Männer, Frauen und die Klassik-Charts

Juni 9, 2024
5 mins read

Willkommen in der neuen Klassik-Woche

heute mit einem Blick auf unsere Rundfunkorchester mit merkwürdigen Klassik-Charts, der Freistellung des SWR Panzer-Tenors und einer wirklich lustigen Cello-Platte, die es gar nicht gibt.  

Unsere lieben Rundfunkorchester

Statistik zu den Übertragungen der Radioorchester (*Aufgenommen wurden Symphoniekonzerte)

In der aktuellen großen Reportage kümmern wir uns bei BackstageClassical um die deutschen Rundfunkorchester. Immer wieder stehen sie zur Debatte – zum letzten Mal durch Markus Söder. Wir haben einmal nachgefragt: Was machen die Ensembles eigentlich für ihr Geld? Warum brauchen wir sie neben unseren 110 anderen Orchestern? Und wie verstehen sie sich selber? Ein Ergebnis ist, dass die Orchester wirklich viel aufnehmen und die Grundbedürfnisse vor Ort bedienen. Sie sind präsent im Radio und suchen auf ganz unterschiedliche Arten Anschluss an eine neue Medienwelt. Aber warum sind einige Orchester kaum im Fernsehen zu hören? Müssen die Orchester anders kommunizieren? Und wie steht es in den einzelnen Sendern mit der Gretchenfrage von Redaktion und Kunst? Antworten gibt es hier.       

Panzer-Tenor und Currentzis‘ Orchester-Sponsoren

Letzte Woche haben wir an dieser Stelle erstmals über die Panzer- und Pro Putin-Posts eines Tenors des SWR Vokalensembles berichtet. Der Sender antwortete BackstageClassical, es handle sich um die Privatmeinung seines Angestellten. Inzwischen wurde der Sänger allerdings vom SWR freigestellt »darüber hinaus prüft der SWR weitere Konsequenzen«, hieß es auf unsere erneute Anfrage, nachdem der Tenor noch einmal Panzer-Bilder, menschenverachtende Posts und ein Auto Mit «S-WR»-Kennzeichen und Russland-Flagge gepostet hatte. Der Verlauf dieser Affäre hat erneut gezeigt, dass die SWR-Führung um die für Klassik verantwortliche Programmchefin Anke Mai entweder naiv, vollkommen überfordert oder einfach nur ängstlich agiert. Interne Hintergrundgespräche mit dem betroffenen Sänger (dessen Bilder dem SWR seit über einen Monat bekannt waren) hätten wahrscheinlich mehr geholfen, als verzweifelte, juristische Aufklärungen gegenüber kritischen Journalisten. 

Screenshot der MusicAeterna Homapage mit den Sponsoren von Teodor Currentzis‘ Ensemble

Und auch, was die Rolle von Chefdirigent Teodor Currentzis betrifft, hat sich der SWR wohl viel zu lange an der Nase herumführen lassen. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hieß es (unter anderem von Orchester-Gesamtleiterin Sabrina Haane), man »erwarte«, dass Currentzis die Sponsoren für sein Ensemble MusicAeterna neu ordne. Passiert ist das Gegenteil, Currentzis ging sogar auf Gazprom-Tour. Gerade gibt der Dirigent seine letzten Konzerte als Chef des SWR (ihm kann also nichts mehr passieren) – auf der russischsprachigen Seite seines russischen Ensembles stehen neben der in Europa sanktionierten VTB-Bank inzwischen auch Firmen wie Gazprom, Rosatom und Metallinvest als Sponsoren. Ob der SWR hier noch Mal nachfragt? Man darf gespannt sein, wie der Sender im nächsten Krisenfall kommuniziert: in Sachen François-Xavier Roth ist die Kommunikations-Strategie derzeit, jetzt erst einmal gar nicht mehr zu kommunizieren.

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Pappano warnt vor Klassik-Kahlschlag

Antonio Pappano verlässt die Royal Opera in London nach 22 Jahren und zieht in der New York Times Bilanz: »Ich bin gerade in einem Land, in dem einige Kunstinstitutionen abgeschafft werden, manche lässt man am ausgestreckten Arm verhungern. All das ist sehr frustrierend. Ich habe immer wieder öffentlich gesagt, dass das inakzeptabel ist und eine Fehlentwicklung, auch aus einer ökonomischen Sicht: hinter unserer Arbeit steht eine große Infrastruktur mit sehr vielen Arbeitsplätzen.« Jungen Dirigentinnen und Dirigenten wünscht Pappano, dass sie die Zeit bekommen, sich das nötige Wissen, (gerade für das komplexe Dirigieren einer Oper) anzueignen.  

Staunen über die Klassik-Charts

Die aktuellen Klassik-Charts im Spiegel

Ich bin diese Woche zufällig über die aktuellen Klassik-Charts gestolpert. Und habe gestaunt! Was sagt uns diese Rangliste? Wenn Karl Böhms Beethoven auf Platz vier liegt –  wie wenige Platten werden da eigentlich verkauft? Und schadet die Retro-Welle den aktuellen Klassik-Stars? Lang Lang und Ludovico Einaudi an der Klassik (!?!)-Verkaufs-Spitze? Immerhin tröstlich: Christina Pluhar auf Platz 3! Weniger Aussagekraft haben nur wenige Charts. 

Was denkt Marie Jacquot?

Die Dirigentin Marie Jacquot bei ihrem Debüt mit der Sächsischen Staatskapelle (Foto: Sächsische Staatskapelle)

Wirklich hörenswert: Im Podcast »Guten Morgen, Marie Jacquot!« spricht die französische Dirigentin darüber, was junge Dirigentinnen und Dirigenten brauchen (mehr Ruhe und Schutzräume, um sich auszuprobieren), über ihre Pläne mit dem WDR (klassisches Repertoire und Experimente mit DJs und Graffiti-Künstlern), über ihren Einspringer bei der Sächsischen Staatskapelle (»wir haben eine ähnliche Grundauffassung gegenüber der Musik«) und über blöde Kommentare zur Rolle der Frau in der Musik: »Viele Menschen wollen einfach in Schubladen denken: Bist Du Frau? Mann? Oder Homosexuell? Aber darum kann es doch nicht gehen. Wir kündigen Christian Thielemann doch auch nicht an mit dem Zusatz, dass da heute ein Mann dirigiert.

Podcastgäste bei BackstageClassical

Personalien der Woche

John Eliot Gardiner war nach dem Ohrfeigen-Eklat ins Sabbatical gegangen – nun kündigt er seine Rückkehr ins Klassik-Geschäft an: er wird am 16. Juli beim Festival de Radio France in Montpellier auftreten, außerdem wurde eine Tournee angekündigt. +++ Währenddessen hat Asien eine Tournee von Les Siècles mit seinem Dirigenten Francois-Xavier Roth abgesagt. Roth wurde beschuldigt, Textnachrichten und »Dickpics« an Orchestermitglieder verschickt zu haben. Nachdem er seine Dirigate beim Gürzenich-Orchester niedergelegt hatte, erklärte nun auch der SWR, dass bei ihm Hinweise eingegangen seien. Man nehme die Situation ernst, werde die Lage aber nicht weiter kommentieren, bis die internen Überprüfungen abgeschlossen sind. +++ 

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Überraschend war auch das Comeback von Daniel Barenboim: er dirigierte im Pierre Boulez Saal das Orchester der Barenboim-Said-Akademie – und wurde bejubelt. +++ Der immersive Wagner-Ring aus Australien soll nun weltweit auf Tour gehen: Die digitale Adaption von Dirigent Philippe Auguin und Regisseur Chen Shi-Zheng im Queensland Performing Arts Centre in Brisbane setzt auf ein neugieriges Publikum auch in Europa. »Wir haben Wagners Meisterwerk ins digitale Zeitalter katapultiert und in ein modernes Fantasieland umgestaltet«, sagt die verantwortliche Digital Content Designerin und Gründerin von flora&faunavisions Leigh Sachwitz. +++ Der 35jährige Dirigent Jonas Rannila, künstlerischer Leiter des Helsinki Philharmonic Choir des finnischen Oratorien-Chores wurde auf Grund von Fehlverhalten entlassen. Nach Berichten von Pizzicato soll er sexuell übergriffig gewesen sein. +++ Der Dirigent Patrick Hahn hat ein liebenswertes Faible: sein Herz schlägt für den österreichischen Liedermacher Georg Kreisler. Es kommt schon Mal vor, dass er Kritikern Kreislers Musikkritiker in einer Konzertpause vorsingt. Nun hat Hahn die Songs auch mit dem Münchner Rundfunkorchester aufgenommen. Hörenswert.   

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann? 

Original und Satire – Moritz_Cello, großer Spaß auf Instagram!

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Folgen Sie bitte Moritz_Cello auf Instagram – der ist nämlich wirklich lustig. Nachdem die Cellistin Raphaela Gromes bei Sony das Album Femmes vorgestellt hat, stellt er seine CD Hommes vor: »Eine CD mit Werken von faszinierenden Männern, Carlo Gesualdo, Richard Wagner und Michael Jackson. Ich habe sie nicht nur auf Grund ihrer großen Musik ausgewählt, sondern weil sie die dunkle Seite des Mannseins repräsentieren: Einer war Mörder, der andere ein Antisemit, der Dritte wurde wegen Pädophilie angeklagt. Hört meine Aufnahme und denkt wie diese bösen Männer ihr Leben mit der Musik in unserer Geschichte verbinden.« So, und wenn Sie Moritz_Cello folgen, können Sie auch gleich BackstageClassical folgen

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif

Ihr

Axel Brüggemann

redaktion@backstageclassical.com   

Wenn Sie Lust haben, die Klassik-Woche als Podcast zu hören: Gemeinsam mit Dorothea Gregor bespreche ich die Themen der Woche (hier für alle Player)

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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