Die hinkenden Orchester

Mai 12, 2024
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Das Berliner Utopia-Orchester ist vorbildhaft für Inklusion – aber leider eine Ausnahme (Foto: Utopia Orchester Berlin)

Eine Flötistin im Rollstuhl oder ein Paukist mit Handicap? Fehlanzeige in unseren Profi-Orchestern. Menschen mit Beeinträchtigungen scheinen nicht in den genormten Klassik-Betrieb zu passen. Das muss sich ändern. Eine Recherche von Antonia Munding.

Aufzüge und Rampen zum Auditorium, rollstuhlgerechte Toiletten – all das ist für die meisten Konzertsäle und Opernhäuser längst Standard. Viele Orchester werben seit einiger Zeit auch explizit um ein inklusives Publikum, etwa mit Audiodeskriptionen für Blinde oder Hörschleifen für Schwerhörige. Manche setzen auch Konzerte für Demenzkranke aufs Programm. 

Seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2008 sind die speziellen Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen als Menschenrechte verankert. Das heißt, kulturelle Teilhabe aufgrund eines barrierefreien Zugangs zum Konzertsaal ist nicht Ausdruck besonderer Fürsorge, sondern die praktische, längst überfällige Umsetzung eines Rechtsanspruchs. Wie dieser im kulturellen Bereich vollzogen wird, überprüft und diskutiert das von der Bundesregierung geförderte Netzwerk Kultur und Inklusion. Die Ergebnisse der jährlichen Treffen sind online frei zugänglich. Bei der Frage nach dem inklusiven status quo auf den Bühnen, Konzertpodien und in den Orchestergräben findet man an dieser Stelle allerdings keine Antworten. 

Keine Erhebungen über Inklusion

Bislang scheint es weder Erhebungen zu geben, wie viele Musiker mit Beeinträchtigungen in klassischen Orchestern arbeiten, noch gibt es einen eigenen Inklusions-Beauftragten, der sich speziell um die Belange von Orchestermusikerinnen und Orchestermusikern mit Handicap kümmern würde. Auf der Suche nach Gründen, spricht BackstageClassical mit dem Hornisten Felix Klieser, der sein Instrument mit den Füßen spielt und mit Gerald Mertens, Geschäftsführer der Orchestervereinigung unisono und Chefredakteur der Zeitschrift Das Orchester.  

Probe des Berliner Utopia Orchesters mit dem Dirigenten Mariano Domingo (Bild: Utopia Orchester Berlin)

Inklusion in der klassischen Musik – insbesondere im Orchester – sei ein »sehr weites Feld«, sagt Mertens. Bei der Umsetzung läge der Fokus bislang auf der Barrierefreiheit im Publikumsbereich, was auch am geltenden »Versammlungsstättenrecht« liege, erklärt Mertens. Hier werde durchaus Druck auf Veranstalter ausgeübt, den öffentlichen Raum barrierefrei zu gestalten. Doch dieser Raum ende bei den Treppen zum Bühnenbereich. 

Wer jemals in der Untermaschinerie eines Opernhauses unterwegs war, die Strecke bis zum Orchestergraben zurückgelegt hat oder versucht, in Berlin die Bühne der Philharmonie zu erklimmen, weiß um all die Stufen, die hier zu überwinden sind. Mertens fällt spontan auch nur ein einziger gehbeeinträchtigter Orchestermusiker ein: der Klarinettist Raphaël Schenkel bei den Bremer Philharmonikern (und im Lucerne Festival-Orchester). Er erklimmt auch mit verkürzten Beinen den hürdenreichen Backstage-Bereich der Konzertsäle. 

Beeinträchtigungen stören homogenes Orchesterbild

Mertens berichtet von Musikerinnen und Musikern, die durch Unfälle vorübergehend arbeitsunfähig wurden, sich aber wieder in den Orchesterbetrieb integrieren konnten. Wie ein Cellist des MDR-Orchesters, der zwei Fingerkuppen verlor, aber mit viel Zeit und Disziplin seine Grifftechnik umstellte, um schließlich weiterzuspielen. Oder ein Hornist, der die Flexibilität seiner linken Hand eingebüßt hatte und sein Instrument spiegelverkehrt umbauen ließ, um die Bewegungsabläufe nun mit der rechten Hand zu üben. Es gäbe sicherlich auch etliche Orchestermusiker mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen, beispielsweise Angststörungen oder Transplantationen, sagt Mertens. Zahlen oder auch nur Schätzungen, auf wie viele Menschen das zutreffe, lägen unisono allerdings nicht vor. Eine Musikerin oder einen Musiker, der im Orchesterbetrieb – auch auf der Bühne – auf den Rollstuhl angewiesen ist, kenne Mertens nicht. Das widerspreche leider auch dem noch immer sehr uniformierten Selbstbild des klassischen Orchesters als homogenem Klangkörper. 


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Über Inklusion zu diskutieren sei oftmals so sinnvoll wie über die Frage, ob eine Banane unbedingt gelb sein müsse, sagt Hornist Felix Klieser. Der Musiker wurde ohne Arme geboren und begann mit fünf Jahren Horn zu spielen – mit den Füßen. Klieser stellt schon die Ansatzpunkte einer Debatte in Frage, die oft ausschließlich um »Defizite« von Menschen mit Beeinträchtigungen kreise und darum, wie diese kompensiert werden könnten. »Wer hat denn hier das Problem?«, fragt Klieser, »der Flötist im Rollstuhl oder eine Branche, die einem Rollifahrer kein professionelles Flötenspiel zutraut? Ein echtes Handicap für einen Musiker wäre doch, wenn er ohne Rhythmusgefühl auf die Welt gekommen wäre – oder glauben Sie für einen guten Hornklang sind Arme und Hände relevant?« 

Die häufigste Frage an ihn sei, wie er gelernt habe, so gut Horn zu spielen. »Dabei habe ich ohne Arme überhaupt kein Problem – einfach, weil ich schon immer alles mit den Füßen erledigt habe.«

Die Exklusiv-Hürden des Klassik-Betriebes

Das Vorurteil, Dinge nicht so gut zu beherrschen, treffe vor allem Menschen mit sichtbaren Auffälligkeiten, sagt Klieser. Beim Aufbau seiner eigenen Karriere achtete er bewusst darauf, sich nicht als Musiker ohne Arme darzustellen, sondern als »stinknormaler klassischer Hornist«. Klieser war mit 13 Jahren Jungstudent an der Hochschule Hannover, erhielt 2014 den ECHO-Klassik als Nachwuchskünstler des Jahres, im vergangenen Jahr gab er sein Debüt bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall. Die Tatsache, dass wir aus der Erscheinung eines Menschen unmittelbar schließen, ob er zu etwas fähig sei oder nicht, mache Veränderungen so schwerfällig: »Wir meinen sofort zu wissen, wie etwas funktioniert oder wie es eben nicht funktioniert. Das hat nichts mit Behinderung zu tun, sondern auch mit Geschlecht, Kultur, Hautfarbe, Gewicht oder sexueller Orientierung. Wir sind überzeugt, wenn wir eine bestimmte Information haben, dann können wir das auf alle Bereiche übertragen.« 

Der Hornist Felix Klieser hält den Klassik-Betrieb für beeinträchtigt.(Foto: Edel:Kultur, Helbig)

Zudem treffe das Thema Inklusion im Orchester auf eine Branche, die bereits überfordert sei, wenn ihre Konzertsäle leer blieben. »Der Klassik-Betrieb hinkt in seinen kreativen Strategien vielen anderen Bereichen hinterher«, sagt Klieser. Das fange bei den Aufnahmeprüfungen an, wo man künstlerische Leistung mit Punkten bewerte und es setze sich in den ewig gleichen statischen Programmabläufen und Diskussionen über Frauenquoten fort. Statt visionär zu agieren, mit Freude am Risiko oder Lust an komplexeren Lösungswegen, bleibe man lieber schwerfällig auf dem Podest stehen. 

Bei der Umsetzung von Inklusion scheitere der klassische Betrieb vor allem an seiner selbsterrichteten »Exklusivitäts-Hürde«, einer Vorstellung von Virtuosentum, die das Miteinander von Professionalität und Beeinträchtigung negiere – oder sie nur einigen wenigen Ausnahmesolisten zubillige.

0,6 Prozent Studierende mit Beeinträchtigung

Klieser hat an den Hochschulen in Hannover und Münster unterrichtet, vor kurzem seine Lehrtätigkeit allerdings aufgegeben. Die Parallelwelt der Hochschule wie er sie erlebt habe, verfehle einfach die  künstlerische Realität, sagt der Hornist. Das beweise allein die Tatsache, dass lediglich zehn Prozent der Absolventinnen und Absolventen später als Musikerinnen oder Musiker in einem Orchester oder solistisch arbeiten.

Klieser zeichnet ein düsteres Bild des Klassik-Betriebs, obwohl er kein Schwarzmaler ist – und einzelne positive Veränderungen durchaus anerkennt, aber die gingen eben langsam voran.

Dabei sind die Musikhochschulen die Dreh-und Angelpunkte, wenn es um die Ausbildung des künstlerischen wie pädagogischen Nachwuchses geht. Das Netzwerk Kultur und Inklusion führte deshalb 2019 eine Studie zum inklusiven status quo an künstlerischen Hochschulen durch. 49 künstlerische Hochschulen, darunter 24 Musikhochschulen wurden nach dem Anteil ihrer Studierenden mit Beeinträchtigung befragt, ob das Thema Inklusion eine Rolle in der Lehre spiele und wie barrierearm die Räume und die Kommunikation seien. Insgesamt fiel die Zahl von Studierenden mit Beeinträchtigungen verschwindend gering aus: 0,6 Prozent. An gut einem Drittel der befragten Hochschulen studierte überhaupt keine Menschen mit einer Beeinträchtigung. Allerdings wachse die Zahl inklusiver Bewerbungen. 

Ist das inklusive Orchester Utopie?

Psychische Beeinträchtigungen wie Angststörungen, Magersucht und Medikamentenabhängigkeit würden dabei gegenüber körperlichen und geistigen überwiegen – was die Studie mit dem hohen Leistungsdruck und den Anforderungen der Eignungsprüfungen erklärt. Obwohl die Zahl der Studierenden mit Beeinträchtigung an den befragten Musikhochschulen am geringsten war, wird dort der sogenannte »Nachteilsausgleich« am flexibelsten erfüllt, also die Möglichkeit, den Bewerberinnen und Bewerbern, ihre Begabung ohne alle üblichen Aufnahmekriterien unter Beweis zu stellen. Auch in der Frage, ob das Thema Inklusion in der Lehre eine Rolle spiele und nach der Barriere-Armut von Räumen und Kommunikation lagen die Musikhochschulen vorne. Dieses Ergebnis erklärt die Studie mit der großen Ausstrahlung einzelner prominenter Role-Models wie Thomas Quasthoff oder Felix Klieser.

Der Pianist Paul Wittgenstein hat im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren – Ravel, Prokofjew, Hindemith oder Britten haben für ihn komponiert (Foto: YouTube)

Grundsteine für inklusives Studieren sind an einigen Musikhochschulen inzwischen also durchaus gelegt. Ob die Maßnahmen greifen und ob sie diejenigen erreichen, die sich ein musikalisches Studium wünschen, muss sich erst noch zeigen. Felix Klieser jedenfalls hat in seiner Zeit an der Hochschule keine Studentin und keinen Studenten mit Beeinträchtigung unterrichtet – und auch keinen Musiker mit Handicap kennengelernt, der es bis zum Probespiel geschafft hätte. 

Bleibt das inklusive Profi-Orchester also eine reine Utopie? Und die Debatte darüber eine, die am Kern des öffentlichen Interesses vorbei schrammt? 

Inklusion stellt der Klassik die Gretchen-Frage

Nein, denn die Frage nach Inklusion wirft den klassischen Orchesterbetrieb auf die Schwachstellen seines eigenen Systems zurück. Auf eine starre Uniformiertheit, die oftmals wenig Spielraum zur künstlerischen Weiterentwicklung lässt. Auf die verkrusteten Vorstellungen von Exzellenz und Virtuosität, die einen verzerrten und wenig inspirierten Wettbewerb befördern. Ein Wettbewerb, der sich schwer damit tut, divers oder gar inklusiv zu denken. All das ist vielleicht auch ein Grund, warum innerhalb des Klassik-Betriebes viele ähnliche Klangkörper oft sehr auswechselbare Konzertprogramme produzieren. 

Die Inklusion stellt dem Klassik-Betrieb die künstlerische Gretchen-Frage nach seiner ureigenen Potenz und Kreativität. Es geht um die Frage nach der Norm, die in der Kunst nicht die Regel sein sollte. Ebenso wie man an Musikhochschulen bereits beginnt, die Jurys der Aufnahmeprüfungen inklusiver zusammensetzen, um tatsächlich in der Lage zu sein, das Potential aller Bewerberinnen und Bewerber zu erkennen, müssten sich auch die Probespiel- und Bewerbungssituationen an den Orchestern verändern. 

In einer Zeit, in der die Demokratie so sehr auf dem Prüfstand steht wie heute, wird der Begriff Inklusion zu einem neuen Politikum. Es geht um Positionierung und darum, was man von Menschen mit völlig anderen Voraussetzungen lernen kann – von deren Pionierleistungen. 

Als Modellprojekt diene das inklusive Orchester ja bereits, erklärt Gerald Mertens und erwähnt das Berliner Utopia-Orchester, das unisono gemeinsam mit der Aktion Mensch fördert. Unter der Leitung des Dirigenten Mariano Domingo spielen dort Musikerinnen und Musiker mit Beeinträchtigung gemeinsam mit Musikerinnen und Musikern ohne Handicap: eine blinde Pianistin und Komponistin, ein armenischer Tenor, der im Rollstuhl sitzt. Viele einzelne Schicksale verknüpften sich miteinander, sagt Mertens. Man versuche par excellence zu fördern, aufwändige Probenprozesse würden in Gang gesetzt, bei denen die unterschiedlichen Welten viel voneinander lernten – nicht allein an Empathie. 

Felix Klieser auf der BackstageClassical Playlist. Musik zu all unseren Themen. Folgen Sie auf Spotify.

Hier geht es zum Berliner Utopia-Orchester

Antonia Munding

Antonia Munding studierte klassischen Gesang, Musikwissenschaft, Germanistik und Journalismus. Sie war als Sängerin an verschiedenen Bühnen engagiert und arbeitete als Nachrichtenredakteurin. Als freie Autorin veröffentlicht sie unter anderem bei den Frankfurter Heften, Deutschlandfunk Kultur und der Freitag.

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