Eine Kritik der reinen Klassik-Kritik 

April 22, 2025
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Papst Franziskus mit Fuerwehrkapelle im Vatikan
Papst Franziskus mit Fuerwehrkapelle im Vatikan (Foto: Vatikan)

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

ich hoffe, Sie hatten ein schönes Osterfest. Der Papst ist gestorben, und die Kritik an der Kritik ist Mal wieder auferstanden. Auch deshalb ist das Klassik-Feuilleton heute eine Art Leitmotiv dieses Newsletters: Steckt die Kritik in der Krise? Und was schreiben die Zeitungen zu den Premieren von Hannover über Erl bis Salzburg? Außerdem geht es um den Showdown zur GEMA-Reform und den Tod von Peter Seiffert. 

Orchesterboss kritisiert Süddeutsche Zeitung

BRSO-Manager Nikolaus Pont (Fotos: BRSO, Collage BC)

Der Manager des BRSO, Nikolaus Pont, schlägt Alarm. In einem Brandbrief an Kolleginnen und Kollegen im Kulturbetrieb beklagt er, dass die Süddeutsche Zeitung in Zukunft angeblich weniger Kritiken veröffentlichen will. Pont fürchtet einen Verlust für den Musikstandort München und ruft zum Protest auf: »Es wird sicherlich nicht schaden, wenn sich die Enttäuschung über diese Entscheidung in einer entsprechenden Anzahl von Leserbriefen widerspiegelt«, schreibt er. Mehr über die Hintergründe, die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und warum ein Brandbrief das Sterben der Musikkritik wohl kaum verhindern wird: hier. Mich ärgert vielmehr der schleichende inhaltliche und stilistische Verfall im SZ-Feuilleton, ebenso wie das Groopietum einiger Autoren. In Sachen Qualität wurde das einstige Referenz-Blatt für mich längst vom Münchner Merkur und in Sachen konstruktiver Aufmischerei von der Abendzeitung überholt. 

Nachdem wir letzte Woche bereits die Teodor Currentzis-Berichterstattung im Spiegel und die Hans-Joachim Frey– und Matthias Moosdorf-Artikel in der Zeit unter die Lupe genommen haben, müssen wir vielleicht einfach akzeptieren, dass die alten Platzhirsche nicht mehr den Ton der Kulturdebatten angeben, sondern ihn oft nur noch orientierungslos nachplappern. Wir werden das Thema der Kritik bei BackstageClassical diese Woche noch in einem Podcast mit Nikolaus Pont weiter debattieren (unsere Podcasts können Sie übrigens hier , bei apple oder bei Spotify kostenlos abonnieren, um keine Sendung zu verpassen).  

Frederik, ich fühle Dich! 

Was ist denn los mit der Kritik? Letzte Woche schrieb ein von mir sehr geschätzter Kritiker in einer großen Berliner Tageszeitung, dass er das Konzert eines weltweit bekannten Dirigenten in der Berliner Philharmonie physisch nicht ertragen konnte und sich »jede Faser« seines Körpers »sträubte, den zweiten Teil anzuhören«. Wer der Dirigent war? Der Autor schreibt es nicht, es heißt aber: »Noch mehr als die karikaturhafte Gestik (…) verstörte mich seine Interpretation. (…) Was ich wahrnahm war nur behauptete Emotionalität. Selten habe ich mich in einer Menschenmenge so allein gefühlt. Denn um mich herum saßen lauter Bewunderer des Dirigenten, die frenetisch jubelten.« Kleiner Tipp von uns: In besagter Woche waren unter anderen zu Gast in der Philharmonie: Lionel Meunier mit dem Freiburger Barockorchester, die Kammersymphonie Berlin mit Jürgen Bruns und Utopia mit Teodor Currentzis 🙂  Ey, Frederik Hanssen, ich fühle Dich!!! Aber lass uns doch nicht den Mut verlieren, zu sagen, was ist! 

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Kritiken der Woche

Es gab natürlich auch sachdienliche Kritiken zu allerhand wichtigen Aufführungen in dieser Woche: Ziemlich begeistert war unser Autor Johannes Mundry über Barbora Horákovás Inszenierung von Bohuslav Martinůs Oper The Greek Passion in Hannover: »Horáková hat Möglichkeiten und Unmöglichkeiten genau abgewogen und eine spannende, packende Realisierung geschaffen«, schreibt Mundry. Die ganze Kritik hier.

Die Berliner Philharmoniker in Baden-Baden (Foto: Rittershaus)

Georg Rudiger war für uns beim letzten Oster-Gastspiel der Berliner Philharmoniker in Baden-Baden und zieht ebenso ein positives Resümee: »Grund zur Freude gibt es viel. Über 20.000 Gäste besuchten das Festival, die Auslastung im Festspielhaus lag bei 97 Prozent. Das Publikum: hochkonzentriert, dankbar, begeisterungsfähig. Freude spürt man auch bei den 15 Kammerkonzerten im direkten Kontakt mit dem Publikum.« Außerdem trumpften die Berliner Philharmoniker mit Puccinis Madame Butterfly und Kirill Petrenko auf, Esa-Pekka Salonen und das Finnische Radioorchester setzen in Salzburg derweil auf Chowanschtschina. Hier eine Feuilletonrundschau dazu.

Unter Leitung von Jonas Kaufmann haben die Festspiele in Erl mit einer neuen Parsifal-Produktion eröffnet: Die Kritik feiert ein großartiges Sängerensemble, allen voran der Intendant, Brindley Sherratt als Gurnemanz und Irene Roberts als Kundry. Asher Fisch ging die Sache sehr behäbig an, und Regisseur Philipp M. Krenn ließ die Protagonisten recht heilig herumplantschen und –kleckseln, was für allerhand unfreiwillige Momente sorgte (zur Feuilleton-Umschau hier entlang).  

Die GEMA-Debatte leicht erklärt

Wir haben an dieser Stelle oft über die geplante Reform der GEMA berichtet. Das Thema ist sperrig und komplex. Nun habe ich mir die Folgen der Reformvorhaben noch einmal Schritt für Schritt von Moritz Eggert, dem Präsidenten des Deutschen Komponistenverbandes, erklären lassen. Eggert  befürchtet bei einem Durchwinken der Reformpläne höhere Kompositionshonorare, Pleiten von Musikverlagen sowie eine Marginalisierung von E-Komponisten innerhalb der GEMA. Außerdem erklärt er, warum auch U-Musikerinnen und Musiker unter der Reform leiden werden. Besonders alarmiert zeigt sich Eggert über die geplante Rolle der GEMA als »Geschmacksinstanz«, die künftig über Förderwürdigkeit von Musik und die Einteilung von Veranstaltungsorten entscheiden wolle. Zum Podcast und seinem Inhalt hier entlang.

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Der Tenor Peter Seiffert ist tot

Die Nachrufe auf den Sänger Peter Seiffert zeigen: Da ist nicht nur eine Stimme verstummt, sondern ein bei vielen sehr beliebter Mensch hat die Opernwelt verlassen. Die Bayreuther Festspiele schrieben: »Peter Seiffert war abseits der Opernbühne ein ganz unkomplizierter, sehr unterhaltsamer und großherziger Mensch, den wir sehr vermissen werden.« Und an der Bayerischen Staatsoper heißt es: »Seine rheinische Frohnatur hatte er sich selbst bei Proben zu den strapaziösesten Wagner-Dramen stets bewahrt.« Seiffert hat sich auch immer wieder mit launigen und sehr gutherzigen E-Mails in unsere Berichterstattung eingemischt – das letzte Mal, als er Mozart vor Rassismus-Vorwürfen verteidigte und mich auf eine Bremen-Dokumentation mit Volker Lechtenbrink aufmerksam machte. Den Menschen Peter Seiffert können Sie auch in einem XXL-Interview begegnen, das Monika Beer 1996 mit ihm in Bayreuth geführt hat (und das BackstageClassical nun noch einmal bringt). Ein Gespräch über die Musik, Seifferts Karriere und sein privates Leben. Unter anderem heißt es, passend zum heutigen Newsletter: »Die meisten Regisseure heutzutage denken gar nicht mehr daran, dass ein Sänger keine Maschine ist. Und die Medien nehmen Anteil an der Oper, indem sie im Fernsehen Abendkleider und das gesellschaftliche Ereignis abhaken, höchstens noch den Dirigenten und Regisseur nennen. Ansonsten interessiert nur Talmi – Ende der Debatte. Man sollte den Stellenwert der Sänger wieder herausstreichen.« Das ganze Gespräch hier

Personalien der Woche

Ich muss sagen, dass mir Annique Göttler imponiert: Erst hatte die Konzertpianistin in einem YouTube-Video den Bundeswettbewerb Jugend Musiziert kritisiert und Teilnehmende und Juroren zum Boykott aufgerufen. Besonders kritisierte Göttler die Kontingentierung für die Teilnahme am Bundeswettbewerb. Der Deutsche Musikrat reagierte mit einer angefassten Stellungnahme und zeigte, dass er mit den Kommunikationswegen der Jugend recht wenig anfangen kann und lieber weiterhin auf alte Apparatschik-Methoden setzt. Nun reagierte Göttler erneut mit einem Video – und lässt den Musikrat alt aussehen. Den Bundeswettbewerb wird sie vielleicht nicht verhindern, aber sie führt uns allen vor Augen, dass der Musikrat längst an seiner eigentlichen Zielgruppe vorbei kommuniziert. +++ Daniel Barenboim (82) fällt aus gesundheitlichen Gründen bei mehreren Konzerten im Mai aus. Er müsse die Leitung der Konzerte vom 8. bis zum 10. Mai in der Philharmonie Berlin sowie eines Auftritts am 18. Mai in Amsterdam im Rahmen des Mahler Festivals »mit großem Bedauern« absagen, teilten die Berliner Philharmoniker mit. Im Februar hatte der Pianist seine Parkinson-Erkrankung öffentlich gemacht. +++ Mit der Mezzospranistin Nadezhda Karyazina und dem Dirigenten Maxim Emelyanychev erhalten zwei aufstrebende KünstlerInnen den Herbert-von-Karajan-Preis 2025. Die mit 50.000 Euro verbundene Auszeichnung wird im Rahmen der Osterfestspiele Salzburg vergeben.

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Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann? 

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Dass die letzten öffentlichen Worte eines Papstes der Segen Urbi et Orbi sind, und er ausgerechnet am Ostermontag stirbt – das ist schon fast ein Wunder. Auch, wenn es mir persönlich schwer fällt an Gott zu glauben – und dazu noch in einer Institution wie der Kirche –, faszinieren mich das Leben Jesu, die katholische Geschichte und Liturgie durchaus. 18 Stunden habe ich 2005 in Rom ausgeharrt, um den aufgebahrten Johannes Paul II. zu verabschieden und darüber in der Welt die Reportage »Im Paradies gibt es keine Schlangen« geschrieben. 2013, kurz nach der Wahl von Franziskus, ging ich dann für das ZDF, gemeinsam mit Rolando Villazón, auf eine musikalische Reise auf den Spuren des Heiligen Franziskus von Rom bis nach Assisi – herausgekommen ist die Doku »Der Heilige und der Papst«. Damals haben wir uns noch mehr Aufbruch und Innovation vom Papst erhofft – aber die Reform der Kirche braucht wohl mehrere Papst-Generationen. Musikalisch war Franziskus nicht wirklich präsent, angeblich sollen ihm Mozarts c-Moll-Messe, Beethovens 3. Leonoren Ouvertüre und die Stimme von Edith Piaf besonders gut gefallen haben. Und natürlich: Astor Piazzola. Vielleicht zieht mit dem nächsten Papst ja wieder mehr Musik in den Petersdom ein.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif

Ihr

Axel Brüggemann 

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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