Der Komponist Aribert Reimann ist tot. Er starb mit 88 Jahren.
Am liebsten saß Aribert Reimann an seinem Schreibtisch in Berlin. Ein unspektakulärer Arbeitsplatz ohne Computer. Der Blick führte auf einen ebenso unspektakulären Balkon. Vor ihm lag das leere Notenblatt, in der Hand hielt er meist einen grünen, sehr spitzen Bleistift. Aribert Reimann brauchte kein Klavier, um seine Töne zu finden. Seine Musik fand allein im Kopf statt. Hier spukten seine Protagonisten als musikalische Gespenster, hier verließen ihre Stimmen die Körper, um in Welten der Wahrhaftigkeit zu gelangen. Hier entstanden seine über 70 Liederzyklen, Instrumental- und Orchesterwerke und seine neun Opern.
Musik war für Aribert Reimann so etwas wie eine bessere Welt. Ein Raum, in dem er sich gern aufhielt. Er war lieber im Klang zu Hause als in der Welt da draußen. Da zog er sich gern zurück. »Das Komponieren«, sagte er einmal, »ist mein Lebenselixier.« Mehr noch: Die Musik war sein Leben, sein Sinn: »Ohne wüsste ich gar nicht, warum ich hier auf dieser Welt bin.«
Vielleicht lag in seiner Zurückgezogenheit und in seiner Ausgeglichenheit ein Teil des Erfolges von Aribert Reimann. Kaum ein anderer Musiker wurde von seinen Kolleginnen und Kollegen als Mensch so geschätzt wie er. Aribert Reimann ruhte in seiner spektakulären Arbeit, die uns als Publikum durch ihre schöne Schrillheit immer wieder aufrüttelt. Die chaotische Welt um sich herum verarbeitete er am liebsten in Noten. Es schien, als ließe er seine Klänge schreien, um selber die Ruhe zu bewahren.
1946 hatte Aribert Reimann als Kind am Hebbel-Theater in Berlin für die Hauptrolle in Kurt Weills Oper Jasager vorgesungen – und wurde angenommen. »Für mich eröffnete sich damals eine vollkommen neue Klangwelt«, erinnerte er sich später. Die Proben dauerten zwei Monate. In den Pausen hat Reimann zu komponieren begonnen. Er war damals 10 Jahre alt.
Reimann stammt aus einer Musikerfamilie. Sein Vater, Kirchenmusiker, und seine Mutter, Oratoriensängerin, wurden im Krieg ausgebombt und zogen von Berlin nach Potsdam. Die Zeit hinterließ Eindruck in den Ohren des Sohnes, besonders das Dröhnen der Kriegsflugzeuge über seinem Kopf, wenn sie Mal wieder auf dem Weg nach Berlin waren. »Eines Tages klangen die Flieger plötzlich anders, und mir war klar: es musste etwas passiert sein«, erzählte Reimann einmal. »Und tatsächlich, an diesem Tag brannte ganz Berlin: die Häuser, die Straßen, die Bäume.« Eine Apokalypse die den Jungen nachhaltig beeindruckte, und die er ein Leben lang verarbeiten sollte. Viele seiner Opern wie Medea oder Melusine enden in einem Feuer-Inferno.
»Der glücklichste Moment ist für mich immer, wenn ich am Tag gut arbeiten konnte und gut weitergekommen bin. Dann habe ich das Gefühl, jetzt bin ich der glücklichste Mensch von der Welt.«
Aribert Reimann (Komponist)
Als Jugendlicher studierte Reimann an der Berliner Musikhochschule bei Boris Blacher und Ernst Pepping. Sein größte Inspiration fand er in der Literatur, besonders bei Günter Grass. Nach dessen Libretto komponierte er die Handlungsballette Stoffreste (1959) und Die Vogelscheuchen (1970). Reimann vertonte Werke von Strindberg (Ein Traumspiel und Gespenstersonate), William Shakespeares Lear, Franz Kafkas Schloss und Bernarda Albas Haus nach Federico Garcia Lorca.
Noch mehr als die Stoffe inspirierten ihn die Stimmen seiner Zeit. Elisabeth Grümmer, Brigitte Fassbaender oder Dietrich Fischer-Dieskau, dem er nicht nur den Totentanz sondern auch andere Stücke und vor allen Dingen den Lear auf die Stimmbänder komponierte. Durch ihre Kunst konnte Reimann Töne erfinden, die den menschlichen Ausdruck bis zu seinen Grenzen treiben. Reimann war ein Meister der vokalen Musikalität. In ihrer Exzentrik klang sie in seinen Opern stets echt und wahrhaftig. »Man sollte nie komponieren, was die Bühnenfigur sagt«, war eine seiner wichtigsten Regeln, »sondern immer nur das, was im anderen, dem Zuhörer, gerade innerlich vorgeht. Alles andere wäre eine Verdoppelung.«
Reimanns Musik tanzt stets auf den Grenzen des Möglichen. Und es dauerte lange, bis die Veranstalter Vertrauen gefunden hatten. Dem Regisseur Götz Friedrich war Reimanns Lear zu abenteuerlich. Erst August Everding nahm das Werk 1978 mit nach München, um damit seine ersten Opernfestspiele zu eröffnen. Mut zur Moderne, der sowohl dem Intendanten als auch dem Komponisten Aufmerksamkeit bescherte.
Bis zum Schluss blieb Aribert Reimann interessiert an allem, was ihn umgab, besonders an der Musik seiner Kolleginnen und Kollegen. Er war ein bescheidener Einzelgänger: »Der glücklichste Moment ist für mich immer, wenn ich am Tag gut arbeiten konnte und gut weitergekommen bin. Dann habe ich das Gefühl, jetzt bin ich der glücklichste Mensch von der Welt«, sagte er einmal. Am Mittwoche ist Aribert Reimann im Alter von 88 Jahren gestorben.