Das Beethoven-Haus in Bonn nähert sich in einer Ausstellung Leonard Bernstein und Ludwig van Beethoven, Martin Haselböck entdeckt die Neunte neu. Ein Tag auf den Spuren Beethovens.
Was ist denn das? Zwei Löcher in einem Exponat des Beethoven-Hauses? Offensichtlich von einem Büro-Locher, mitten in der Eintrittskarte für die Ode an die Freude zu Weihnachten nach dem Mauerfall in Berlin, die Leonard Bernstein in eine Ode an die Freiheit umgeschrieben hatte. Normalerweise fürchten Museums-Kuratoren ein beschädigtes Dokument wie Beethoven einen Tag ohne Wein-Nachschub. Aber in diesem Fall sind die Löcher Zeugnis der Lebendigkeit eines Museums, seiner Themen und der Musik generell.
Die Eintrittskarte gehört dem Leiter des Beethoven-Hauses Bonn, Malte Boecker. Das Bernstein-Konzert war für ihn ein musikalischer Meilenstein, und nun, zum 200. Jubiläum der Neunten, hat er beschlossen, Leonard Bernstein und seinem Verhältnis zu Beethoven eine Sonderausstellung zu widmen – aus eigener Leidenschaft heraus. Und es zeigt sich: Das ist keine schlechte Motivation. Die Ausstellung ist nur einen Raum klein, aber ein gigantischer Kosmos musikalischer Weltgeschichte.
Ludwig van Beethoven – das lernt man hier – war Hausgott bei Leonard Bernstein. In seinem Komponierzimmer hing ein Bild mit sechs Komponisten-Größen von Schubert bis Beethoven, das letzte Porträt zeigt Bernstein selber. Er liebte es, mit »Leonard van Bernstein« zu unterschreiben (etwa ein großes Poster mit Andy Warhols Beethoven-Porträt) und schrieb auf einen Umschlag, in dem Beethoven-Sammler Romain Rolland einen Beethoven-Brief aufbewahrte: »LB (leider nicht van)«.
Die Bonner Ausstellung geht auf Spurensuche und findet immer wieder Beethoven-Zitate im Werk Bernsteins. So ist das DuettSomewhere aus der Westside Story vom 5. Klavierkonzert inspiriert, das er bei »There’s a place for us« zitiert. Auch in seiner Messe und andren Kompositionen schielte Bernstein immer wieder zu Beethoven.
Beethoven war für Leonard Bernstein ein Vorbild als Homo Politicus: 1947 begann Bernstein, der Jude, seine Arbeit mit dem Palästinensischen Symphonieorchester. 1948 hielt die israelische Armee den Ort Be‘er Sheva besetzt, der nach UN-Plänen im arabischen Staat liegen sollte. Bernstein unterstützte die Soldaten mit dem Israel Philharmonic Orchestra, reiste in gepanzerten Wagen an und spielte drei Klavierkonzerte vor Ort: Beethoven, Mozart und Gershwin. Auch nach dem Sechstagekrieg kehrte Bernstein zurück an die Klagemauer.
Die bewegte Geschichte zwischen Leonard Bernstein, Ludwig van Beethoven und Israel begann also vor 77 Jahren. Wie beklemmend ist es, wenn man dann am Abend Beethovens 9. Symphonie hört (ebenfalls organisiert vom Beethoven-Haus in Bonn) und danach die Solistin Chen Reiss trifft, die im Angesicht des Krieges in Israel unverdrossen weiter hofft, dass Beethoven uns zu besseren Menschen machen könnte.
Es verwundert also nicht, dass Leonard Bernstein Beethoven und seine Musik stets mit dem Gedanken an die Freiheit verbunden hat. Am 23. Dezember 1989 dirigierte er die Neunte Symphonie in der Philharmonie im Westen Berlins – mit einer Übertragung auf den Beitscheidplatz. Am Ersten Weihnachtstag dann im Schauspielhaus in Ostberlin – mit einer Übertragung auf den Gendarmenmarkt und im Fernsehen. Es spielten Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt, über 100 Millionen Zuschauer sahen die Aufführung der Ode an die Freiheit. Und Bernstein selber wurde in den Tagen der Wende zum Mauerspecht und erhämmerte sich einige Stücke der Berliner Mauer
Beethoven stand (neben Mahler) im Zentrum der Arbeit Bernsteins, sowohl als Dirigent als auch als Pianist. Die New York Philharmonic schenkten ihrem Chefdirigenten zur 500. Aufführung eine Originalausgabe der Neunten. Und die von ihm so geliebte 7. Symphonie stand 1990 auf dem Programm in Tanglewood – es sollte das letzte Konzert sein, das Bernstein dirigierte. Die Ausstellung in Bonn zeigt ein Poster mit Genesungswünschen der Musikerinnen und Musiker – sie blieben ungehört. Leonard Bernstein starb am 14. Oktober 1990.
Was die Ausstellung in Bonn so besonders macht, ist ihre Präsentation: Wertvolle Originale neben perfekt aufgearbeiteten Faksimiles (Reproduktionen von Konzertpostern und Briefen sind authentisch »abgegriffen« und erzeugen eine wunderbare Nähe). Und da machen dann auch die Löcher in der Eintrittskarte zum Berlin-Konzert Sinn. Sie sind Beweise für die Lebendigkeit der Musik und dafür, wie einzelne Konzerte unser Leben verändern. Zum Glück hat Malte Boecker seine Eintrittskarten von damals feinsäuberlich abgeheftet!
Um das Heute im Damals ging es auch bei der Idee des Beethoven-Hauses Bonn, das Original-Programm der Uraufführung von Beethovens Neunter vor 200 Jahren in der historischen Stadthalle in Wuppertal nachzuempfinden, mit Martin Haselböcks Orchester Wiener Akademie, dem WDR Rundfunkchor und den Solisten Michael Schade, Chen Reiss, Sara Fulgoni und Florian Bösch.
Was muss das damals für ein Ereignis gewesen sein. Neben der »sicheren Bank«, der Ouvertüre Die Weihe des Hauses, stellte Beethoven das die Grenzen seiner Zeit sprengenden Kyrie, Credo und Agnus Dei aus der Missa Solemnis auf das Programm. Danach wurde dann endlich die ganze Neunte gespielt: ein erneuter Affront der Moderne!
Martin Haselböck hat mit dem Konzept Resound Beethoven vollkommen neue Standards der Interpretation gesetzt, besonders mit der Aufführung der Symphonien an ihren Original-Orten. Dabei ist der Dirigent aus Wien ein historischer Pedant: Instrumente, Tempi, Programme und Orchesteraufstellung – alles ist akribisch recherchiert. Und Haselböcks Aufführungen erfüllen die Werke Beethovens, die wir für bekannt halten, immer wieder mit vollkommen neuem Leben. Nicht mit historischer Patina, sondern mit modernem Staunen über die Lebendigkeit der Musik!
Das war auch in Wuppertal nicht anders, obwohl besonders die Koordination mit dem Chor über erstaunlich lange Strecken eher wackelig war und das Programm etwas Anlauf brauchte, um aus dem Musizieren zum Leben zu erwachen.
Vielleicht wäre es eine gute Idee gewesen, wenn arte nicht nur die vier Konzerte aus vier Europäischen Städten mit vier ähnlich modernen Orchestern übertragen hätte, sondern die so kraftvoll im Jetzt stehende Interpretation der Wiener Symphoniker mit Petr Popelka dem historischen Blick von Martin Haselböck entgegengestellt hätte. Unterschiedlicher kann die Neunte im Jahre 2024 kaum klingen. Beide Ansätze überzeugen. Beide Interpretationen bewegen. Und ist das nicht der beste Beweis der Zeitlosigkeit Beethovens?
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Transparenz-Hinweis: Das Beethoven-Haus Bonn hat BackstageClassical eingeladen