Barbora Horáková inszeniert Bohuslav Martinůs Oper »The Greek Passion« in Hannover – ein Spiel. Und was für eines.
English summary: Barbora Horáková’s staging of Bohuslav Martinů’s The Greek Passion in Hannover is a gripping exploration of faith, fanaticism, and humanity. Set in a Greek village preparing for a Passion play while refugees arrive, reality and role merge tragically. With abstract visuals and a radiant score, the opera becomes a haunting parable—and a powerful theatrical experience.
Interessiert es uns, wie ein griechisches Dorf mit flüchtigen Landsleuten umgeht? Interessiert es uns, wie sich beim traditionellen Passionsspiel dort Spiel und Wirklichkeit überlagern? Interessieren uns Fragen der christlichen Nachfolge? Man ist auf der Opernbühne ja so einiges gewohnt, aber realistische Maßstäbe anzulegen, kann nur scheitern. Dafür ist die Oper nicht da.
Bohuslav Martinůs Oper The Greek Passion, 1956/57 komponiert und nach einer Ablehnung am Londoner Covent Garden in umgearbeiteter Form 1961 in Zürich uraufgeführt, basiert auf Nikos Kazantzakis‘ nur wenige Jahre zuvor entstandenem Roman Griechische Passion (Der auferstandene Christus). Der Schriftsteller des Alexis Sorbas taucht hier, wie auch in anderen seiner Romane, tief in den christlich-orthodoxen Volksglauben ein und entwirft mit dickem Pinselstrich eine Handlung, die uns heute noch packen kann, obwohl sie voll und ganz außerhalb unserer aufgeklärten Denkschemata liegt. Die Oper folgt dem Roman ohne Zutaten. Schriftsteller und Komponist kannten sich persönlich.
Wahn, Wahn, religiöser Wahn!
Das reiche griechische Dorf Lykovrissi in Kleinasien bereitet sich auf das jährliche Passionsspiel vor. Der Priester Grigoris, die wahre Macht im Ort, benennt die Darsteller, die sich geehrt fügen. Nur Manolios, der einfache Hirte, zögert und nimmt die Rolle des Christus dann doch an. Flüchtlinge erscheinen, die Bewohner eines ganzen Dorfes, vertrieben von den Türken. Die Gebeine ihrer Ahnen tragen sie mit sich, sie hungern, bitten um Aufnahme, um Teilung der Reichtums. Grigoris zögert, fragt, welche Sünden die Landsleute begangen haben, um solch ein Schicksal erleiden zu müssen. Man gibt ihnen Land am Berg, überlässt sie aber sich selbst. Kinder und Alte hungern und sterben. Doch die Dorfbewohner, die Rollen im Passionsspiel haben, fühlen ihre Sendung. Besonders Manolios begehrt auf, trennt sich von seiner Verlobten, weist die in ihn verliebte Dorfprostituierte Katerina zurück, die – natürlich – die Maria Magdalena spielen soll. Aus dem Christus-Darsteller wird in seiner Wahrnehmung Christus selbst. Die Sache eskaliert. Manolios-Christus ruft zum Widerstand auf, bis ihn Panait-Judas ermordet. Es ist Heiligabend. Im Dorf wird der Erlöser begrüßt. Die Flüchtlinge ziehen weiter.
Was kann ein Regieteam heute mit so einer Geschichte anfangen? Religiöser Wahn ist nicht gerade ein Topthema für die Opernbühne (sieht man mal von Poulencs Carmélites ab).
Solch ein Projekt birgt viele Fallstricke. Konterkariert man das Tableau, wird man gefragt werden, warum man sich nichts anderes ausgesucht hat. Bildet man die Geschichte zu genau ab, besteht die Gefahr, ein griechisches Oberammergau zu schaffen. Sucht man nach Parallelen in der Gegenwart – 2015, Balkanroute, Schlauchboote, Budapest, »Wir schaffen das« – engt man Fantasieräume für das Publikum ein.
Jesus fordert Gewalt
Barbora Horáková hat Möglichkeiten und Unmöglichkeiten genau abgewogen und eine spannende, packende Realisierung geschaffen. Sie verwendet die rauere, verworfene Londoner Fassung. In einem abstrakten Raum (Susanne Gschwender), der durch Mauersegmente vielfältig wandelbar ist – mit Kreuz und Labyrinth als zentralen Konstellationen – entrollt sich die oratorienhafte Handlung. Der häufige Stillstand durch lange geistliche Chöre und Volksszenen wird durch attraktive Bilder geadelt. Die Personen in zeitlosen Kostümen (Eva-Maria van Acker) sind perfekt geführt. Eine brillante Lichtregie schafft zusätzlich Tiefenschärfe. All das ergibt ein höchst attraktives Sehvergnügen. Sogar ein wenig kitschigen Schneefall gestattet man sich am Ende.
Kleine Fragen müssen erlaubt sein. Wofür braucht es die kleine Tanztruppe. Horror vacui? Wozu den hinzugefügten Kommentator?
Am Ende gerät das Geschehen noch über das vom Libretto Vorgegebene aus der Bahn. Manolios-Christus, inzwischen mit blutigem Hemd, sein Gesicht im Video in ein altes Kreuzigungsgemälde montiert, ruft zur Gewalt auf, um die Verhungernden zu retten. Er will sich selbst anzünden, das misslingt, aber seine Mitbürger (nicht der Wagners Hagen ähnliche Panait) schlagen ihn tot wie eine räudige Katze. Religiöser Fanatismus wird von brutalster Hartherzigkeit zur Strecke gebracht. Gut und Böse sind hier nicht zu trennen. Der Parabel des Romans traut die Regisseurin nicht, was ja legitim ist. »Wir dürfen nicht aufhören, solange wir noch am Leben sind«, sagt sie etwas undeutlich im Programmheftinterview. Aufhören womit?
Was für ein Spiel!
Noch war nicht von der Musik die Rede. Martinůs Partitur ist eine Wunderkiste voller alchimistisch angerührter Farben. Die Korrespondenz von Musik zu Wort und Handlung ist von einer krassen Treffsicherheit. Kammermusikalische Tupfer werden von puccineskem Auftrumpfen gefolgt. Kaum je gehörte Klangkombinationen fesseln. In der Apotheose fließt dann alles in einem breiten Strom auf die Katastrophe zu. All das war bei GMD Stephan Zilias in guten Händen: Aus dem Graben leuchtet es herrlich. Und die Niedersächsische Staatsoper verfügt über ein bewundernswert homogenes Ensemble. Soll man Einzelne herausheben? Christopher Sokolowski als Manolios vielleicht, der alle Facetten seiner Rolle adäquat umzusetzen verstand. Vielleicht auch Eliza Boom als Katerina, die sich im dritten Akt mit Manolios zu einem bewegenden Duett zusammenfindet. Oder die beiden konkurrierenden Priester, Shavleg Armasi als Grigoris und Marcell Bakonyi als Fotis, oder Ketevan Chuntishvili als Manolios‘ Verlobte Lenio oder, oder, oder …
»You know that it‘s all a game« sagt Yannakos-Petrus zu Manolios-Jesus. Ja, aber was für eins! Das Publikum war begeistert.
★★★★☆