Warum ich mich bei Florentina Holzingers »Sancta« so alt fühle und mich das alles so gar nicht berührt.
Bin ich wütend? Nein. Bin ich aufgebracht? Nein. Bin ich angeregt? Eher auch nicht. Bin ich erregt? Schon gar nicht. Irgendwie hat mich Florentina Holzingers neuer Wurf, Sancta nach Paul Hindemiths Oper Sancta Susanna erschreckend kalt gelassen. Nach der Aufführung fühle ich mich vor allen Dingen: ziemlich alt.
Alt im Sinne von abgeklärt. Es ist nicht so, dass ich Holzinger und ihren Jüngerinnen den Exzess nicht gönne. Im Gegenteil: Vögelt auf dem Neon-Kreuz, dass es nur so wackelt, fingert Euch, bis ihr kommt, knutscht Euch beim FKK-Klettern so lange es Spaß macht, und, ja, schneidet Euch in die eigene Haut, wenn es Euch gefällt.
Vielleicht muss jede Generation das Theater immer wieder neu als Ort der nackten Befreiung entdecken. Mir haben die öffentlichen Exzesse schließlich auch Spaß gemacht, damals, am Theater Bremen. Das war zwar noch keine lesbische Aktionskunst, die damals die Gemüter erregte, sondern Johann Kresniks brutaler (und sehr männlicher) Blick auf Baader-Meinhof, Frida Kahlo und unsere Gesellschaft, der mich das Theater als Ort meiner Selbstverwirklichung entdecken ließ. Da gab es auch Blut und Sperma und Nacktheit und Sex. Und ich fand das großartig!
Heute, während der Sancta-Aufführung, ertappe ich mich allerdings dabei, wie ich in Reihe 8, Platz 2 immer wieder auf die Uhr blicke und mein Gehirn von allein abzuwägen beginnt: »Will ich mehr davon? Oder doch lieber das EM-Eröffnungsspiel?« Auf der Bühne wird derweil lustig weiter gevögelt und gesungen und geklettert und gebaumelt und geknattert und geskatet. Worum geht es hier eigentlich?
Ist das wirklich nur eine Generalanklage der katholischen Kirche? Mehr nicht? Dafür der ganze Zirkus? Der Papst als kleinwüchsige Päpstin, die an einem Roboter-Arm rotiert, oder der weibliche Glockenschlägel, der im Schnürboden baumelt? Ach Gottchen: Kippenberger hat doch schon Frösche an Kreuze genagelt, wir haben Körper mit Dartpfeilen beworfen, Künstlerinnen durch das Publikum gequält, Busen im Papp-Kino betastet, Vaginas in Pappkartons gestapelt, Punk-Konzerte in Kirchen abgehalten, Jesus als Brian am Kreuz über die Leichtigkeit des Seins flöten lassen und tausend Mal gerufen: »Gott ist tot!« Ist die Katholische Kirche wirklich noch ein Endgegner für Regenbogen-Hedonisten? Haben die nicht mit Don Giovanni längst die Angst vor dem Tod und damit den Sieg über die Kirche gefeiert?
Es klingt ein bisschen blöde, aber ich habe das alles schon gesehen und komme mir im Theater plötzlich ein bisschen (alters)müde vor. So, als würde mich die Tochter fragen, ob ich vielleicht noch mit in die Disco will: »Mach nur, wird sicher toll – aber ich lese lieber noch ein Buch!« Vielleicht ist das der Grundfehler von Sancta: Es gibt zwar die Altersvorgabe »über 18« – vielleicht wäre eine weitere Empfehlung für ein Publikum »unter 40« hilfreich gewesen.
Schließlich ist das, was da auf der Bühne passiert nur die (viel zu spät!) zur Kunst gewordene Fortsetzung der vollkommen unterschiedlichen Fortsetzungen der Erotik mit anderen Mitteln. Ein Weiterspinnen von Erika Lust oder Rammstein, von consensual Porno und sexueller Pseudo-Provokation. Okay, hier stehen Vaginas statt Schwänze im Zentrum – aber macht das wirklich einen Unterschied? Vor allen Dingen aber ist es immer: billiger Effekt. Und ein wohlfeiles Abarbeiten an Ikonen, nicht nur an Jesus (wer hat ihm diese unlustigen Texte in den Mund gelegt, die Monty Python schon vor 30 Jahren besser konnte?) und an Gott, sondern auch an YMCA und Michelangelo.
Was mich tatsächlich beschäftigt, ist die Frage nach dem Grund des Ganzen. Kresnik (oder Valie Export oder Marina Abramović oder Martin Kippenberger) haben wirklich noch geglaubt, die Gesellschaft zu verändern, würden sich vielleicht als politische Aktivisten verstehen. Das haben Holzinger und ihr Team offenbar aufgegeben. Denn, wie gesagt: die Kirche als Feind (oder Feindin!) zu nehmen, ist eher Konsens statt Provokation. Selbst die Kirche regt so etwas nicht mehr auf. Wie enttäuschend muss es sein, dass lediglich der Salzburger Erzbischof Franz Lackner und der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler die Performance als »respektlose Persiflage« kritisierten.
Geht es am Ende vielleicht nur um Selbstverwirklichung? Darum, ein Publikum für seine eigenen, sexuellen Phantasien zu haben – eine (wirklich perfekt illuminierte) Bühne und sicheren Applaus? Vor dem Theater hat das Wiener MuseumsQuartier gerade eine Pop-Up-Bühne aufgebaut. Vor der Sancta-Aufführung stehen da einige Leute und singen falsche Töne mit Inbrunst oder besprühen Hochzeitskleider mit Sprayfarben-Blut. Selbstdarstellerinnen und Selbstdarsteller. Der ganz normale Großstadt-Wahnsinn! Auf der echten Bühne wirkt diese Art der Selbstdarstellung dann allerdings etwas dekadent. Da draußen geht die Welt unter und auf den Bühnen beschäftigen wir uns mit der Entdeckung unseres eigenen Bauchnabels. Was mich wirklich bewegt, ist, dass es beim Experimentieren mit Kunst und Nacktheit irgendwie seit 30 Jahren nix Neues gibt.
In der zweiten Halbzeit hat Deutschland das Eröffnungsspiel der EM 5:1 gewonnen – es war ein leidenschaftliches Spiel.