Das Handicap der Klassik und eine Stimme für Frieden

Mai 12, 2024
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Der Pianist Paul Wittgenstein hatte nur einen Arm – Ravel, Prokifjef, Hindemith oder Britten haben für ihn komponiert (Foto: Youtube)

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

heute mit einer XXL-Reportage über ein großes Klassik-Tabu: Menschen mit Beeinträchtigungen in deutschen Orchestern. Außerdem: Kirill Petrenko spricht mit Journalisten, Chen Reiss blickt nach Israel, und Düsseldorf führt einen Eiertanz rund um das Opernhaus auf. 

Das große Orchester-Tabu: Musiker mit Einschränkungen 

Das Berliner Utopia-Orchester ist vorbildhaft für Inklusion – aber leider eine Ausnahme (Foto: Utopia Orchester Berlin)

Die Journalistin Antonia Munding hat in den letzten Wochen ausführlich für BackstageClassical recherchiert und dabei festgestellt, dass es in der deutschen Orchesterlandschaft ein gigantisches Tabu gibt: Menschen mit Beeinträchtigungen. Theater und Konzerthäuser haben natürlich rollstuhlgerechte Wege und viele bieten längst besondere Audio-Bereiche an. Aber wie sieht es auf unseren Bühnen aus? Gerald Mertens, Geschäftsführer der Orchestervereinigung, fällt auf Mundings Anfrage nur ein einziger Orchestermusiker mit (sichtbarer) Beeinträchtigung ein. Grundsätzlich scheinen Menschen mit Beeinträchtigung nicht in das uniformierte Bild der Klassik zu passen und stören die routinierten Orchester-Abläufe offenbar. Bislang gibt es weder Erhebungen, wie viele Musikerinnen und Musiker mit Beeinträchtigungen in klassischen Orchestern überhaupt arbeiten, noch gibt es einen eigenen Inklusions-Beauftragten, der sich speziell um die Belange von Orchestermusikern und -musikerinnen mit Handicap kümmern würde. Hornist Felix Klieser sagt gegenüber BackstageClassical: »Wer hat hier eigentlich das Problem? Der Flötist im Rollstuhl oder eine Branche, die einem Rollifahrer kein professionelles Flötenspiel zutraut? Ein echtes Handicap für einen Musiker wäre doch, wenn er ohne Rhythmusgefühl auf die Welt gekommen wäre.« Ich bin gespannt auf die Debatten über Mundings Recherche – und die Bereitschaft der Branche zu Veränderungen.  Gern würden wir das Thema weiter verfolgen – fühlen Sie sich eingeladen, uns zu schreiben.   

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Oh Wunder! Petrenko spricht 

Im fünften Jahr seines außerordentlichen Schaffens stieg der Herr letzte Woche hinab zum schreibenden Volk und sprach (was äußerst selten ist) weise Worte. »Es kann nur bereichernd sein«, sagte der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, über den Generationenwechsel unter seinen musizierenden Aposteln, »weil diese junge Motivation gepaart mit der Erfahrung der Kollegen, die schon Jahrzehnte da sind, das ist das, was ein Orchester braucht.« Und weiter sprach er, dass junge Menschen dabei empfänglicher für eine Idee seien, die vielleicht für Ältere nicht sofort überzeugend ist. Dann schaute der Herr auf die Situation in unserer verrückten Welt, besonders in Israel und Palästina und sagte: »Man muss die Sache fairerweise objektiv von beiden Seiten sehen, muss versuchen, mit beiden Seiten im Dialog zu bleiben – im gegenseitigem Respekt.« Hassparolen, sagte Petrenko, könne man nicht akzeptieren, die Berliner Philharmoniker setzten auf die Wirkung der Töne: »Man kann sehr viel bewirken, weil Musik Brücken baut.« Ach Gott, würde er doch öfter mit uns reden! 

Chen Reiss: »Israel und Gaza brauchen neue Regierungen«

Die Sopranistin Chen Reiss (Foto: Mitchell)

Im Podcast »Guten Morgen, …« von BackstageClassical fordert die Sopranistin Chen Reiss Regierungen in Israel und Gaza. Reiss wurde selber in der Armee ausgebildet, ebenso wie ihr Vater und ihre Geschwister. Sie sagt: »Mein Bruder ist jetzt im Militär. Er wurde am 8. Oktober einberufen, ist sieben Monate an der Front und musste mit 30 Jahren sein Studium der Psychologie unterbrechen. Jetzt befindet er sich seit sieben Monaten in einer lebensbedrohlichen Situation. Das Leben vieler Israelis ist an einem Tag zerstört worden. Wir kämpfen um unsere Existenz. Ich bin sicher, dass unser Militär alles tut, um menschlich zu bleiben und so wenig Zivilisten wie möglich zu verletzen. Ich habe für die aktuelle Situation auch keine Lösung. Aber ich weiß, dass beide Seiten – Israel und Gaza – eine neue Regierung brauchen. Leute, die nicht korrupt sind, sondern einfach nur sehen, was gut für die Menschen ist.«


Diese Woche auf BackstageClassical


Personalien der Woche I

Die Bayreuther Festspiele haben auch dieses Jahr wieder eine Kinderoper im Programm: Der fliegende Holländer in der Inszenierung von Kerem Hillel, um Karten kann man sich ab heute 14:00 beim Anmeldeportal bewerben. +++ Basel debattiert die Opernaufführung Requiem: Eine Besucherin hatte die Vorstellung verlassen und sich an das Boulevard-Blatt 20 Minuten gewandt, weil sie es nicht ertrug, dass ein Kleinkind auf der Bühne zu sehen war (das einmal schrie) und ein Mädchen in einer Szene »geteert und gefedert« wurde. Elena Kuznik, Mediensprecherin des Theaters, erklärt, dass das Baby von der Mutter, die nur ein paar Meter vom Bühnenrand stand, betreut wurde. Die Mutter des älteren Mädchens sei Chorsängerin am Theater Basel und stand selbst mit auf der Bühne. Zwischen ihr und ihrer Tochter habe es viele inhaltliche Gespräche gegeben. +++ Yuval Sharon hat die Veröffentlichung eines Buches angekündigt: in A New Philosophy of Opera will er seine Erfahrungen aus Berlin und Los Angeles Revue passieren lassen und seine Vision »einer anti-elitären Oper« deklinieren. 

Düsseldorfer Trauerspiel

So könnte der Neubau der Düsseldorfer Oper aussehen (Bild: Meyer-Architekten)

Düsseldorfs Oper ist marode. Aber das ist auch schon das Einzige, was sicher ist. Der Rest ist Politik. Eigentlich sollte in Düsseldorf letzte Woche über einen Neubau entschieden werden. Sowohl Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU) als auch die FDP und ihrer Vertreterin Monika Lehmhaus sind für ein neues Haus. Die Grünen melden allerdings Protest an. Grünen-Bürgermeisterin Clara Gerlach will weitere Entscheidungen von der städtischen Finanzlage abhängig machen und hält auch den Standort beim bisherigen Opernhaus an der Heinrich-Heine-Allee für problematisch. Sie befürchtet, dass eine neue Oper mehr Platz benötige und die Baufläche auf den Hofgarten ausgeweitet wird. Der Rheinischen Post sagt Gerlach: »Man muss sich überlegen, was es bedeutet, wenn man eine Vorbildfunktion hinsichtlich der Klimaneutralität 2035 einnehmen will und dann den Hofgarten antastet.« Alles hängt nun also vom Votum der SPD ab. Die wollte ihre Entscheidung im Vorfeld von Zugeständnissen in Sachen Wohnungsbau abhängig machen – Kultur als Ort der Erpressung im Namen der Sozialpolitik. Und dann bat die SPD um eine Verschiebung der Abstimmung – es gäbe noch viele offene Fragen. Ob es in Düsseldorf wirklich noch um Kultur geht? 

   

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Personalien der Woche II

Das Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck bekommt zwei neue Briefe des Komponisten. Johannes Brahms sei ein virtuoser Briefschreiber, erklärte Institutsleiter Wolfgang Sandberger. »Beide Schreiben spiegeln die feine Ironie und den Witz des Komponisten wider und ergänzen unsere Sammlung auf hervorragende Weise.« +++ Selbst in einem der teuersten und modernsten Konzerthäuser können Kleinigkeiten ganz groß werden: Eine Geschirrspülmaschine im 13. Stock der Elbphilharmonie löste einen Feueralarm aus. Auf dem Programm stand unter anderem Im Dunkel vor der Dämmerung, ein Stück des ukrainischen Komponisten Vladimir Tarnopolski. Dirigent Nagano musste das Konzert unterbrechen, die Feuerwehr rückte an – dann ging es weiter. BackstageClassical zeigt, wie gut man auch auf Küchenmaschinen musizieren kann. +++ Das Forum Musikwirtschaft startet eine große Umfrage und untersucht das Standing der Branche nach der Corona-Pandemie. So soll der Markt resilient aufgestellt werden. BackstageClassical unterstützt die Aktion.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Ich war diese Woche am Theater in Dortmund. Dort hat Intendant Heribert Germeshausen den Kosmos Wagner einberufen. Neben der Premiere von Peter Konwitschnys Rheingold (Besprechung hier) diskutierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Journalistinnen und Journalisten und Künstlerinnen und Künstler über neue Wege der Musik: Wagner-Experte Sven Friedrich provozierte mit der These, dass Wagners religiöse Anspielungen hauptsächlich Theaterdonner und Opern wie Parsifal oder Lohengrin alles andere als christliche Werke seien: Es ginge immer um die Selbsterlösung des Menschen, statt um die Erlösung durch Gott. Es wurde die Rezeptionsgeschichte Wagners ebenso debattiert wie neue Formen der Oper, etwa durch Gegenwartskomponistinnen wie Kathrin A. Denner, Sarah Nemtsov oder Elnaz Seydi. NRWs Kulturministerin Ina Brandes (CDU) erklärte in einer Podiumsdiskussion, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen einer regen öffentlichen Debatte gäbe, in der Auftritte politisch umstrittener Künstlerinnen und Künstler diskutiert würden und der großen politischen Freiheit, in der die Kultur auch weiterhin souverän agieren könne. Es gäbe keine politisch motivierte Cancel-Culture, sagte Brandes. Ob Auftritte abgesagt werden, läge weitgehend in der Hand der Veranstalter. Die Kulturpolitik dürfe sich in künstlerische Entscheidungen nicht einmischen.  Drei diskussionsreiche Tage, die gezeigt haben, wie gegenwärtig Musiktheater sein kann. 

Wenn Sie jetzt immer noch nicht genug von Klassik-Themen haben, dann hören sie die aktuelle Folge von Alles klar, Klassik?, in der Dorotha Gregor und ich die aktuellen Themen der Musik im Podcast debattieren (hier für alle Player). 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif

Ihr

Axel Brüggemann

redaktion@backstageclassical.com

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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