Der Tenor Peter Seiffert ist tot. BackstageClassical bringt in Erinnerung ein XXL-Interview mit ihm über die Musik, die Karriere und sein privates Leben.
English summary: Tenor Peter Seiffert has passed away. BackstageClassical revisits an in-depth 1996 interview, reflecting on his music, career, and private life. Seiffert spoke candidly about vocal challenges, the roles that shaped him, his family, and the need for sincerity in performance. A proud father and passionate artist, he valued discipline, emotion, and authenticity above fame.
1996 traf Monika Beer den Tenor Peter Seiffert vor seinem Bayreuther »Meistersinger«-Debüt. Ein episches Gespräch über Stolzing, den Legato-Gesang und die Kraft der Musik. Der Tenor präsentierte sich auch als stolzer Familienvater. Wir bringen den Text erneut, um den gerade verstorbenen Sänger noch einmal ausführlich zu Wort kommen zu lassen und damit zu würdigen.
Die Namen Ihres Sohnes Max Erik sind bestimmt kein Zufall.
Ursprünglich sollte Max ein Erik werden, als ich die Partie in Wien gesungen habe. Aber das war damals noch eine Fehlanzeige, also haben wir – meine Frau hatte ich im Februar 1994 bei einer »Freischütz«-Aufnahme kennengelernt – doch Max genommen. Und natürlich auch, weil ich ein großer Verehrer von Max Lorenz bin, der Düsseldorfer war, wie ich. Seine Momentaufnahmen mit Tannhäuser und Siegmund finde ich ganz toll; man darf nur nicht beckmesserisch sein mit den Rhythmen oder wenn er so inbrünstig schluchzt. Es ist eben alles andere als steril und ungeheuer lebendig. Da verzichte ich lieber auf DDD und den neuesten technischen Stand.
Ist der Max eine Ihrer Lieblingspartien?
Überhaupt nicht. Weil er tief und nicht so strahlend ist von der Tessitura her. Wenn die ganze Partie einen Ton höher läge, wäre sie für meine Stimme momentan bestimmt besser. Gerade habe ich für BMG »Oberon« aufgenommen und weiß jetzt, warum diese Oper kaum noch aufgeführt wird. Hüon ist enorm hoch. Das ist von der stimmlichen Herausforderung her mit das Schwerste, was ich je gesungen habe.
Wie würden Sie selber Ihre Stimme einordnen? Bei so viel lyrischem Potential fällt es ja schwer vom Heldentenor zu sprechen.
Das kommt ganz darauf an, welche Klangvorstellung man hat. Die einen wollen einen heldischen Klang, der baritonal ist, andere möchten lieber einen Helden, der strahlend und gut fokussiert übers Orchester kommt, mit gutem Stimmsitz und vielen Obertönen. Im Moment liege ich genau richtig mit den Partien, die sich mir von Natur aus anbieten und nicht erzwungen sind. Manchmal fange ich sogar ein oder zwei Jahre zu spät an, weil ich vorher so skeptisch bin. Aber es hat nie geschadet, einen Schritt weiter nach vorne zu machen – man wird ja auch nicht jünger! Nur muss man, wenn man zu weit gegangen ist, den Mut haben zu sagen, halt, Kommando zurück, das war noch eine Nummer zu groß.
Welche Partien liegen Ihnen momentan?
Ein ziemlich breites Spektrum von Tamino bis Erik. Wobei sich mir immer mehr die Frage stellt, wie lange das noch geht. Ein Tamino mit grauen Schläfen ist vielleicht doch nicht so gut.
Oder ein alter Jung-Siegfried. Es gibt aber kaum einen guten Siegfried, der nicht schon um die fünfzig ist. Das wissen die Zuschauer auch.
Siegfried ist vielleicht eine Ausnahme, der braucht einfach dieses stimmliche Gewicht. Wenn ich da an Hans Beirer denke! Der hat sich unerschrocken hingestellt, und dann – Heidewitzka! – ging’s wirklich ab. Die Siegfriede darf auch ein Älterer singen, wenn er die Kraft hat. Bei Tamino ist das anders – und auch bei Don Ottavio; den habe ich schon abgegeben.
Und warum?
Mit dieser Partie kann ich momentan keine neuen Erfahrungen mehr machen. Vielleicht habe ich den Ottavio in den letzten Jahren zu oft und in unglücklichen Konstellationen gesungen. Außerdem bewege ich mich bereits in Richtung Tannhäuser. Die sogenannten »echten« Helden, die das dick singen und die Töne nur noch stemmen, schlagen natürlich die Hände überm Kopf zusammen und sagen, das ist eine Wahnsinnspartie! Ein italienischer Spinto-Tenor mit der nötigen Leichtigkeit, aber auch mit Peng in der Stimme, könnte ein idealer Tannhäuser sein. Eine mögliche Gefahr für mich sehe ich in der Romerzählung. Das darf nicht jungenhaft und nicht zu strahlend klingen, da muss schon ein gestandenes Mannsbild her, einer, bei dem man spürt, was er erlebt hat. Vieles bei Tannhäuser liegt genau auf meiner Frequenz und lässt meine Stimme erst richtig aufblühen. Das ist die Lage, die ich liebe.
Vorbereitung auf den Tannhäuser
Wann kommt Ihr Tannhäuser konkret?
Zuerst auf CD, das Duett Tannhäuser-Elisabeth mit Julia Varady bei EMI. Auf der Bühne könnte er vielleicht zum ersten Mal in Zürich kommen. Aber zuvor singe ich dort 1999 »Euryanthe«; der Tannhäuser läuft mir schon nicht weg. Zumal jetzt erst die »Meistersinger« dran sind. Bei jeder neuen Partie, die man angeht, muss man auf jeden Fall ziemlich schnell im Gefühl haben, ob man technisch richtig singt, muss merken, ob einem die Partie bekommt oder nicht, muss ein Organgefühl bekommen. Man ist nicht aus Jux und Tollerei der »Ritter vom hohen C«.
Aber nur noch das scheint Kritiker und das Publikum wirklich zu interessieren.
Die Inszenierungen werden ellenlang beschrieben, die Sänger in Bausch und Bogen abgefertigt, obwohl man monatelang probiert, Tag und Nacht, sonn- und feiertags, manchmal in einer entsetzlichen Stimmung. Die meisten Regisseure heutzutage denken gar nicht mehr daran, dass ein Sänger keine Maschine ist. Und die Medien nehmen Anteil an der Oper, indem sie im Fernsehen Abendkleider und das gesellschaftliche Ereignis abhaken, höchstens noch den Dirigenten und Regisseur nennen. Ansonsten interessiert nur Talmi – Ende der Debatte. Man sollte den Stellenwert der Sänger wieder herausstreichen.
Hymne auf Götz Friedrich
Welcher Opernregisseur arbeitet denn so, dass es für Sie goldrichtig ist?
Götz Friedrich. Er ist ein echter Profi. Er arbeitet sehr konzentriert und weiß genau, was er den Leuten zumuten kann.
Demnach war der »Lohengrin« 1990 in Berlin Ihre liebste Produktion?
Das war wunderbar, ein Idealfall. Wir haben wirklich hart gearbeitet und haben uns trotzdem alle prima verstanden, Kollegen, Orchester und Chor.
Können Sie beurteilen, was Sie geleistet haben, wenn eine Vorstellung gelaufen ist?
Meistens weiß man ganz genau, wie man war, unabhängig davon, wie der Applaus war. Bei meiner »Lohengrin«-Serie in Wien hatte ich in der zweiten Vorstellung große Probleme durchzukommen. Es hat zwar noch geklappt, aber ich sang buchstäblich auf dem Fleisch, so als wären das vier Abende auf einmal gewesen. Das Publikum war begeistert, aber ich selbst fand mich schlecht.
Was bedeutet Ihnen der Applaus?
Natürlich stimmt die Chemie nicht immer zwischen Bühne und Zuschauerraum, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man den großen Applaus nur dann bekommt, wenn man wirklich alles gibt. Vor allem dürfen auch im übertragenen Sinn keine falschen Töne anklingen. Wenn man nur Routine abliefert, spüren die Leute das ganz genau. Umgekehrt darf man auch nicht zu viel Privates mit hineinnehmen, sonst ist man selbst nur noch ergriffen. Man muss sich unter Kontrolle halten, sollte aber der Situation doch nahe sein.
Wie haben Sie das gelernt?
Durch Erfahrung und die Sicherheit im Detail. Einem jungen Sänger würde ich folgende Tipps geben: Erstens muss man seine Partie sehr genau studieren. Zweitens muss man erfassen, um was es eigentlich geht. Aber wer kann sich schon vorstellen, was es zum Beispiel heißt, ein Schwanenritter zu sein? Man muss also überlegen, was man bei Lohengrin an menschlichen Gefühlen, an Regungen mit hineinbringen kann. Bei der Brautgemachszene hab ich mich daran erinnert, wie es bei meinem ersten Rendezvous war: Wenn es endlich so weit ist, ist man nur unbeholfen und unsicher. Von diesem Gefühl bin ich bei dieser Szene immer ausgegangen. Ich versuche also, viel Persönliches mit in die Rolle hineinzunehmen, um eine vernünftige Figur auf die Beine zu stellen. Was richtig und was falsch ist, bekommt man erst mit der Zeit heraus. Es ist einem sowieso nur für eine gewisse Zeit gegeben, dass alles zusammenkommt: die Reife, das Wissen, die Kraft, die Stimme, das darstellerische Talent, der Mut auch, vors Publikum zu treten und einfach zu tun, was man denkt und empfindet!
Vom Nein-Sagen
Seit wann sagen Sie nein?
Eigentlich schon immer. Am Anfang hat mich meine Faulheit geschützt, jetzt schützt mich mehr der Kopf. Ich habe nicht mehr diese unglaubliche Gier, alles machen zu müssen.
Wie viele Vorstellungen singen Sie pro Jahr?
Momentan nicht mehr als fünfundvierzig. Und zwar nicht nur Wagner, sondern schön durchsetzt mit Mozart und Konzerten. Ich habe in den letzten Jahren deutlich reduziert, weil es mich krank macht, jeden Tag woanders zu singen. Schließlich geht es mir nicht ums Geldabholen. Ich versuche, zu jeder Vorstellung frisch, mit großer Freude und gut präpariert zu kommen. Zwischendurch arbeite ich mit meinem Repetitor Richard Trimborn, dem ehemaligen Studienleiter der Bayerischen Staatsoper. Mit ihm studiere ich gerade Siegmund.

Wer sind Ihre Lieblingsdirigenten?
Es gibt eine ganze Menge von Dirigenten, mit denen ich aus unterschiedlichen Gründen sehr gut zurechtkomme. Wolfgang Sawallisch hat immer etwas gefordert, verlangt, hat meinen Fleiß angestachelt und aus mir bestimmte Sachen herausgekitzelt. Unter ihm habe ich viele neue Rollen aus der Taufe gehoben. Bei Nikolaus Harnoncourt hat mich begeistert, wie er erklärt, warum er dieses und jenes so macht, und wie kompromisslos er das dann umsetzt. In seinem »Fidelio« habe ich erstmals in der Musik die Tropfen von der kalten Wand herunterfallen hören! Er hat den Mut, eine Disharmonie auszukosten. Daniel Barenboim ist wieder ganz anders, und ich mag ihn menschlich auch sehr gern.
Sind Sie harmoniebedürftig?
Absolut. Wenn zum Beispiel mein Kostüm nicht gut sitzt, gehen schon fünfzehn Prozent vom Schönklang weg. Wenn die Chemie nicht stimmt, nochmal zwanzig Prozent. Was übrig bleibt, ist eigentlich schon zu wenig.
Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Die Schulzeit war zwar nicht so toll, und in der Pubertät hatte ich die üblichen Probleme, aber ich habe immer ein sehr gutes und inniges Verhältnis zu meinen Eltern und meiner älteren Schwester gehabt.
Und wann haben Sie gewusst, dass Sie unbedingt auf die Bühne wollen?
So lange ich mich zurückerinnern kann. Bei uns zuhause gab es viel Musik, ich war im Knabenchor und durfte schon damals in der Oper singen. Ich wollte als Kind eigentlich gleich alles auf einmal machen: Film, Theater, Oper.
Mit welcher Partie haben Sie debütiert?
Im »Lear« von Aribert Reimann sang ich den Bedienten, einen Satz auf einem Ton: »Herr, noch blieb euch ein Auge, um diese hier gestraft zu sehen«. Danach wurde ich gleich erstochen und krabbelte in den letzten Zügen von der Bühne.
Was war Ihre erste große Wunschpartie?
Von Kindesbeinen an hab ich mir den Lohengrin gewünscht. Die erste große Partie in Düsseldorf war der »Wildschütz«-Baron, den ich insgesamt über 200 Mal gesungen habe. Dann kamen »Fra Diavolo«, »Zar und Zimmermann« und viele andere Spielopern.
Die Zeit in Düsseldorf
Das waren aber nicht nur fünfundvierzig Abende pro Jahr?
In meiner Zeit in Düsseldorf-Duisburg hatte ich irgendwann sogar an die zweihundert Vorstellungen, das heißt, ich war mindestens jeden zweiten Abend im Einsatz, wenn auch oft nur mit einem Satz.
Jetzt stehen Ihnen in Bayreuth ziemlich viele Sätze bevor. Wie stellen Sie sich Stolzing vor? Wo sehen Sie Schwierigkeiten?
Der Stolzing, das ist klar, ist schwer, aber auch wunderschöne zu singen. Das Erfassen dieser Partie verlangt musikalische Intelligenz. Die Stimme muss beweglich sein, muss Durchschlagskraft haben, aber auch eine gewisse Süße. Um den Stolzing zu schaffen, braucht man Kraft, Kondition und Konzentrationsfähigkeit. Ich sehe für mich drei Schwierigkeiten: Im Moment habe ich noch Mühe beim Auswendiglernen. Die Partie ist voll mit Stolpersteinen; da kann man schnell textlich oder musikalisch eine falsche Weiche erwischen. Das zweite Problem ist, dass vieles in der überaus heiklen Übergangslage steht. Im Quintett zum Beispiel muss Stolzing ganz zurückgenommen gesungen werden, was zu diesem Zeitpunkt der Oper sehr schwer ist. Ich arbeite hart daran, Farben zu finden, die Weichheit und Intensität – statt Betonklötze zu bauen und hochzuschieben.
Haben Sie schon einmal Angst gehabt beim Singen?
Ja, nicht nur einmal. 1988 war für mich eine Umbruchszeit. Ich wusste noch nicht genau, in welches Fach ich gehöre und welche Partien mir besonders liegen. Mein erster Parsifal in Covent Garden fiel mir damals noch schwer, beinahe gleichzeitig hatte ich in Berlin den sehr hohen Faust – die Angst, es nicht zu schaffen, hing wie ein Damoklesschwert über mir! Heute gehe ich an Grenzpartien nur heran, wenn es mich wirklich reizt. Als die Kritik mich nach dem ersten Lohengrin als neuen Heldentenor feiert, hat mich das nicht nur gefreut. Ich will nicht in eine bestimmte Schublade gesteckt werden, es macht mir Spaß, eben nicht nur Lohengrin zu singen. Wenn ich also Tamino mit einer ganz anderen Farbe singe, dann ist die Stimme nicht plötzlich lyrischer geworden, sondern das hat damit zu tun, dass ich versuche, dem anderen musikalischen Stil, also Mozart, gerecht zu werden.
Wie unterscheidet sich für Sie Stolzing von Lohengrin und Parsifal?
Im Stimmcharakter schwerer als Lohengrin und leichter als Parsifal. Stolzing ist nicht unbedingt eine Belcanto-Partie, nicht so elegisch. Bei ihm kommt viel von der Sprache her, und das erfordert große Konzentration auf den Text. Aber mir steht ja das Debüt gerade erst bevor! Mit den »Meistersingern« wird man eigentlich nie fertig.
Über Vorbilder
Haben Sie als Stolzing ein Vorbild?
Auf Platte gefällt mir René Kollo gut. Es ist bei ihm nicht zu heldisch und nicht zu lyrisch; das war zum Zeitpunkt der Aufnahme genau die richtige Stimme für die Partie. Auch Hans Hopf hat es schön gemacht, nur manchmal fast schon zu draufgängerisch, wie ein »echter« Tenor.
Was ist ein »echter«Tenor?
Eher eine Karikatur, mit aufgeblähter Brust, weißem Schal und den ganzen Attitüden, die man speziell einem Tenor nachsagt.
Demnach sind Sie kein »echter« Tenor?
In mancher Hinsicht schon.
Sind Sie ein deutscher Tenor?
Ja. Weil meine Muttersprache deutsch ist. Aber das sollte nicht heißen, dass ich etwas anderes nicht kann. Es macht mich rasend, wenn Kritiker schreiben, dass man sich an etwas »vergreift«. Alle dürfen alles singen, nur ein deutscher Tenor muss immer deutsche Stiefel tragen. Warum nicht auch italienische Schuhe, wenn man es gut kann? Bei Roswaenge, Hopf, Konja oder dem jungen Schock ging’s doch auch! Abgesehen davon sollte der Weg zu Wagner, wie James King gesagt hat, übers italienische Fach führen, sonst ist da sehr schnell Feierabend. Bei vielen Sängern, die nicht italienisch gesungen haben und gleich ins Wagnerfach gingen, weil die Stimme mit ihrer jugendlichen Kraft nach Wagner klang, funktionierte das auch nur eine gewisse Zeit. Wagner braucht das Legato-Singen. Wo es fehlt, ist plötzlich der Glanz weg, ist die jugendliche Kraft dahin, und am Ende hört man nur noch Wracks. Und zwar reichlich.

Wagner hatte zu Lebzeiten schließlich auch nur Sänger zur Verfügung, die italienische Partien und Mozart gesungen haben. Es gab ja keine Wagnersänger.
Genau. Der Lohengrin ist absolut italienisch zu singen.
Aber wenn Sie mehr italienische Partien singen wollen, müssten Sie oder Ihr Agent doch das erreichen können? Wo liegt denn das Dilemma?
Das liegt auch an mir selbst. Und mein Agent verkauft mich natürlich so, wie er mich am leichtesten verkaufen kann – also im Bewährten. Phantasie sollte man von niemandem mehr erwarten. Auch nicht vom Publikum. Früher haben die Menschen ihre Stars ein ganzes Leben lang begleitet, haben mitgezittert bei jedem Debüt. Heute merken sich die meisten nicht einmal mehr, wie man heißt. Wenn man als Sänger wirklich so bekannt ist, dass sich die Leute, wenn sie den Namen hören, auch das Gesicht dazu vorstellen können, ist es vom Vokalen her mit der Karriere meistens schon vorbei. Dann ist man nur noch »bekannt«. Alles kommt ein bisschen zu spät. Ein deutscher Tenor, ein deutscher Sänger muss sich in der heutigen Zeit die italienischen Partien erst verdienen, quasi erkämpfen. Zwei Intendanten haben in dem Zusammenhang gut reagiert: Alexander Pereira in Zürich hat mir nicht nur eine, sondern mehrere italienische Partien angeboten. Noch schneller war Ioan Holender in Wien, der mich in eine schon vorhandene Produktion hineinstecken wollte. Aber ich möchte meine erste italienische Partie lieber in einer Neuinszenierung mit den entsprechenden Proben singen.
Apropos: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie von den »Drei Tenören« hören oder lesen?
Es nervt total. Gott sei Dank gibt es auch ein Publikum, das sich nicht von Verkaufsstrategien und der ganzen Promotionmaschinerie beeinflussen lässt. Gott sei Dank weiß dieses Publikum, dass es auf der Welt nicht nur drei gute Sänger gibt, denn sonst müssten die Opernhäuser der Reihe nach alle zumachen. Wie auch immer: Mein Vater hat mir einmal gesagt, wenn wenigstens einer im Zuschauerraum sitzt, bei dem das, was man über die Rampe bringen will, richtig ankommt, dann hat sich die Sache schon gelohnt.
Ihr Vater war auch Sänger.
Ja, aber durch seine Kriegsbeschädigung konnte er nicht mehr auftreten. Er hatte eine wunderschöne Tenorstimme, war in vielerlei Hinsicht ein großes Vorbild für mich. Irgendwann als Junge wusste ich genau: Ich möchte Tenor, ich möchte Opernsänger werden, das und nichts anderes will ich sein. Ich habe es bis heute auch nicht bereut. Natürlich gab und gibt es immer Negatives, aber ich habe durch den Beruf auch so viel Wunderschönes erfahren. Man kommt immer wieder an ein neues Tor der Welt, kommt mit vielen, verschieden gearteten Menschen zusammen, von denen man etwas lernen kann und die einem auch etwas geben.
Ehe mit Lucia Popp
Wie war das in Ihrer ersten Ehe mit Lucia Popp, die eine große Künstlerin war. Was haben Sie daraus geschöpft?
Auf Anhieb würde ich sagen: Disziplin. Lucia hat mir die Disziplin sozusagen vorgelebt, war sehr fleißig und zuverlässig, auch als Partner. Sie konnte sich neue Rollen viel schneller und leichter aneignen, konnte zur gleichen Zeit vier oder fünf Stücke einstudieren. Ich bewunderte ihre unglaubliche Energie, wenn sie sogar im Flugzeug die Noten aufgeschlagen und gelernt hat! Bei mir funktioniert das anders, immer eins nach dem andern: Erst lernen, polieren, dann wird geschnitzt und gemeißelt, wie die zehn Gebote werden die Partien bei mir erarbeitet. Wenn ich mich konzentrieren muss, sollte alles stimmen – wo, wann und mit wem.
Sind Sie ein Gewohnheitstier?
Eigentlich nicht. Im Laufe der Zeit hat sich nur herauskristallisiert, womit ich am besten fahre. Ich kann nur beten, dass mir zum Beispiel Richard Trimborn lange erhalten bleibt. Er hat mit mir achtzig Prozent meines Repertoires einstudiert.
Was braucht ein Sänger noch, abgesehen von der Disziplin?
Es fallen nirgendwo die gebratenen Tauben vom Himmel. Talent muss von Natur aus gegeben sein, die Stimme muss etwas haben, das die Leute anspricht. Was einen aus der Masse heraushebt, was dann aus dem ungeschliffenen Diamanten wird, bleibt jedem selbst überlassen. Da kann letztlich auch keiner helfen. Ich glaub, ich habe für mich eine ganz gute Lösung gefunden. Ich bin geradlinig insofern, als ich den Mut habe, auch unbequeme Wege zu gehen. Ich bin zwar kein schwieriger Zeitgenosse, aber ich habe bestimmte Qualitätsvorstellungen, und wenn etwas nicht in diese Richtung geht, lasse ich es besser. Diese Einstellung ist heutzutage eigentlich eher hinderlich im Beruf, aber dafür kann ich noch in den Spiegel schauen, ohne rot zu werden. Das ist mir wert als unbedingt – mit Glanz und Gloria – »dazu zu gehören«. Das muss ich nicht mehr haben.
Aber Sie wollten doch ganz hoch hinaus . . .
Ja. Ich habe quasi mit den falschen Voraussetzungen angefangen. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war ich bei Anneliese Rothenberger im Fernsehen, bekam plötzlich viele Angebote von Agenturen, Dirigenten, Einladungen nach überall hin, hatte aber noch keine echte berufliche Grundlage. Was ich wirklich hatte, war eine gewisse Lockerheit, nach dem Motto »Was kostet die Welt?« Der Schuss ging also ein bisschen zu früh los. Ich war eben ’n Düsseldorfer Jung, ’ne rheinische Frohnatur, kurz: Ich hatte einfach noch viel zu lernen, auch, was das Menschliche angeht. Und das hat sich erst im Laufe der Zeit eingestellt, das hat das Leben mir erst gezeigt.
Wann waren Sie soweit?
Der große Umbruch kam verhältnismäßig spät. Ich war schon verheiratet und hatte noch mit mir selbst zu kämpfen. Lucia war ein großer Star, und mir wurde unterstellt, dass ich mich an eine berühmte Sängerin hänge, um Karriere zu machen. Das hat mich verletzt, denn das war nun wirklich das allerletzte, was ich wollte. Ich spürte bei manchen Leuten eine gewisse Skepsis, fühlte mich ständig unter Druck und konnte mich nicht in Ruhe entwickeln. In dieser Umbruchszeit passierte unheimlich viel in meinem Kopf – so viel, dass ich manchmal das Bedürfnis hatte aufzuhören. Irgendwann kam der Punkt, wo ich für mich entschieden hatte, dass es nur um die Sache geht und nicht um das Drum und Dran. Ich hatte nicht mehr den Traum, ein großer Star zu sein. Jetzt interessieren mich mehr die menschlichen Werte. Ob mein Sohn gesund bleibt oder mit wem er spielen wird, beschäftigt mich viel eher als die Frage, wie ich ein deutscher Pavarotti werde. Das ist mir völlig egal.
Könnten Sie mit der gleichen Entschiedenheit einmal sagen, so, jetzt höre ich auf?
Natürlich weiß ich nicht, wann das sein wird. Es ist aber so sicher wie das Amen in der Kirche, dass es eher zu früh als zu spät sein wird. Franz Völker ist dafür ein gutes Beispiel: Er hat am Zenit seines Könnens einfach aufgehört. Falls ich dann noch Sehnsucht nach dem Theater hab, würde ich gern als Zirkusdirektor in der »Verkauften Braut« auftreten – nicht mehr der große Held sein müssen, sondern eher komisch.

Gibt es jetzt keine komischen Rollen?
Reizen würde es mich schon, nur bietet mir das keiner an. Es gibt in meinem Fach allerdings kaum komische Rollen. Und das Charakterfach, das mich eher interessiert, kann gut und gerne noch ein paar Jahre warten.
Von Perspektiven
Welche italienischen Partien würden Sie gerne singen?
Auf der Bühne Turridu in »Cavalleria«, Alvaro in der »Macht des Schicksals«, »Andrea Chenier«. Otello ist eine Wunschpartie, auch der Hauptmann in »Pique Dame«, aber das ist ja keine italienische Partie. Spruchreif ist es sowieso noch nicht.
Gibt es eine Partie, die Sie unbedingt machen wollten, obwohl Sie wissen, dass es nicht ginge?
Fällt mir jetzt gar keine ein.
Dann sind Sie ein glücklicher Tenor?
Ja, vielleicht. Vielleicht hängen aber manche Trauben einfach zu hoch. Es gibt ein paar Partien, die in diese Schublade passen, die ich aber gar nicht singen will, weil sie mir nicht liegen.
Und Ihre Wunschpartien bei Wagner?
Als nächstes könnte das der Tannhäuser sein. Auch Tristan kann ich mir gut vorstellen, eher als die Siegfriede. Der Legato-Gesang liegt mir mehr; ich habe es gern, große Bögen zu spannen und zwischendurch, in einer dramatischen Szene, deklamatorisch fast an die Grenze zur Hässlichkeit zu gehen; aber das darf nicht die Hauptrolle spielen.
Mythos Bayreuth
Wann haben Sie zum ersten Mal von Bayreuth gehört?
Ganz früh, spätestens mit sechs Jahren. Mein Vater machte viele Tonbandaufnahmen, darunter ein Bayreuther »Lohengrin« mit Jess Thomas und viele Sängerporträts – mit Franz Völker, Max Lorenz und so weiter. Zu der Zeit habe ich besonders gern auch Peter Anders gehört, vor allem mit Operetten. Er hat das ganz gerade und opernhaft gesungen, nicht so versäuselt, verschnörkelt und versüßt mit eingebauten Falsett-Tönen. Es gibt so wunderbare Operettenmusik, wirklich zum Wegschmelzen! Ob das der »Zigeunerbaron« ist, »Paganini«, »Vetter aus Dingsda« oder die schon vergessene »Große Sünderin« von Eduard Künneke. Aber es ist eben verdammt schwer umzusetzen. Es gibt kaum noch Sänger, die das können.
Warum treten Sie nicht in Operetten auf?
Das Problem ist, dass Operetten in allen Bereichen meistens nur zweit- und drittklassig besetzt werden, und dass die, die es könnten, sich nicht trauen, weil es angeblich schadet. Stellen Sie sich vor, Sawallisch dirigiert eine Operette. Ich bin sicher, das wäre hervorragend, aber man würde es ihm bestenfalls als einmaligen Ausrutscher durchgehen lassen. Was man darf oder nicht darf und die Sprache des Herzens sind eben zwei Paar Stiefel. Mit guten Leuten, gutem Orchester würde ich es sehr gerne machen.
Zurück nach Bayreuth. Wann waren Sie zum ersten Mal bei den Festspielen?
Mit Lucia, als sie 1986 als Evchen eingesprungen ist. Sie hatte damit großen Erfolg, aber sie ist nicht wieder eingeladen worden.
Wie kam Ihr Engagement zustande?
Per Handschlag, 1992 in Salzburg. Daniel Barenboim fragte mich nach der Generalprobe »Salome« auf dem Flur, ob ich mir den Stolzing vorstellen kann, mit ihm. Ich sagte ja, natürlich, mit dir schon. Er gab mir die Hand, und ein paar Wochen später kam die Einladung von Wolfgang Wagner. Obwohl ich irgendwann in einem Interview gesagt hatte, dass man in Bayreuth doch erst singen sollte, wenn man bewiesen hat, dass man in einer bestimmten Partie mit einer der besten ist, also wenn man damit schon in Wien, Berlin und vielleicht an der Met erfolgreich war und Bayreuth dann als Krönung versteht. Heutzutage bringt Bayreuth viele Debütanten hervor. Gut, angeblich singt es sich leichter, die Akustik muss unglaublich sein. Aber dass ein Rollendebüt gleich das Nonplusultra sein soll, ist eigentlich nicht zu schaffen. Natürlich bin ich froh, dass ich überhaupt nach Bayreuth kommen darf; ich habe mir das also zu Herzen genommen und seither versucht, mich so gut vorzubereiten, als würde ich den Stolzing schon seit Jahren singen.
Über den Tod von Lucia Popp
Was denken Sie über die Figur? Ist Stolzing Ihnen sympathisch? Entspricht er Ihnen?
Teils, aber nicht ganz. Mit seiner Entführung von Eva, mit diesem »Hau drauf«, kann ich mich schon identifizieren, denn so war ich vielleicht vor zehn, fünfzehn Jahren. Vieles entspricht mir auch, zum Beispiel der Schluss, wenn er sagt »Nicht Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!« Das kenne ich irgendwie. Es gab immer wieder Leute, die zu mir gesagt haben: »Mit Ihrer Stimme ist es eine Verpflichtung zu singen«. So habe ich nie gedacht. Ich bin wohl dankbar dafür, dass ich es überhaupt kann. Aber wenn ich ehrlich bin, ist das purer Egoismus: dieses Gefühl, auf der Bühne mit Chor und Orchester zu singen! Es ist unglaublich schön, nur Baustein zu sein – nicht der Tenor oder der Star, sondern ein Teil des Ganzen zu sein und dabei etwas zu schaffen, mit einem Teil von sich selbst. Eine meiner Lieblingsstellen im »Lohengrin« ist die Szene vor dem Münster. Wenn der Chor sein »Gesegnet sollst du schreiten« singt, bin ich garantiert auf der Seitenbühne und höre zu, bei jeder Vorstellung, egal wo. Und wenn das ein Dirigent gut macht – so wie Hollreiser, Sawallisch oder Thielemann – geht für mich plötzlich der Himmel auf. Diese Musik trägt mich einfach, füllt mich auf. Alles andere, jedes Denken an Geld, Karriere, Schmach, Missgunst oder schlimme Schicksalsschläge, ist in so einem Moment vergessen.
Als ich nach dem Tod von Lucia zum ersten Mal wieder aufgetreten bin, habe ich so ein großes Glücksgefühl empfunden. Zum »Holländer« in Berlin wurde ich damals ganz liebevoll aufgenommen, auch von Götz Friedrich persönlich. Er hatte mir, als Lucia gestorben ist, auch geschrieben, hat Worte gefunden, die tröstend und wirklich hilfreich waren. Ich fühlte mich nicht mehr von aller Welt verlassen, sondern irgendwie gut aufgehoben, im Schoß einer großen Familie. Dafür bin ich Götz Friedrich, Otto Schenk und allen, die mir geschrieben oder mit mir gesprochen haben, unglaublich dankbar. Leider konnte ich das nie so ausdrücken, konnte den Leuten auch nie sagen, was mir das eigentlich bedeutet hat. Aber es war etwas ganz Großes, wieder auf der Bühne zu sein. Bei »Willst jenen Tags du dich nicht mehr entsinnen« kam da plötzlich ein so verzweifelter Schmerz, als ob ich selbst Erik wäre. Ich glaube nicht, dass ich das in all diesen Schattierungen vorher oder nachher jemals so gesungen habe. Am Ende waren die Leute aus dem Häuschen. Dabei hatte ich für mich gedacht, selbst wenn hinterher überhaupt niemand applaudiert, ist das egal, weil ich heute etwas abgeliefert habe, das man vielleicht nicht so schnell wieder hört. Ich hatte ein Gefühl von einem ganz großen Abend.
Wie lange hatten Sie da nicht mehr gesungen?
Ich hatte viel abgesagt, fast drei Monate bin ich überhaupt nicht mehr aufgetreten. Niemand wusste etwas von Lucias Krankheit, und sie wollte das auch nicht. Es war nur manchmal schwer zu verheimlichen, weil die Leute fragten nach ihr, wenn sie mich trafen. »Grüß die Lucia, wie geht’s ihr?« Und ich sagte gut, obwohl ich wusste, wie es um sie stand.
Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Nein. Ich habe zwar Ideale, aber die haben nicht direkt mit Religion zu tun. Viele Menschen brauchen die Kirche als Medium, als Schutz du Trost – ich brauche das nicht. Für mich ist der Glaube etwas Unbegreifliches; es gibt so viel, was ich nicht einmal annähernd erfassen kann. Diese Einsicht bringt mich auch, wenn es mir besonders gut geht, wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Ich glaube, man muss Respekt haben vor der Natur, Respekt vor den Menschen, auch wenn der manchmal verloren geht. Ich habe außerdem großen Respekt vor der Musik, denn selbst wenn man bis ins Detail weiß und erklären kann, wie sie konstruiert ist, bleibt es ein großes Geheimnis, wenn alles zusammen erklingt. Deshalb komme ich vielleicht auch so gut mit den Leuten im Theater zurecht, die gerne mal mit mir tauschen würden, mit den Bühnenarbeitern oder Chorleuten. Und manchmal passiert es dann auch, dass selbst auf der Bühne so etwas wie die große Harmonie ausbricht. Bei »Lohengrin« 1990 in Berlin waren die Schwingungen von allen Seiten nur positiv. Ich brauchte nur noch das zu machen, was ich bis dahin schon so gut wie möglich konnte. Als ich vor den Vorhang ging, ist ein Orkan losgebrochen, dass mich der Schall fast an den Vorhang gedrückt hat. Und als der Vorhang aufging, fing der ganze Apparat, der da hinten stand, also Orchester und Chor mit Stangen, Lanzen und Schwertern, an zu trampeln. Es kam gleichermaßen von vorn und von hinten, es war unglaublich! Ich dachte, heute ging einfach alles zusammen, heute war der »liebe Gott« dabei – und alle anderen haben es auch so empfunden und aufgenommen. Das kommt bestimmt nie wieder! Und in dem Moment wusste ich: Ja, das ist auch der Anfang vom Ende.
Erstveröffentlichung des Interviews in Gondroms Festspielmagazin 1996