
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit Russland-Relativierungen, anhaltender Übelkeit bei Quentin Florentina, einem digitalen Dirigenten und einem Telefonat mit Clara Schumann.
Putin, Paul und Moosi – die Russland-Relativierer
Es ist langsam unerträglich, wie der scheidende Intendant der Münchner Philharmoniker, Paul Müller, seine Rolle in der Zeit von Valery Gergiev schönredet. Nachdem Müller bereits in seiner Jahresbroschüre die weiß-blau-rote Pro-Gergiev-Brille aufgesetzt hatte, ist er sich nun auch in einem XXL-Interview mit dem Bayerischen Rundfunk keiner Schuld bewusst – und der geschätzte Kollege Bernhard Neuhoff hakt hier einfach auch nicht konsequent genug nach. Warum ist es so schwer, einzugestehen, dass Müller sich in Gergiev geirrt und in seinen Antworten auf kritische Anfragen jahrelang einen Putin-Protagonisten verteidigt hat? Ich habe Müllers Rolle und Fehler hier noch einmal ausführlich aufgedröselt. Ebenso absurd ist, dass AfD-Cellist und Bundestagsabgeordneter Matthias Moosdorf sich auf seinen Social Media-Kanälen nun als Opfer stilisiert, nachdem zunächst Alexander Strauch, dann BackstageClassical und dann auch t-online und der Spiegel über seine neue Rolle am Moskauer Musikkonservatorium berichtet haben. Alles zu Moosdorfs verquerem Churchill-Vergleich ebenfalls hier.
Clara Schumann getanzt und an der Strippe
Die Musik als Perfektion der Sprache – so zeigt die Choreographin Cathy Marston Clara Schumann in einer neuen Produktion an der Oper Zürich (gemeinsam mit Ragna Schirmer). Marston erklärt im Podcast von BackstageClassical ihren Blick auf die Pianistin und Komponisten, die Dreiecksverhältnisse ihres Lebens und warum gerade in unserer Zeit des Postfaktischen die Kunst eine vollkommen neue Bedeutung der Wahrheit in sich birgt. Nachzuhören ist dieses kurzweilige Gespräch hier. Auch das Schumann-Haus in Zwickau überrascht mit einer Nachricht: Bald soll man hier mit Clara Schumann telefonieren können. Dank KI (und 750 analysierten Briefen von Schumann) könne man hier bald mir Clara sprechen – zu erreichen ist sie dann unter ihrer alten Telefonnummer: 1037.

Berichterstattung bis zum Kotzen
»Erste Hilfe für Publikum beim Nackedei-Theater« hatten wir am Mittwoch berichtet, und einen Tag später titelte die FAZ über die Stuttgarter Aufführung von Florentina Holzingers Sanctus: »In der Oper gewesen, gekotzt«. Am Freitag schließlich eskalierten auch der britische Guardian und der ORF die Sache. In der renommierten österreichischen Nachrichtensendung ZIB2 hieß es reißerisch: »18 Menschen müssen wegen Brechreiz behandelt werden«. Wirklich skandalös ist hier weniger Holzinger Sanctus als die Berichterstattung selber: Zu erst berichteten die Stuttgarter Nachrichten, dann spitzte der Spiegel zu, zitierte Stuttgart-Intendant Viktor Schoner mit den Worten, dass Oper eben »an die Grenze« gehen müsse, und die Presseabteilung des Hauses goss weiter Öl in das Aufregungs-Feuer, um dann zu erklärten: Alles sei ganz anders gewesen. Der Chef des Besucherservices, Maurus Zinser, erklärt nun auf der Homepage des Theaters, dass es oft vorkomme, dass Leuten übel wird – in einer Vorstellung ohne Pause sei das besonders dramatisch. Außerdem hätten sich nicht alle 18 Menschen wegen Unwohlsein gemeldet. »Manche, die den Zuschauerraum verlassen haben, klagten über Unwohlsein, und oft ist dann auch schon mit einem Schluck Wasser geholfen«, heißt es. »Etliche kehrten dann übrigens auch wieder in den Zuschauerraum zurück«. Ein Lehrbeispiel, wie eine vollkommen langweilige Provokations-Nummer (hier unsere einstige Kritik) von der Intendanz und den Medien zum Skandal gejazzt wurde. Es ist das Medienphänomen, das hier wirklich zum Kotzen ist!
Der Kritiker-Rant
Letzte Woche hatten wir über den Clinch zwischen Wiens Volkstheater-Intendant Kay Voges mit einem Kritiker der österreichischen Zeitung Kurier berichtet. Diese Woche war es MET-Intendant Peter Gelb, der bei einer Diskussion zum Rant angesetzt hat. Nachdem mehrere Kritikerinnen und Kritiker die MET-Premiere der Oper Grounded über einen Krieg mit Drohnen verrissen hatten, witterte Gelb eine Intrige. Die Kritiker folgen einer »Agenda«, sagte der Intendant und schoss besonders gegen New York Times-Kritiker Zachary Woolfe. Gelb erklärte, er glaube, dass einige Journalisten erwarten, dass die MET ihre Musikwünsche erfülle, etwa Opern von Elliot Carter oder Stücke, von deren Erfolg er selber nicht überzeugt sei. Auch deshalb würden gerade eingängige Werke von eben diesen Kritikern verrissen werden – nun stecke man in einer etwas verqueren Situation.

Der digitale Dirigent ist da
Es gibt Stücke, die ein Dirigent mit zwei Armen gar nicht allein bewerkstelligen kann. Unter dem Titel Robotersinfonie kamen am Wochende zeitgenössische Werke zur Aufführung, die von Dirigenten-Robotern dirigiert wurden. Zum Teil wurden 16 Blechbläserinnen und Blechbläser sowie vier Schlagwerkerinnen und Schlagwerker von zwei oder sogar drei Roboter-Armen dirigiert. Diese Fähigkeit haben sie vom Intendanten der Dresdner Sinfoniker, Markus Rindt, gelernt, der Initiator des Projektes ist. Zu sehen ist all das hier.
Highlights bei BackstageClassical
- Interview mit der Organisatorin der 3sat-Petition, Katja Riha
- Kritik von Georg Rudiger über den Basler Ring des Nibelungen
- Schröder bejubelt Netrebko: Presselese zum Berliner Nabucco
Personalien der Woche
»Ich werde heute gut schlafen«, erklärte Daniel Barenboim nach dem Antrittskonzert von Christian Thielemann bei der Staatskapelle Berlin. Barenboim selber wurde zum Ehrenchefdirigenten der Staatskapelle und zum Ehrenmitglied der Staatsoper ernannt. »Berlin hat Ihnen viel zu verdanken«, sagte Kultursenator Joe Chialo (CDU) und bedankte sich bei der Staatskapelle für die Musik von »Schöneberg« statt von Schönberg. +++ Das Elektra Tonquartier im Bergson ist eröffnet: 478 Sitzplätze hat der neue Saal, der durch digitale Technik ganz unterschiedliche Sound-Erlebnisse erlaubt. +++ Die Petition gegen das Ende von 3sat hat mehr als 100.000 Unterschriften generiert, mehr als 10.000 Kommentare gab es zum Gesetzesentwurf, der auch vorsieht, 16 Radiosender zu schließen. Erschreckend ist, wie still es innerhalb der Sender geblieben ist – und wie groß die Wut auf die Organisatoren der Petition. +++ In der NZZ fragt Anna Kardos, warum Regisseur Kirill Serebrennikow in seiner Inszenierung von Leben mit einem Idioten von Schnittke auf alle russischen Eigenschaften verzichtet. Und das, obwohl die Oper gerade jetzt ein Zerrbild des aktuellen Russlands abgeben würde. Liegt es am Einspruch von Komponisten-Witwe Irina Schnittke, die neben Berlin auch noch in Moskau gemeldet ist? Merkwürdig ist es allemal. +++ Endlich! Das Theater an der Wien wurde eröffnet. Spielbereit ist es allerdings noch nicht. Mozarts Idomeneo musste konzertant gegeben werden statt in der Regie von Intendant Stefan Herheim. +++ Neue Präsidentin des arte-Vorstandes ist Heike Hempel. Die Journalistin war Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie II und stellvertretende Programmdirektorin des ZDF.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier? Wir bei BackstageClassical versuchen möglichst aktuell zu berichten – und freuen uns, wenn unsere Themen weiter gedreht werden. Besonders freuen wir uns über die dpa-Meldungen, die unsere Artikel generieren, oder die Aufmerksamkeit im Perlentaucher. Manchmal läuft es aber auch anders: Wir waren die ersten nach den Recherchen von Alexander Strauch, die über Matthias Moosdorfs Russland-Engagement berichtet haben – über eine Woche dauerte es, bist t-online und der Spiegel die Geschichte übernommen haben. Besonders amüsiert haben wir uns aber über die Süddeutsche Zeitung: Am 10. September haben wir ein Gespräch mit Julian Rachlin mit einem Zitat von ihm übertitelt: »Wir möchten, dass das aufhört – Und zwar gestern.« Es handelte sich um einen ausführlichen Podcast über den Nahost-Konflikt. Am 25. September schrieb auch die Süddeutsche über Rachlin. Die Zitate im Text erinnern sehr an unser Interview, und die Überschrift der Kollegin, nun ja, war wohl: ein Zufall. Sie lautete: »Die Menschen möchten, dass das aufhört. Und zwar gestern!« (Screenshot hier). BackstageClassical versucht stets, Recherchen anderer Kolleginnen und Kollegen zu benennen (und wenn möglich auch zu verlinken) und Quellen zu kennzeichnen. Das gehört für uns zum journalistischen Grundhandwerk. Nun hoffen wir, dass sich das in der Kulturberichterstattung überall durchsetzt.

Ach ja, wenn Sie die großen Themen der Klassik in launigem Gespräch hören wollen – dann noch dieses: Die neue Folge von Alles klar, Klassik?, dem Podcast der Liz-Mohn-Stiftung ist online, und ich debattiere mit Dorothea Gregor Klatsch und Tratsch ebenso wie ernsthafte Entwicklungen unserer Branche.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif.
Ihr
Axel Brüggemann