Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit ein bisschen Salzburg-Leaks, allerhand Berlin-Sorgen und Milliarden für Stuttgart. Ach ja: Und ein bisschen Wiener Advent-Besinnlichkeit gönnen wir uns auch noch.
Hinterhäusers Machtspiele
Letzte Woche hatten wir bereits über den Zoff zwischen Salzburgs Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser und seiner Schauspielchefin Marina Davydova berichtet. Nun ist die Sache eskaliert. Hinterhäuser hat Davydova gefeuert. Offizieller Grund: Ihr unangemeldetes Mitwirken beim Voices Performing Arts Festival in Berlin. Eigentlich würde so etwas zu einer internen Aussprache führen, nicht zur fristlosen Kündigung. Aber vielleicht war der erste Fehler schon die Einstellung der russischen Künstlerin ohne richtige Deutschkenntnisse, wenn man von ihr ein rein deutschsprachiges Festival-Programm erwartet? Nun wird über Dossiers gemunkelt, die über Hinterhäusers emotionale Ausbrüche angelegt werden, und man kann davon ausgehen, dass wir noch etwas von Davydova hören werden (ein bisschen lustig, dass ihre Entlassung auch von Präsidentin Kristina Hammer unterschrieben wurde, die ja selber nicht in der freundschaftlichen Gunst des Intendanten steht). Aber dass die Schauspielchefin nun ausgerechnet für die Mitwirkung an einem Festival gechasst wurde, das Putinkritischen Künstlern eine Stimme gibt, während Hinterhäuser offensichtlich auch 2025 wieder Teodor Currentzis nach Salzburg einlädt, der gerade mit seinem VTB gesponserten Russen-Ensemble MusicAeterna durch China getingelt ist, ist eine weitere Geschichte, die an Absurdität und Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten ist.
König Markus’ Festspielprogramm
Währenddessen zwitschern die Engel schon das Salzburger Sommer-Programm vom Festspielhügel herunter, das eigentlich erst morgen verkündet werden soll. Wenn wir es richtig verstanden haben, und es stimmt, sind wieder viele altbekannte Kumpel von Markus Hinterhäuser dabei. Żur Mission Silberlocke gehören: Peter Sellars, Barrie Kosky und Krzysztof Warlikowski. Irgendwie scheinen die Festspiele auch nicht mehr den Anspruch zu haben, der Platzhirsch in Sachen Oper und Besetzung zu sein, sondern ziehen sich in eine Barock-Eklektizismus-Ecke zurück, in der sie unvergleichbar – und damit auch unangreifbar – werden. Hinzu kommen immer größere Zweifel an Hinterhäusers Führungsqualitäten. Die Salzburger Nachrichten berichteten, dass Bürgermeister Bernhard Auinger nach einer Kuratoriumssitzung Fehler in der Disposition und zu späte Entscheidungen darüber beklagt habe, welche Opern wann gespielt würden. Dieses Missmanagement führe zu erheblichen Mehrkosten durch Überstunden. Ob Hinterhäuser die Festspiele wirklich noch bis zu seinem Vertragsende leiten wird? BackstageClassical hat das, was man so hört, einmal zusammengefasst – nachzulesen hier.
Joe lehrt Deutschland das Sparen!
Am Donnerstag hatte BackstageClassical exklusiv über ein Schreiben berichtet, das Berlins Kultursenator Joe Chialo an die Intendantinnen und Intendanten der Berliner Häuser verschickt hatte. Darin kündigte er an, dass die Berliner Sparmaßnahmen noch nicht beendet seien. Besonders bei den Tarifausgleichen würde es noch zu »weiteren Kürzungen kommen – auch bei Einrichtungen und Projekten, die in der Einsparliste des Senats nicht auftauchen.« Das derzeit größte Problem ist die Kurzfristigkeit der Maßnahmen, die bereits im Januar greifen sollen – konkrete Ziele werden aber erst nach der Verabschiedung der Sparmaßnahmen am 19. Dezember benannt. Wie katastrophal die Situation ist, haben Berlins Kulturschaffende in einem weiteren Protestmarsch zum Ausdruck gebracht. Aber ist es nicht auch an der Zeit, den Protest neu zu denken? In einem ausführlichen Essay, den ich Ihnen sehr ans Herz lege, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, warum die Argumente, dass „Kultur Demokratie stärke und den Haushalt durch Tourismus stärke“ nicht länger greifen. Lernt Deutschlands Kulturpolitik etwa gerade von Joe Chialo, wie leicht man Kultur wegkürzen kann? Und was können wir dagegen tun?
Neueröffnung mit Rollator?
Im BackstageClassical Guten Morgen-Podcast (und im dokumentierten Interview) erklärt Stuttgart-Intendant Viktor Schoner, warum Steuerzahler 1,5 Milliarden Euro in die Sanierung seines Hauses investieren sollen: »In China werden Opernhäuser gebaut, in Skandinavien – und die deutsche Gesellschaft glaubt, dass wir keine Identifikationsorte in den Downtown-Situationen einer bürgerlichen Stadt brauchen? (…) Die Personalchefin von Bosch kommt aus Spanien, und sagt: ‚Schließen Sie alles, aber bitte nicht das Theater! Um Leute nach Stuttgart zu kriegen, brauche ich Orte, die diese Stadt cool und attraktiv machen.’« Über den aktuellen Stand der Planungen sagt Schoner: »Wenn alles gut geht, bauen wir eine Ausweichstätte, in der wir 10 Jahre ‚zwischenlagern‘ können. Nach dem aktuellen Plan würden wir dort 2033 einziehen und dann 2043 neu im jetzigen Haus eröffnen. Ich habe mich auch schon dafür eingesetzt, dass dann genug Rollatoren für uns alle zur Verfügung stehen, damit wir uns die Eröffnung auch ansehen können.« Das ganze Gespräch lesen Sie hier.
Personalien der Woche
Der Dirigent Sakari Oramo wird Artist in Partner des Kölner Gürzenich-Orchesters und will dabei, wie er dem Kölner Stadtkurier sagte, zum »Mitschöpfer des künstlerischen Profils« werden. Davon soll der designierte Generalmusikdirektor Kölns, Andrés Orozco-Estrada,überrascht worden sein. Stilfragen waren noch nie die Sache der Kölner. +++ Ein Projekt Namens »NS-Verfolgung und Musikgeschichte« beleuchtet die Verfolgung von Musikerinnen und Musikern durch das Regime des Nationalsozialismus. Bis 2042 sollen bisher unerschlossene Quellen untersucht und historische Lücken geschlossen werden – darüber berichtet der BR.
Der Tenor René Kollo ist noch immer aktiv, aber im Blatt Meine Freizeit hat er über den Wunsch berichtet, selbstbestimmt sterben zu wollen: »Ich hätte einen sehr guten und netten Doktor, der würde mir etwas geben, und dann sage ich auf Wiedersehen und gehe.« +++ Daniel Barenboim musste erneut wegen Krankheit Auftritte mit der Berliner Staatskapelle absagen – für ihn sprang Philippe Jordan ein. +++ Ein verschollen geglaubter Brief von Mozart ist aufgetaucht, der Komponist bietet darin seine Werke an. Am 5. Dezember wird das einzigartige Dokument mit Seltenheitswert online versteigert. +++ »Stoppt die untertarifliche Bezahlung unserer Orchestermitglieder!«, das fordern die Münchner Symphoniker in einem Offenen Brief vom 28. November 2024 an die Landeshauptstadt München. Anlass für das Schreiben ist die unzureichende Finanzierung des Klangkörpers durch die bayerische Landeshauptstadt. +++ Die Gewerkschaft der Mailänder Scala streikte zum großen Puccini-Jubiläum: Anna Netrebko und Jonas Kaufmann sprangen mit einem Recital ein.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Wir sind in der Adventszeit – und endlich können wir uns etwas Besinnung in dieser verrückten Welt gönnen. Ich lade Sie zur neuen Folge des Podcasts Alles klar, Klassik? ein: Ich spreche darin mit Dirigent Martin Haselböck, der das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach erklärt und verrät, warum ausgerechnet F-Dur die weihnachtliche Tonart ist. Der Dompfarrer des Stephansdoms in Wien, Toni Faber, spricht über die Bedeutung der Musik in den Vorweihnachtstagen und gibt Preis, zu welchen Anlässen er Stille Nacht auch schon vor Heiligabend singt, und der Bariton Benjamin Appl nimmt uns mit auf eine Weltreise der Weihnachtsmusik und spricht über einen charmanten Familien-Spleen: Eine einmalige Krippensammlung! Er hat übrigens gerade ein wunderschönes Weihnachtsalbum herausgebracht.
Die Backstage-Classical Geschenk-Tipps:
Im Laufe der Woche werden wir bei BackstageClassical die besten Geschenk-Tipps einiger unserer Autorinnen und Autoren präsentieren. Heute beginnen wir im Newsletter mit den zwei ersten Kategorien:
Buch oder Gadget für Klassik-Freaks:
- Notenstichplatte von Henle. Eine originale, handgestochene Druckplatte, mit der die Henle-Urtext-Ausgaben einst gedruckt wurden, ist ein Stück Musik(handwerks)geschichte. Ohne Rahmung 39 €, mit Rahmung 59 €. (Shoko Kuroe)
- Wagners „Ring des Nibelungen“ als Graphic Novel. Nerds finden hier viele Wagner-Details, Neulinge haben eine optisch tolle Saga zum Schmökern! Nicht neu aber toll. (Stephan Knies)
- Nora Born: Irma Schoenberg Wolpe Rademacher. Der etwas andere Beitrag zum Schönberg-Jahr, und die atemberaubende Lebensgeschichte einer außerordentlichen Frau. edition text+kritik, 32€ (Monika Mertl)
- Emilie Mayer. Europas größte Komponistin. Die erste fundierte recherchierte Biografie , trotz spärlicher Quellenlage…. Schon vor drei Jahren erschienen, aber ein Muss, für alle echten Fans , die rundum an klassischer Musik interessiert sind, und die vielen Lücken der »patriarchalen« Lesart gerne schließen wollen. Dittrich 22,90€ (Antonia Munding)
- Ethel Smyths Memoiren Paukenschläge aus dem Paradies – eine der schillerndsten Frauen der Musikgeschichte, in ihren eigenen Kommentaren und Beobachtungen. ebersbach&simon 24,00€ (Alexander Gurdon)
- Eliette von Karajan: Mein Leben an seiner Seite. Ullstein, Berlin 2008 (Klemens Renoldner)
Buch oder Gadget für Klassik-Muffel:
- Honig vom Dach des Münchner Gärtnerplatztheaters. Wer mit dem Staatstheater nix zu tun hat, genießt leckeren Honig, wer das Haus liebt, mag die Idee, dass unter den Bienenstöcken ein toller Theaterbetrieb brummt… (Stephan Knies)
- Die Ärzte sind jetzt bei Reclam! 40 epochemachende Songtexte im legendären gelben Heftchendesign. Reclam, 8,00 € (Alexander Gurdon)
- Der Klang der Wälder von Natsu Miyashita (aus dem Japanischen von Sabine Mangold). Ein poetischer Coming-of-Age Roman über einen jungen Klavierstimmer, der nach einem perfekten Klang sucht. Insel, Taschenbuch 11 Euro, Hardcover 20 Euro (Shoko Kuroe)
- Einen Lachsack, oder doch den „Klassik-Knigge“ von Tarik Tesfu abonnieren? Nein, sondern einen ECHTEN Klassiker: Loriot und die Musik. Denn er ist echt der einzige alte, bereits verstorbene weiße Kerl, der unterhaltsam Klassik erklären konnte… und dabei den Kern der Musik traf, ungebrochen witzig und animierend. Warner Home Video DVD-Box mit fünf discs, 35,98€ (Antonia Munding)
- Elisabeth Maier: Anton Bruckner. Blicke auf ein Leben. Der Geheimtipp zum Bruckner-Jahr: Einfühlsam und warmherzig erzählt, zugleich wissenschaftlich auf dem neuesten Stand. Musikwissenschaftlicher Verlag Wien (41,10€) (Monika Mertl)
- Stefan Franzen, Ohren auf Weltreise. Der Freiburger Musikjournalist und Weltmusikkenner präsentiert einen Kalender mit 366 globalen Musikgeschichten. Eine Playlist gibt es dazu. Hannibal Verlag, 25€ (Georg Rudiger)
- Hermann van Veen: Es regnet im Radio.Von Liedern und Erinnerungen. Knaur Verlag. (Klemens Renoldner)
Und was wünschen wir uns zu Weihnachten? Natürlich glückliche und angeregte Leserinnen und Leser – und wenn Sie Lust haben, können Sie unsere Seite natürlich auch unterstützen: mit einer einmaligen oder regelmäßigen Spende! Danke!
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann