Die Berliner Philharmoniker verabschieden sich aus Baden-Baden. Georg Rudiger hat die gesamten Osterfestspiele begleitet – inklusive Beethovens Neunter und dem Rahmenprogramm. Hier seine Beobachtungen vor dem Umzug nach Salzburg.
English summary: The Berliner Philharmoniker bid farewell to Baden-Baden with a powerful performance of Beethoven’s Ninth under Kirill Petrenko. His precise, transparent interpretation emphasized emotional depth and dynamic clarity. A rich festival program, vibrant atmosphere, and close audience connection marked their final Easter Festival before moving to Salzburg, leaving behind lasting memories and widespread joy.
Der erste Paukenwirbel von Vincent Vogel hat es in sich. Trocken, direkt, fast angsteinflößend klingt das Instrument. Kein wohliges Zurücklehnen, sondern eine Schrecksekunde, die mit dem Fortissimo-Einsatz in Takt 17 von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie im schon lange ausverkauften Festspielhaus Baden-Baden erlebt wird.
Hier geht es um existentielle Dinge, zeigt Kirill Petrenkos Interpretation von Anfang an, zumal die ersten Takte mit den leeren Quinten so leise und gleichzeitig rhythmisch gespannt musiziert werden, dass die vielgehörte Musik wie neu erscheint. Mit Beethovens Neunter hat Kirill Petrenko 2019 in Berlin sein Antrittskonzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker bestritten, mit dem gleichen Werk verabschiedet er sich und sein Orchester von den Osterfestspielen Baden-Baden. Im Kopfsatz spürt man immer wieder Verzweiflung. Der Streicherklang ist aufgeraut, die Akzente haben Wucht, die Punktierungen sind scharf.
Die Neunte schließt den Kreis
Wie vorausschauend Petrenko dirigiert, zeigt er im genau durchleuchteten Scherzo. Da hebt er gegenüber den Kontrabässen seine Hand wie ein Stoppschild, um den kommenden Einsatz möglichst leise zu bekommen, damit die Mittelstimme gehört werden können. Immer wieder greift er im Laufe des Abends ein für die richtige Balance, deutet auf bestimmte, die Hauptstimme spielende Register, dämpft andere. Maximale Transparenz und Differenzierung ist das hörbare Ziel – nicht effektvolle Überwältigung.
Das mit einem Lächeln dirigierte Adagio molto e cantabile gestaltet er als eine große Gesangslinie: immer im Fluss, mit heller Tongebung (Klarinette: Wenzel Fuchs) und natürlichen Atempausen. Im direkt angeschlossenen Chorfinale wird die erzählerische Kraft noch gesteigert. Die Kontrabässe führen das Rezitativ, die Celli sind nur Farbe. Das Thema stellen die Bässe so leise vor, dass sich beim Schlussapplaus der Sitznachbar beim Rezensenten beschwert, er habe gar nichts gehört. Diese »Freude schöner Götterfunken« beginnt ganz zerbrechlich, um sich nach und nach zum großen Jubel zu steigern. Das Solistenquartett (Katharina Konradi: Sopran, Beth Taylor: Alt, Sebastian Kohlhepp: Tenor, Tareq Nazmi: Bass) muss nie forcieren, weil Petrenko das Orchester dynamisch genau darauf abstimmt.
Nicht nur im lyrischen Mittelteil »Seid umschlungen, Millionen«, in dem der Streicherklang auch mal ohne Vibrato fahl wird, zeigt sich der Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Justus Barleben) höhensicher und homogen. Selbst im Fortissimo bleibt der Klang rund. Kein Gebrülle, kein Getöse, wie man es bei diesem dick aufgetragenen Finale häufig hört. »Alle Menschen werden Brüder« – die Utopie wird für einen Moment Wirklichkeit.
Freude allerorten
Freude ist überhaupt bei diesen letzten Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker in Baden-Baden allerorts zu spüren. Die Stadt hat man wie bei der ersten Residenz des Orchesters im Jahr 2013 in Kirschblütenrosa getaucht. »Es ist etwas Besonderes, hier durch die blumenbeschmückte, beflaggte Stadt zu gehen. Wir haben das Gefühl, dass wir in Baden-Baden eng mit dem Publikum verbunden sind«, sagt Andrea Zietzschmann, Intendantin der Berliner Philharmoniker.
Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa berichtet von vielen begeisterten Reaktionen auf der Straße, besonders auf die umjubelte Madama Butterfly-Produktion. »In den 13 Jahren mit den Berliner Philharmonikern sind die Osterfestspiele zu einem Ereignis globaler Ausstrahlung und Anziehungskraft geworden.«
Grund zur Freude gibt es viel. Über 20 000 Gäste besuchten das Festival, die Auslastung im Festspielhaus lag bei 97 Prozent. Das Publikum: hochkonzentriert, dankbar, begeisterungsfähig. Freude spürt man aber auch bei den 15 Kammerkonzerten im direkten Kontakt mit dem Publikum, wenn man im Frieder Burda Museum neben den »Angry Girls« von Yoshitomo Nara auch noch selten gespielte Kammermusikwerke von Gustav Mahler und Erich Wolfgang Korngold erleben kann oder Bolero Berlin im Casino bei vollem Spielbetrieb mit seinen delikaten Jazzarrangements nach Brasilien entführt.
Lebhaftes Rahmenprogramm
Congas unter Kronleuchtern, Summertime im violetten Licht. Bratschist und Ensemblegründer Martin Stegner ist wehmütig zumute, als er sich vom Publikum verabschiedet und mit der Zugabe Libertango nochmals für strahlende Gesichter sorgt. Auch Hornistin Sarah Willis bedankt sich mit ihren erstklassigen Bläserkollegen im Weinbrennersaal nach einem großartigen Konzert mit Werken von Krommer, Mozart und Beethoven: »Wir haben jede Minute mit ihnen genossen.«
Bei Intendant Benedikt Stampa mischt sich der Abschiedsschmerz mit der Vorfreude auf die Osterfestspiele 2026. Das Bundesjugendorchester, das unter Patrick Lange im Benazetsaal mit Detlev Glanerts Violinkonzert, vollendet gespielt von Midori, und einem fulminanten Rondo alla zingarese aus Brahms’ op. 25 glänzte, bleibt. Der junge finnische Dirigierstar Klaus Mäkelä, der sich in Baden-Baden erstmals mit den Berliner Philharmonikern vorstellte, auch. Mit der Dirigentin Joana Mallwitz ist ebenfalls für Qualität gesorgt, mit dem Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam und dem Mahler Chamber Orchestra auch. Deshalb fällt der Abschied von den in diesem Jahr nochmals grandios aufspielenden Berliner Philharmonikern in Baden-Baden nicht ganz so schwer.