Premiere von The Listeners an der Chicago Lyric Opera (Foto: Lyric Opera)
Oper in Trumps Amerika: Die Komponistin Missy Mazzoli und Dirigent Enrique Mazzola über politische Oper, Protestkunst und die Frage, wie laut Musik heute sein darf.
English summary: In Trump’s America, opera has become a powerful space for political expression. Composer Missy Mazzoli and conductor Enrique Mazzola see contemporary opera as a form of resistance, giving voice to social issues like racism, gender identity, and inequality. Mazzoli’s opera The Listeners explores themes of manipulation, isolation, and suppressed female potential through the story of a woman drawn into a cult. Mazzola emphasizes how new works make opera more diverse and accessible, especially to younger and minority audiences. Despite relying on private funding, the Lyric Opera of Chicago maintains artistic freedom while balancing audience needs. Mazzoli, the first woman commissioned by the Met, links her roles as artist and teacher, advocating for inclusivity and artistic freedom. Both artists argue that opera must evolve, provoke thought, and remain socially engaged, ensuring its survival and relevance in turbulent political times.
Musik kann eine Bühne sein, um Dinge zu sagen, die man in Zeiten bedrohter Demokratie auf anderen Podien nicht mehr wagt, auszusprechen – darin sind sich die Komponistin Missy Mazzoli und der Generalmusikdirektor der Lyric Opera of Chicago Enrique Mazzola einig. Wird zeitgenössisches Musiktheater so zur geheimen Widerstandszelle?
Einen Tag vor der Premiere von Mazzolis jüngstem Coup The Listeners – trifft Antonia Munding die US-Komponistin und den GMD des Hauses, Enrique Mazzola, im vierten Stock das Civic Opera Tower. Draußen auf der North Wacker Drive pfeift ein scharfer Wind, ein Dutzend Menschen mit Papp-Schildern haben sich vor dem Eingang zu ersten Protesten versammelt. Drinnen sitzen wir in einem nüchternen Konferenzraum, lediglich zwei Kostümskizzen einer früheren Ring-Produktion beweisen, dass wir uns im Theater, nicht etwa in einem Steuerbüro befinden. Unter Wotans Speer und der Weltenesche sprechen wir über Chancen und Wagnisse des zeitgenössischen US-Musiktheaters, die Kommunikation mit dem Publikum, privates Sponsoring – und was sich Europa von den USA abgucken könnte…
The Listeners an der Chicago Lyric Opera (Foto: Lyric Opera)
BackstageClassical: Missy Mazzoli, Sie haben einmal gesagt, jede Nachricht habe das Potenzial für eine Oper. Angesichts der aktuellen Situation müssten Sie eine nach der anderen schreiben….
MISSY MAZZOLI: Das stimmt. Je verrückter die Nachrichten, desto intensiver wollen die Leute ihren Standpunkt zum Ausdruck bringen – auch ich! Keine andere Kunstform kann so viele unterschiedliche Disziplinen und Erzählstränge miteinander verknüpfen wie die Oper, und ich genieße diese intensive Form der Zusammenarbeit, wenn man auf den Proben die menschliche Psychologie auf eine so tiefe Art und Weise künstlerisch erforschen kann.
ENRIQUE MAZZOLA: Der Erfolg des zeitgenössischen Musiktheaters in den USA erklärt sich ja auch damit, dass die Komponistinnen und Komponisten hier direkt über soziale Probleme sprechen: über Rassismus, Diversität, über Themen, mit denen die Amerikaner täglich konfrontiert sind. Wenn ich neue Oper in Europa sehe, geht es viel häufiger um antike Stoffe als um die drängenden Anliegen des Zuschauers.
MISSY MAZZOLI: … aber, der Hype ist auch noch ziemlich jung. Lange haben wir uns an Europa orientiert. Und während es gerade in Deutschland ein traditionell großes Publikum für Oper gibt, auch den Appetit auf ein unbekanntes neues Werk, mussten wir in den USA immer um Zustimmung und um jeden Zuhörer kämpfen.
… das kennen wir in Deutschland und Europa ebenso….
ENRIQUE MAZZOLA: Inzwischen ist die Lyric Opera of Chicago neben der Met in diesen Fragen aber vielleicht zum Vorbild geworden, etwa durch die vielen Kompositionsaufträge. Sie definieren die amerikanische Oper des 21. Jahrhunderts. Klar, manche Werke werden wieder verschwinden, andere ins Repertoire eingehen. Aber wir dürfen nicht vergessen: Jedes große Werk war mal ein zeitgenössisches Werk. Gerade deshalb finde ich es wichtig, die Oper auch heute zu fördern! Und wir brauchen neue Formate und Ästhetiken, um unsere Geschichten zu erzählen.
Missy Mazzoli, Sie waren 2018 die erste Frau, die von der Metropolitan Opera einen Kompositionsauftrag erhielt. Sie sind auch Hochschullehrerin, die für Toleranz und Non-Binarität kämpft. Jetzt ist ein Mann US-Präsident, der sagt, es gäbe nur zwei Geschlechter – und der auch die Komplexität in der Kunst angreift. Wie reagieren Sie?
MISSY MAZZOLI:The Listeners ist vielleicht meine direkteste Antwort auf das, was momentan vor sich geht. Ich habe das Stück bereits in der ersten Trump-Regierung konzipiert. In dieser Oper gibt es die Figur Howard, die als charismatischer Sektenführer die Verletzlichkeit der Menschen sieht, und sie für seine Zwecke instrumentalisiert – ein Mikrokosmos der Trump-Welt.
Missy Mazzoli ist Komponistin, Performerin, Jazz-Pianistin, Hochschullehrerin. Sie war die erste Frau, die einen Kompositionsauftrag der Metropolitain Opera erhielt, inzwischen werden ihre Werke von den größten und namhaftesten Orchestern (u.a. Berliner Philharmoniker) und Opernhäusern gespielt, dreimal war sie bereits für einen Grammy für die beste zeitgenössische Komposition nominiert. Ihre Oper The Listeners wurde 2022 in Oslo uraufgeführt und erlebte Ende März 2025 an der Lyric Opera of Chicago seine Nordamerika-Premiere.
Es geht in The Listeners aber auch um ein musikalisches Thema, ein unaufhörliches, nervtötendes Brummen, das die Menschen, die es hören, vom Rest der Gesellschaft isoliert.
MISSY MAZZOLI: In diesem »hum« steckt das Thema des unterdrückten, hier weiblichen Potentials. Es kommt aus meiner eigenen Erfahrung mit meiner Mutter, die Architektin werden wollte und der gesagt wurde, dass sie das nicht kann. Trotzdem konnte sie ihr Architektengehirn nie abschalten.
In The Listeners treibt dieses ominöse Brummen die Hauptfigur Claire, eine Frau Ende 40, aus ihrem bürgerlichen Leben, weg von Mann, Tochter, ihrem Job als Mathelehrerin. Es treibt sie in die Arme von Howards Sekte, deren Führung sie am Ende selbst übernimmt. Ist Claire Opfer oder Täterin – oder beides? Verkörpert sie vielleicht selbst dieses Brummen, das nur sie alleine hört? Ich habe mich geschüttelt, als ich Donald Trump darüber reden hörte, wie er sagte: »Ohh ich wollte immer Musik machen, aber leider wurden meine Talente nie gefördert.«
In vielen Städten protestiert man inzwischen gegen die Regierung Trump. Trotzdem ist man in Europa verwundert, dass der Widerstand in den USA so schleppend anläuft, dass vor allem der Protest der Demokraten so zaghaft klingt.
MISSY MAZZOLI: Ja… Ich habe die gleiche Frage. Obwohl jetzt tatsächlich mehr protestiert wird, als noch im Jahr 2017. Trotzdem geht dies im Getöse der anderen Nachrichten unter. Und ich denke, nicht nur die Demokraten, wir alle sollten viel mehr Widerstand leisten! Weil dieses Trump-Regime unersättlich ist, und die Schweigsamen und Duldsamen einfach verschlingen wird.
Lesen Sie zum Thema Kultur im Zeitalter von Donald Trump auch den Essay von Steven Walter bei BackstageClassical
ENRIQUE MAZZOLA: Aber wir dürfen bitte nicht die anderen fünfzig Prozent unterschlagen, die nicht für Trump stimmten… In Chicago treten wir sehr laut für Vielfalt ein. Wir wollen Lösungen für Rassenprobleme, für soziale Ungerechtigkeiten. Ich glaube, das ist wirklich die Bedeutung von neuer Oper in Trumps Amerika: Du kannst darin Dinge sagen, die inzwischen sehr heikel sind zu äußern. Und unsere Rolle als Künstler besteht darin, widerstandsfähig zu sein, neue Sprachen zu entwickeln, um mit diesen demokratischen Idealen weiterzumachen, weiter zu spielen.
Ich habe letztes Jahr „Champion“ von Terence Blanchard dirigiert. Blanchard ist ein afrikanisch-amerikanischer Jazzmusiker, der in seiner Oper vom Kampf eines Boxers erzählt, der schwarz ist und homosexuell.
Wird die zeitgenössische US-Oper damit zum Medium für drängende, unbequeme Themen?
ENRIQUE MAZZOLA: Und nicht nur das: Seitdem wir Aufträge für neue Werke eingeführt haben – und mit ihnen plötzlich andere Heldinnen und Helden auf unseren Bühnen spielen – ist auch unser Publikum vielfältiger und jünger geworden. Es kommt aus der afro-amerikanischen Community, aus der lateinamerikanischen. Als ich mich bei der Generalprobe zu Beginn des zweiten Aktes zum Publikum umdrehte, habe ich in so viele neue Gesichter geblickt, Gesichter, die ich noch nie hier gesehen habe.
Ich bin in Italien mit der Oper aufgewachsen, habe viel Musiktheater in Europa dirigiert. Aber, Oper als elitäre, weiße Kunstform zu sehen, darauf kam ich erst hier in den USA. Dabei bin ich davon überzeugt, dass Oper in ihrem Kern keine elitäre Angelegenheit ist, sondern ein Medium, das jedem zugänglich sein sollte. Ihre Anfänge waren volksnah, man baute für sie die ersten öffentlichen Theater. Ja, das war eine Art Pop, auch bei Verdi. Und ich mag diese Idee, dass die zeitgenössische Oper ein populäres Genre ist!
Enrique Mazzola studierte Komposition und Dirigieren am Conservatorio Giuseppe Verdi Mailand, leitete das Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano und war bis 2019 künstlerischer Leiter und Chefdirigent des Orchestre national d’Île-de-France. Er ist er Conductor in Residence bei den Bregenzer Festspielen, ständiger erster Gastdirigent der Deutschen Oper Berlin und seit 2021 Musikdirektor der Lyric Opera of Chicago. Mazzola gilt als Experte für die Französische Grand Opéra und das Belcanto-Fach, doch die zeitgenössische Musik liege in seiner DNA, sagt er.
Ein Genre, in welchem aber auch das Geld über die Form entscheidet. Wir haben staatliche Subventionssysteme in Europa, ganz besonders in Deutschland, während man in den USA auf private Sponsoren setzt. Wo bleibt da die Freiheit der Kunst?
ENRIQUE MAZZOLA: Als ich in Chicago zum Musikdirektor ernannt wurde, habe ich viel darüber nachgedacht – gerade bei der Programmgestaltung. Ich stellte mir vor, der private Sponsor würde persönlich zu mir kommen und sagen, okay, du solltest mehr Mozart spielen und weniger Berg. Wir haben tatsächlich an der Lyric Opera of Chicago einen Sponsor, der nur Mozart-Projekte fördert. Aber überwiegend bekommen wir nicht-restriktive Förderungen, das heißt, es liegt an mir und dem Generaldirektor John Mangun, zu überlegen, was einen guten Spielplan ausmacht. Und niemand sagt uns, spielt keine zeitgenössische Oper, weil wir die nicht mögen. Im Gegenteil.
Aber denken Sie hierbei nicht auch immer die Perspektive des Publikums mit – was würde ankommen, bzw. was können Sie ihm geben, damit es sich auf ein Wagnis einlässt?
ENRIQUE MAZZOLA: Es stimmt, wir können zum Beispiel nicht riskieren, dass zwei Drittel unserer Sitzplätze leer bleiben. Unter diesem Gesichtspunkt sind wir sehr wachsam. Und ja, der Geschmack des amerikanischen Publikums war im Allgemeinen traditioneller als der des europäischen. Aber Oper ist ein lebendiger Organismus. Wenn wir einerseits berücksichtigen, was das traditionellste Publikum hier sehen will, möchte ich auf der anderen Seite auch das Publikum mit etwas völlig Neuem überraschen.
Also würden Sie sagen, dass die Verbindlichkeit zum privaten Sponsor eine neue Verantwortung mit sich bringt, sich mit den Bedürfnissen des eigenen, durchaus sehr heterogenen Publikums auseinanderzusetzen?
ENRIQUE MAZZOLA: In Europa hat man durch die staatlichen Subventionen, die jahrzentelang garantiert waren, auch ein bisschen den Bezug zum Publikum verloren. Die neue Musik, die komponiert wurde, wollte nicht unbedingt mit ihren Zuhörern sprechen. Das war lange Zeit cool und geheimnisvoll. Jetzt ist es arrogant. Warum gibt es keine Opernstoffe in Deutschland, die von den sozialen Problemen handeln, die die junge Generation umtreibt?
Und was ist Ihre Antwort?
Gerade in einer Zeit, in der die Regierungen beginnen, die Mittel für die klassische Musik zu kürzen, ist es wichtig, eine starke Bindung zum Publikum herzustellen. Ein Opernhaus, das zeigen kann, dass es treue Zuschauer hat, dass es sich um dessen Belange, Sorgen, Kinder kümmert, wird nicht untergehen, davon bin ich überzeugt.
Teaser von The Listeners an der Chicago Opera
Die europäische Kulturlandschaft ist so reich – und auch die staatlichen Förderungen der Institutionen bedeuten eine große Errungenschaft, eine, an der ich überhaupt nicht rühren will. Aber sie sollte nicht für garantiert hingenommen werden. Denn wohin wird der Rechtsruck in Europa führen? Welche Kunst wird in ein paar Jahren noch als förderungswürdig gelten? Ich empfehle allen Kolleginnen in den europäischen Opernhäusern sich jetzt auch um alternative Finanzierungsmodelle, um private Sponsoren zu kümmern.
Wie halten Sie persönlich den Kontakt zu Ihrem Publikum?
ENRIQUE MAZZOLA: Indem wir versuchen, die unterschiedlichen Sprachen um uns herum zu verstehen, sie auch zusammenzubringen. Wir machen das, was sicherlich viele Häuser in Europa tun. Wir öffnen die Generalproben für Schüler und Studenten. Manchmal sitzen da mehr als 1000 Studenten. Ich persönlich besuche Schulen und Musikschulen, dirigiere regelmäßig das Kinderorchester einer zentralen Musikschule in Chicago. Wir veranstalten Chorkonzerte in der Nachbarschaft, in Communities, die von sich aus nicht in die Oper gehen würden. Im Februar waren wir in der Austin-Nachbarschaft, ein sehr afro-amerikanisch geprägtes Viertel. Ich gebe Meisterklassen an der Northwestern University, morgen werde ich das Laienorchester eines benachbarten Stadtteils dirigieren – für eine Stunde, einfach um Zeit mit ihnen zu verbringen. Für mich bedeutet die Rolle des GMDs mehr als nur der erste Dirigent eines großen Hauses zu sein. Es heißt eine öffentliche Person zu sein, die sich nicht im Orchester-Graben versteckt. Eine Person, die Kommunikationswege für die unterschiedlichsten Menschen finden muss, um mit jeder und jedem sprechen zu können.
Es gibt inzwischen immer mehr europäische Künstler, die ihre Konzerte in den USA aus Protest gegen Trump absagen. Frau Mazzoli, können Sie das verstehen?
MISSY MAZZOLI: Ich mache niemandem einen Vorwurf, wenn er sich widersetzt, wie er es will. Nur macht es mich als amerikanische Künstlerin traurig, wenn ich keinen Zugang habe. Ich denke, dass Kunst gerade an diesen Orten stattfinden muss, wo die Freiheit bedroht ist. Ich habe Freunde, die im Kennedy-Center arbeiten. Als Trump den Vorsitz dort übernahm, hat die Hälfte gekündigt, die andere ist geblieben. Ich wäre in jedem Fall geblieben. Ich möchte jede Gelegenheit, jeden Auftritt nutzen, um mich laut über die Freiheit und ihre Bedrohung zu äußern.
Wie steht es um Ihre Arbeit als Lehrerin – ist sie vom radikalen Vorgehen der Regierung betroffen?
MISSY MAZZOLI: Ich unterrichte Komposition am Bard-College in New York, außerdem leite ich das Luna Composition Lab, eine gemeinnützige Einrichtung für weibliche und non-binäre Komponist:innen im Alter von 13 bis 18 Jahren. Hier werden wir nur in einem sehr geringen Anteil von der Regierung unterstützt. Der Unterricht bedeutet mir sehr viel. Wenn die staatliche Subvention eingestellt würde, wäre das ein symbolischer Schlag, den wir wegstecken könnten. Die private Finanzierung durch Einzelpersonen, Stiftungen, Steak-Finanzierungen wiederum unterliegt sehr unterschiedlichen Regeln. Natürlich bin ich nervös, wie sich das in Zukunft gestalten wird. Aber ich weiß auch, selbst, wenn sämtliche Finanzierungsmodelle zusammenbrechen würden, würde ich weiter unterrichten. Ich würde sie zu mir nach Hause einladen und umsonst mit ihnen arbeiten.
Das klingt sehr selbstlos….
MISSY MAZZOLI: Ist es eigentlich nicht. Denn für mich ist das Komponieren, meine Arbeit als Künstlerin untrennbar mit dem Unterrichten verknüpft. Ich profitiere selbst so sehr davon. Und es macht für mich keinen Sinn, künftige Generationen zu ignorieren. Denn für wen mache ich sonst Musik? Ich will niemals in eine Zeit zurückkehren, in der Frauen nicht an Universitäten zugelassen waren und non-binäre Menschen als unsichtbar galten.
Wie konkret nutzen sie Ihre künstlerischen Freiräume, welche musikalische Sprache wollen Sie entstehen zu lassen…?
MISSY MAZZOLI: Ich möchte mit meinen Geschichten direkt berühren. Aber ich verweigere mich der Eindeutigkeit. Denn die Wahrheit finde ich, klingt meistens widersprüchlich.
The Listeners an der Chicago Lyric Opera (Foto: Lyric Opera)
Meine musikalische Strategie besteht darin, mit Vertrautem zu locken, es dann aber zu verdrehen. Zum Beispiel ein Akkord, in dem der Grundton plötzlich an Boden verliert oder ein Cluster, der an einer schönen Melodie kratzt. Bekanntes wirft so einen überraschenden, irritierenden Schatten. In diesen Zwischenräumen liegt für mich die emotionale Kraft der Musik, für die wir oft keine Worte finden, weil uns zu viele Gefühle auf einmal überwältigen.
Entscheidend für meinen Stil ist, dass er sich aus sehr unterschiedlichen Strömungen und Traditionen speist. Mich inspirieren meist Künstler, die vollkommen anders arbeiten als ich. Zum Beispiel Olga Neuwirth, Thomas Adams, George Benjamin oder Meredith Monk.
Doch Ihr erster musikalischer Impuls kam ganz klassisch durch Beethoven?
MISSY MAZZOLI: Ja, Beethovens Mondscheinsonate war das erste Musikstück, das ich als Kind bewusst hörte, im Radio, auf einer langen Autofahrt. Es hat mich sofort fasziniert. Danach habe ich mich mit all seinen Sonaten akribisch auseinandergesetzt, vor allem Beethovens Umgang mit Variation hat mich inspiriert. Ich habe später Jazz-Klavier studiert – und vielleicht ist die Direktheit in meiner Musik, die Verbindung zum Publikum auch eine Folge davon, dass es für mich immer wichtig war, meine eigene Musik aufzuführen, egal wie klein oder groß der Rahmen war.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Oper?
MISSY MAZZOLI: Ich möchte, dass Oper in vielen verschiedenen Räumen existiert, nicht nur innerhalb der Mauern großer Institutionen. Ich wünsche mir vor allem, dass sie Gespräche und Kontroversen auslöst. Sie soll Menschen herausfordern, überraschen und trotzdem bzw gleichzeitig ihre wunderbaren Traditionen fortführen. Auf jeden Fall sollte sie jüngere Menschen ermutigen, sich in einer zeitgenössischen medialen Kunstform auszudrücken. Ich denke dabei an die Produzentin Beth Morrison, die in New York an einer Independant Opera arbeitet. Beth setzt sich unermüdlich für Künstler:innen ein, die eben keine Aufträge von der Met oder der Lyric Opera of Chicago erhalten. Solche Projekte möchte ich unterstützen!
Antonia Munding studierte klassischen Gesang, Musikwissenschaft, Germanistik und Journalismus. Sie war als Sängerin an verschiedenen Bühnen engagiert und arbeitete als Nachrichtenredakteurin. Als freie Autorin veröffentlicht sie unter anderem bei den Frankfurter Heften, Deutschlandfunk Kultur und der Freitag.
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