Die Kulturlosigkeit ist unser Ende

April 28, 2025
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Der geplante Umbau des Festspielbezirkes könnte sich verzögern (Bild: Land Salzburg)

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

ich habe lange überlegt, woher das derzeitige Unbehagen in unserer Welt kommen könnte – und ich glaube, ich habe es: Es ist die schleichende (oder rasende!) Ausbreitung der allgemeinen Kulturlosigkeit! Kulturlos im Sinne von: Kein Bewusstsein der Traditionen, der eigenen Vergangenheit, der Größe des Seins über die Tellerränder hinaus. Kein Shakespeare-Weltbild, kein Bach-Kosmos, kein Sein im Zentrum des Daseins. Kulturlos wie Donald Trump, der Deals zur Kultur erhebt, kulturlos wie omnipräsente Nachrichtenjunkies, die keine Zeit mehr für Thomas Mann haben, kulturlos wie Friedrich Merz, der erst mit Joe Chialo flirtete und nun offenbar Wolfram Weimer an die Spitze der deutschen Kulturlos-Politik setzen will (mein Kommentar hier). Kulturverlust ist der Verlust an empathischem Miteinander und der Vielfalt als Opfer an den Götzen der Dinglichkeit. Kulturlosigkeit ist eine Verkleinerung unserer Welt auf die langweilige Existenz. Verzeihen Sie diese Moll-Eröffnung – aber das musste Mal raus! Und jetzt geht es auch schon los! 

Wer hat Angst vor jüdischen Programmen?

Haben Klassik-Veranstalter Angst, jüdische Programme zu präsentieren? Das sagt jedenfalls die israelische Sopranistin Chen Reiss im aktuellen BackstageClassical Podcast. »Wir erleben Antisemitismus überall«. Reiss spricht von »unsicheren und instabilen Zeiten, besonders für Juden« und beklagt eine spürbare Vorsicht bei Veranstaltern, Programme mit Musik jüdischen Komponisten anzusetzen. Die Furcht vor Demonstrationen oder Empörung des Publikums werde immer größer. Manche Veranstalter hätten Reiss offen erklärt, dass ihr neues Projekt Jewish Vienna zwar fabelhaft sei, sie aber gebeten, angesichts des politischen Umfelds lieber mit einem anderen Programm aufzutreten. Zum Podcast und seiner Zusammenfassung geht es hier entlang.

Das JoJo-Mobil

»Hören Sie Mal auf mit ihrer Kritik an Joe Chialo« – das wurde ich in den letzten Wochen immer wieder gebeten. Aber, hey: Berlins Kultursenator macht einfach einen schlechten Job. So schlecht, dass nun offensichtlich Cicero-Gründer Wolfram Weimer das Amt von Claudia Roth übernehmen wird (schreibt die Süddeutsche, hier mein Kommentar ). Spricht auch nicht gerade dafür, dass die CDU die Kultur noch ernst nimmt. Ja, wir haben in den letzten Wochen viel über Cialo und seine Amtsführung geschrieben. Gut, dass er im Bund keine Rolle spielen wird. Als Trostpreis durfte er am Wochenende aber offensichtlich als Berlin-Repräsentant zur Beerdigung von Papst Franziskus nach Rom fahren – das hatte die Senatssprecherin bestätigt. Allerdings wohl nicht mit seinem privaten, schwarzen Porsche, denn Chialo hat gerade keinen »Lappen« mehr. Der Tagesspiegel berichtete, dass der Politiker in den letzten fünf Jahren mehrfach die Geschwindigkeit überschritten und während der Fahrt sein Handy benutzt habe. Um seinen Führerschein zurückzubekommen, muss Chialo einen »Idiotentest« machen. Ob er ohne weitere Prüfung im Amt als Berliner Senator bleiben darf?   

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Salzburg-Umbau verzögert?

Es könnte sein, dass sich der Umbau des Salzburger Festspielbezirkes verzögert. Österreichs Vizekanzler und Kulturminister Andreas Babler sagte in einem Interview: Das Wichtigste für ihn sei derzeit die »budgetäre Sicherung«, und möglicherweise ändere sich dadurch der Zeitplan für den Umbau. Grund sei die angespannte Haushaltslage. Die Bundesregierung müsse laut Babler 6,4 Milliarden Euro im ersten und 8,7 Milliarden im zweiten Jahr einsparen. Ob Markus Hinterhäuser dann noch im Amt ist? Kritisch äußerte sich Babler auch zur Situation des Radio-Symphonieorchester Wien (RSO). Zwar sei es bis 2026 finanziert, doch bleibe dessen Zukunft ungewiss. 

Paris sucht Bedeutung für seine Oper

Die Pariser Oper steht unter Leitung des deutschen Intendanten Alexander Neef vor großen Herausforderungen: Nur noch rund 40 Prozent des Budgets stammen aus staatlichen Mitteln, der Rest muss durch Ticketverkäufe, Fundraising und Sponsoring gedeckt werden. Kurzfristige Kürzungen – etwa sechs Millionen Euro weniger Subventionen im Jahr 2024 – erschweren die Planung. »Das kann ich einmal auffangen, aber wenn das jedes Jahr passiert, wird es eng«, warnt Neef nun in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Eine nachhaltige Lösung sieht er im Aufbau eines Stiftungsvermögens, das langfristig finanzielle Stabilität sichern soll. Außerdem kämpft Neef gegen gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber der Oper und kämpft um ein neues, jüngeres Publikum.

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Ist denn alles schlecht?

Auch aus dem CD-Markt hört man immer wieder Krisenmeldungen. Unbestätigt ist bislang das Geflüster unter Künstlerinnen und Künstlern, dass ein großes Label überlegt, in Zukunft weitgehend aus der Klassik-Produktion auszusteigen. Wohin man hört: Unsicherheit. Letzte Woche hatten wir darüber berichtet, dass der scheidende BRSO—Manager Nikolaus Pont die Süddeutsche Zeitung kritisiert, da sie angeblich plane, ihre Rezensionen herunterzufahren. Ich habe mich ausführlich in einem Podcast mit Pont unterhalten: Pont betont, dass der Trend einer Schwächung der Kulturkritik nicht nur ein lokales Problem Münchens sei, sondern gesamtgesellschaftlich beobachtet werden könne (hier das ganze Gespräch und die Zusammenfassung). Beobachten wir derzeit den Untergang des Abendlandes? Oder nur ein weiteres Zeichen, dass unsere Klassik-Welt sich gerade neu aufstellt und andere, spannende Orte sucht (diese Position vertrete ich in einer aktuellen Deutschlandfunk-Sendung zum Thema).  

Ein etwas anderer Blick auf die GEMA-Debatte

Lehnen prominente Klassik-Komponistinnen und -Komponisten die geplante GEMA-Reform ab, um selber keine Privilegien zu verlieren? Die Cellistin und Verlegerin Susanne Wohlleber argumentiert: »Die TOP 100 Urheber*innen in der heutigen E-Wertung erhalten im Durchschnitt je 50.000 Euro ‚kulturelle Förderung‘ pro Jahr zusätzlich. Das ist das Sechsfache des Verteilungsaufkommens – also ihrer durchschnittlichen Tantiemen, die sie durch die Nutzungen ihrer hoch eingestuften Werke pro Jahr ohnedies schon verdienen. Die »kulturelle Förderung« wirkt für sie wie eine exklusive Grundsicherung.« Wohlleber sagt: »Die selbsternannte Avantgarde fürchtet um ihr Luxusquartier im Elfenbeinturm.« Hier ihre ganze Kritik an der Kritik der Reform.

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Personalien der Woche

Boah, ey! So richtig im Griff hat Florian Lutz sein Theater in Kassel irgendwie nicht. Immer wieder haben wir über Personalprobleme berichtet. Nun gibt es ein weiteres Kapitel: Schauspieldirektorin Patricia Nickel-Dönicke ist mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben entbunden worden. Die fristlose Kündigung wurde am Mittwoch bekannt gegeben – einen Tag vor der Vorstellung des neuen Spielplans. Gründe für die Trennung nannte das Theater mit Verweis auf personalrechtliche Gründe nicht. Nickel-Dönickes Anwalt Marcus Baum kündigte derweil rechtliche Schritte an. Er sieht die Gründe für die Trennung in einem Zerwürfnis mit Intendant Lutz. +++ Der international gefeierte japanische Dirigent Kazuki Yamada übernimmt zur Saison 2026/2027 die Position des Chefdirigenten und Künstlerischen Leiters des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (DSO). Er tritt die Nachfolge von Robin Ticciati an, der das Orchester von 2017 bis 2024 leitete. Yamada wird das Ensemble, das zur Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH (ROC) gehört, zunächst für drei Jahre führen. +++ Albert Lortzing wurde von der Leipziger Musik-Elite ignoriert, aber von den Leipzigern gefeiert. Nun zeigt das Lortzing-Festival ein Programm mit Opern, A Capella-Musik und Symposien seine wahre Bedeutung.   

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Ich habe es eben schon angerissen: Ich glaube nicht an den Untergang der Klassik! Mag sein, dass alte Formen sterben, aber sowohl wir Journalistinnen und Journalisten als auch die Veranstalterinnen und Veranstalter suchen längst neue, spannende Spielfelder – so wie das Bergson in München oder die Konzerthäuser in Skandinavien. Hier wird die Klassik-Kultur längst anders und gleichsam lustvoll und mit viel guter Laune neu gedacht. BackstageClassical ist ebenfalls ein Versuch, nicht zu lamentieren, sondern Kultur und Kulturjournalismus leidenschaftlich neu zu denken und ihre lustvolle Tiefe zu feiern.

Kommende Woche wird BackstageClassical ein Jahr alt werden. Und was für ein Jahr war das! Ich habe in dieser Zeit vor allen Dingen Zuversicht gelernt. Gelernt, dass Sie, unsere Leserinnen und Leser, aber auch unsere Anzeigenkundinnen und -kunden, um den Wert unserer Arbeit wissen und uns ebenso leidenschaftlich unterstützen wie wir recherchieren und schreiben! Pünktlich zum Jubiläum wurde ich zu einer Diskussion beim Deutschlandfunk eingeladen – es ging um die Zukunft des Kulturjournalismus. Gemeinsam mit Johannes Franzen (von 54books) und Brigitte Baetz von @mediasres habe ich darüber debattiert, ob wir lieber trauern oder uns am Neuen freuen sollen. Ich habe mir vorgenommen, mich zu freuen. Auch darüber, dass wir für die Geburtstagswoche eine Überraschung geplant haben, die wir Ihnen und uns selber am kommenden Freitag (und dann regelmäßig) schenken werden. Und ja, an solchen Tagen kann man das vielleicht auch Mal schreiben: Wenn Sie uns etwas schenken wollen,  schenken Sie uns doch einfach eine kleine Spende, mit der wir wieder neue Texten auf unserer Seite finanzieren werden – weil wir an eine Welt glauben, in der Kultur unsere Horizonte erweitert! 

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif.

Ihr

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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