. Ich bin am Komponieren. 

Da bin ich neugierig…

SAY: Ein Mandolinenkonzert. Für Avi Avital – ein sehr bekannter Mandolinist aus Israel – und für ihn schreibe ich ein Concerto. Das ist eine monatelange Arbeit –  und ich muss jetzt jeden Tag ran, denn es soll im Spätsommer uraufgeführt werden.

Fazil Say spielt Mozart

Mich begeistern Ihre Goldbergvariationen, die Sie 2022 aufgenommen haben – wie lange hat es gedauert, sie zu erarbeiten?

SAY: Ich weiß es nicht mehr genau. Das war eine Pandemiezeit-Arbeit. Das Werk ist ja gigantisch groß, mit all seinen Fugen und Kanons, und es gibt unheimlich viel Kontrapunkt, den man analysieren und auswendig lernen muss. Bach hat das für ein Cembalo mit zwei Tastaturen geschrieben, da muss jeder Pianist Tricks für sich finden, wie er das auf einen modernen Flügel überträgt. Gerade an den Stellen, wo Hände und Finger übereinander klatschen. Da entsteht erstmal Chaos. Allein daran habe ich wochenlang gesessen – um das für meine eigene Anatomie zu lösen. 

Die Goldbergvariationen sind eine Auftragskomposition, die ein gewisser Graf Kayserling  bei Bach zur »Erbauung in schlaflosen Nächten« bestellte. Das lässt die Interpretation offen, ob er beim Hören einschlafen wollte oder doch nicht lieber die Nacht zum Tag verwandeln….

SAY: Ich glaube, Bach hat beides versucht. Manchmal, um einschlafen zu können….und wenn das schon nicht klappt, dass er sich wenigstens amüsiert. So oder so hat Bach mathematisch ausgefeilt komponiert. Egal ob er sehr ruhige langsame Stücke geschrieben hat oder schnelle Tänze. 

In Luzern wirkten Sie, als ob Sie in einem tiefen Zwiegespräch mit Bach, mit dem Komponisten sind. Manchmal musste ich an Glenn Gould denken , wie er summen auch Sie die Oberstimme mit… 

SAY: Ich summe nicht wie Gould, ich singe wie Say. Im Ernst, ich möchte die Stücke, die ich spiele, am liebsten als eigene Musik verstehen – besser: fühlen. Bei jedem Konzert! Diese Subjektivität macht meine Karriere seit dreißig Jahren aus. Dafür habe ich viel Zuspruch bekommen, aber auch Kritik eingesteckt. Mir ist durchaus klar, dass es aus akademischer Sicht keinen Platz dafür gibt, ein Werk so radikal subjektiv zu interpretieren. Das gilt ja auch für Mozart. Und trotzdem gibt es ein großes Publikum, das dieses Experiment spannend findet – bis heute.

Wenn Sie Bach als Interpret begegnen, schauen Sie dann auch immer als Komponist auf sein Werk? 

SAY: Die Arbeit an einem neuen Stück von Bach ist für mich, als ob ich nach Hause komme. Ich fühle eine tiefe Verbundenheit. Das Geheimnis seiner Musik liegt nicht nur in ihrer Perfektion, sondern gründet in einem besonderen Schwingungsverhältnis. Egal, ob es ein schnelles Stück ist, ein langsames oder dramatisches: Bei Bach schwingt immer die Intelligenz mit, die Klarheit der Mathematik. Bach scheint den Stress, der das 20. und 21. Jahrhundert bestimmt, nicht zu kennen. Mit ihm landet man in einer Meditation. Zugleich gibt es immer wieder Neues zu entdecken und zu lernen. Schon als Kompositionsschüler mit 15 habe ich es geliebt, mit Farbstiften Bach-Fugen zu analysieren. Das mache ich heute noch – eine Arbeit am Schreibtisch, ohne Klavier, um die Formel von perfekter Musik zu verinnerlichen. 

Fazil Say spielt Bach

Bei Ihrem Konzert erlebte man, wie organisch Sie von Bach über Mozart bei Ihrem eigenen Stück Black Earth landen. Am Ende verschmelzen Sie förmlich mit dem Flügel, wenn Sie mit dem Oberkörper im Klavier verschwinden, um die Saiten zu dämpfen. Sie imitieren da die türkische Laute Saz, das Instrument, womit der Sänger Asik Veysel das Lied Kara Toprak spielte, auf das Sie sich beziehen. Und für einen Moment hört man da auch einen Cembalo-Klang…  

SAY: Schön, wenn Sie eine Verbindung von Bach zu Black Earth hören. Aber Kara Toprak war lediglich eine Inspiration. Musikalisch haben meine Komposition und dieses Lied eigentlich nichts miteinander zu tun. Außer die Einsamkeit, die der Liedtext beschwört: »Schwarze Erde, mein einziger Freund«. Die wollte ich unbedingt in meine Klaviermusik einfließen lassen. Ich habe das Stück vor über 25 Jahren komponiert und seitdem sehr oft gespielt, als Zugabe, auch als Programmpunkt. Inzwischen fragen sogar die Veranstalter, ob ich es spielen würde. Immerhin: da hat sich was getan … 

…getan in der Hinsicht, dass Veranstalter inzwischen offener für zeitgenössische Musik sind?

SAY: Was meine eigenen Kompositionen betrifft, ja! In den vergangenen 30 Jahren habe ich viel Skepsis erlebt – generell gegenüber zeitgenössischer Musik. Dafür gäbe es kein Publikum, sie sei zu abstrakt – und wehe man wagte, irgendwelche special effects, wie das Klavier ein bisschen zu präparieren. Und jetzt? Leute fragen nach meinen Werken, ja, da hat sich etwas verändert. Aber ob man insgesamt wirklich offener für neue, zeitgenössische Musik geworden ist, wage ich zu bezweifeln. Hinzu kommen die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz, die wir in ihrem Ausmaß bislang überhaupt nicht erfassen. Eine KI kann mir innerhalb von zwei Minuten ein 18 Minuten langes Stück im Stil von Prokovjews F-Dur Klaviersonate liefern. Eingeweihte merken, dass das nicht authentisch ist, weil sie das Belebte, den Aufschrei vermissen. Aber wer wird das in Zukunft noch wahrnehmen? Ich bin seit 35 Jahren im Kulturgeschäft, und wir erleben gerade eine schwierigste Zeit. 

Nun sind ihre eigenen Stücke ja auch nicht intellektuell abstrakt, sie entwickeln oftmals einen virtuosen Drive, der sich sehr gut mit klassischem Repertoire verbindet…

SAY: Ja, und ich liebe es auch sehr, Interpret zu sein. Ich könnte ohne Bach, Mozart und Beethoven nicht leben. Von Mozart und Beethoven habe ich bereits sämtliche Sonaten gespielt – und wenn ich es schaffe, möchte ich die gesamten Bachwerke auch aufnehmen. Ein ehrgeiziges Projekt, aber ein tiefer Wunsch. 

Antonia Munding

Antonia Munding studierte klassischen Gesang, Musikwissenschaft, Germanistik und Journalismus. Sie war als Sängerin an verschiedenen Bühnen engagiert und arbeitete als Nachrichtenredakteurin. Als freie Autorin veröffentlicht sie unter anderem bei den Frankfurter Heften, Deutschlandfunk Kultur und der Freitag.

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