Ist der Dirigent der Berliner Philharmoniker automatisch der beste Dirigent der Welt? Automatisch nicht, findet John Axelrod – aber im Falle Kirill Petrenko doch.
Als die Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko als Nachfolger von Simon Rattle zum neuen Chef ernannt hatten, war das für viele eine Überraschung. Die Musiker sagten damals, dass er einfach »der perfekte Dirigent für uns ist«. Und heute? Ist der Dirigent eines der wichtigsten Orchester der Welt automatisch auch der größte lebende Dirigent der Welt?
So, wie Marcus Aurelius als König der Philosophen gilt, würde ich Kirill Petrenko den Philosophen unter den Dirigenten nennen. Von ihm lässt sich viel über unsere Kunst und unser Handwerk lernen. Allerdings gibt es keine Probenvideos von ihm online. Also wirklich: keine! Und auch Interviews lehnt Petrenko in der Regel ab. Gar nicht erst zu reden von Fotoshootings! Also muss man seine Konzerte besuchen, um zu verstehen, was ihn so anders macht. Und das ist ja eigentlich auch gut.
In einem meiner letzten Texte habe ich erklärt, dass Klaus Mäkelä eine Art Liebling der Medien ist. Auch, weil er einen Dirigententypus vertritt, der mit einer fast improvisierten, weitgehend unbewussten Technik punktet. Der Gegepol dazu ist jemand wie Teodor Currentzis: Er kontrolliert das Orchester fast manisch. Petrenko steht zwischen diesen beiden Extremen als eine Art goldener Mittelweg. Auch charakterlich: menschlich bescheiden, nicht vom Rampenlicht verblendet, dafür vollkommen aufgelöst in seiner Leidenschaft für die Partitur und den Probeprozess.
»Petrenko besinnt sich eher auf eine uralte Musik-Methode: den Mittelweg.«
John Axelrod
Diesen Charakterzügen hat er seinen fast stratosphärischen Aufstieg zu verdanken, von der die Spitze der Komische Oper zur Münchner Staatsoper und dann nach Berlin. Überall hat Petrenko kontinuierlich gearbeitet und überall wurde er geliebt. Hat er dabei etwa eine geheime Quelle des musikalischen Verständnisses angezapft, die anderen Menschen verwehrt beibt? Das Gegenteil scheint der Fall: Petrenko besinnt sich eher auf eine uralte Musik-Methode.
Sein Geheimnis ist der Mittelweg, seit Jahrtausenden der Weg der Erkenntnis. Schon vor fast 2.500 Jahren sprach Buddha in der allerersten Lehre über den »Mittelweg«, und rund 200 Jahre später sprach Aristoteles vom »goldenen Mittelwert«. Petrenko selbst erklärte, dass Aristoteles ihn inspiriert. In der Nikomachäischen Ethik schreibt er: »Der Mittelpunkt ist die größte Tugend von allen.«
Es gibt nur wenige Interviews mit Petrenko, aber jene, die existieren, enthüllen allerhand über seine Kernphilosophie. So erläutert Petrenko in Gesprächen mit dem Solo-Cellisten der Berliner Philharmoniker, Olaf Maninger: »Selbst in Extremen ist es gut, nach der Mitte zu suchen. Ich gebe beim Proben einen emotionalen Impuls und weiß: Das Orchester hat eine brennende Leidenschaft, die in Schach gehalten werden muss, um sie im richtigen Moment herauszulassen.« Petrenko sagt weiter: »Es erfordert die richtige Dosierung, auch in der Verwendung von erklärerischen Bildern. Man muss sich gut vorbereiten, was etwa die Intensität des Klanges betrifft. Das Orchester braucht beides: Emotionalen Schub und einfache, gewöhnliche Anweisungen. Auch hier muss man einen Mittelweg finden.«
Maninger stimmt ihm zu: »Wenn das emotionale Bild zu groß ist, verliert man 60 Prozent der Orchestermusiker, weil die Interpretation zu persönlich wird. Weil einige einen radikalen Weg ablehnen, weil sie ihn vielleicht für lächerlich halten. So verliert man außerdem auch viel Zeit.« Dann lobt er seinen Chefdirigenten: »Petrenko verbindet Proben und das Konzert so, dass es in den Proben darum geht, Vertrauen und Sicherheit aufzubauen. Das gibt uns Freiheit, den Druck bei der Live-Performance nicht zu spüren.«
Für uns Dirigenten ist es ein bekanntes Phänomen, dass einige Orchester in der Probearbeit nicht wirklich fleißig sind. Aber Musik auf höchstem Niveau zu machen, ist wie eine Besteigung des Mount Everest: Man muss hart für eine solche Tour trainieren. Und die Proben sind Teil des Trainings, um am Ende den Gipfel zu erreichen.
Sarah Willis, die Hornistin der Berliner Philharmoniker, gibt weitere Einblicke: »Es ist sehr leicht, Petrenko zu folgen. Er ist sehr höflich, weiß aber genau, was er will, und er kann das in sehr wenigen Worten erklären. Er gehört nicht zu den Dirigenten, die stundenlang reden. Er sagt wirklich sehr prägnant, was er braucht, und er muss nicht zu viel sagen, weil er es zeigen kann. Wir mögen solche Dirigenten. Wenn Sie sich Le Poème de l’extase von Scriabin anschauen, sehen Sie dass Petrenko sich total in der Musik auflöst, dabei aber nicht vergisst, dass er uns zeigen muss, was los ist.«
»Petrenko kanalisiert Energie. Das ist der Petrenko-Weg«.
John Axelrod
Für Petrenko ist es außerdem wichtig, über eine lange Zeit mit demselben Orchester zu arbeiten. »Wenn man die Musiker besser kennt, kann man mit ihnen mehr erreichen«, sagt er in einem Interview mit dem Klarinettisten Alexander Bader. Bei Petrenko stehen stets die Berliner Philharmoniker im Fokus – Dirigent und Musiker bilden eine Einheit. Es scheinen keine Egos im Wege zu stehen. Petrenko schafft es, dass alle auf der Bühne mit einer einheitlichen Stimme sprechen – und das ist einzigartig!
Sein Glaube an den »Mittelweg« ist auch in Petrenkos Körperhaltung abzulesen: Seine ausgestreckten Arme zentrierten sich in der Mitte seiner Brust, am Solarplexus. Und wie es oft bei einem Operndirigenten der Fall ist, sind stets beide Hände sichtbar, stets mit enormer Kraft und Klarheit. Sein Schlag ist absolut pointiert, so, dass das Orchester in Echtzeit reagieren kann. Seine linke Hand nutzt er zuweilen, um wichtige Details hervorzuheben. Und Petrenko weiß stets, wann er sich zurückhalten und wann er mehr geben muss. Er kehrt immer wieder in die Körpermitte zurück. Bei Petrenko bewegen sich Dirigent und Orchester in die gleiche Richtung, um gemeinsam musikalische Ideen zu verwirklichen.
Petrenko ist nicht klein, aber er ist vom Typ her eher kompakt. Sein Gesicht ist völlig in Musik aufgelöst, sein Lächeln spiegelt das, was er hört. Die Vitalität und Energie seiner Bewegungen, Gesten mit Stab oder ohne, sind körperlich gymnastisch in der Geste. Er benutzt seinen ganzen Körper: Kopf, Augen, Mund, Schultern, Arme, Rumpf, Beine und Füße. Nicht in der »Lenny Leap«-Extravaganz, sondern als vollständiges Engagement für das, was er von der Musik erwartet. Petrenko gibt sich in einem Konzert vollständig der Musik hin. All das wirkt eher wie ein kluges Kanalisieren der Musik als dass er die Musik »dirigiert«. Vielleicht verwenden wir überhaupt das falsche Wort für unseren Beruf: sind wir nicht eher »Kanalisierer« als »Dirigeten«? Petrenko kanalisiert Energie. Das ist für mich der Petrenko-Weg.
Albrecht Mayer, Berlins Solo-Oboist, sagt: »Petrenko strahlt unglaubliche Energie aus, wie ein Kung-Fu-Meister.« Daher spielt bei ih wohl auch das Chi eine wesentliche Rolle. Das Chi ist die Lebenskraft oder die Energie, die in allen Dingen steckt. Chi wird wörtlich als »Atem« oder »Luft« übersetzt, wird aber alternativ auch verwendet, um die Energie oder Lebenskraft zu beschreiben – die immaterielle Kraft, die alle Lebewesen durchdringt. Im Kung-Fu beginnt Chi Kung mit den richtigen Atemkontroll- und Atemtechniken und endet mit der Beherrschung der Kontrolle und Kombination von körperlicher Technik, um Atem und Energie zu einem einheitlichen Zweck zu vereinen. Das Dirigieren, wie wir es als Kunst und Handwerk kennen, könnte man ähnlich beschreiben: Wenn Petrenko eine Synergie mit den Musikern schafft, wird die Summe der Energie größer als die Energie aller einzelnen Teile. Darin liegt Petrenkos Geheimnis.
Und warum können andere Dirigenten das nicht auch einfach erreichen? Diese Art zu dirigieren braucht Jahre der Arbeit und Vorbereitung, erfordert langfristiges Engagement und eine Durchdringung von Handwerk und Partitur. Sie bedeutet, andauernd völlig wach zu sein und sich der Kunst immer wieder neu bewusst zu werden. Sie verlangt, das eigene Ego dem größeren, einheitlichen Zweck zu unterwerfen. Das sind Dinge, die viele Dirigenten predigen – aber nur wenige leben sie auch. Petrenko steigt tief hinab in die Welt der Wahrhaftigkeit und nimmt uns dabei mit. Deshalb applaudieren ihm die Menschen. Petrenko schafft in seiner Kunst eine Art »Erweckung«.
John Axelrod hat BackstageClassical diesen Text von seiner Seite zur Verfügung gestellt. Lesen Sie hier auch seine Analyse über Klaus Mäkelä.