Musik in Zeiten des Krieges

Mai 20, 2024
5 mins read
Der Pianist Kirill Gerstein (Foto: Borggrefe)

Der Pianist Kirill Gerstein führt in diesem Text durch sein neues Album, das Musik von Komitas, dem Begründer der armenischen nationalen Musikschule, neben die von Claude Debussy stellt. Der eine verarbeitet den Völkermord der Türken an den Armeniern, der andere das Trauma des Ersten Weltkriegs. Hier führt er selber anhand von Hörbeispielen durch seine Aufnahme.

Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass die Komponistenpaarung von Claude Debussy und Komitas, dem Pionier der Ethnomusikologie einen besonderen Bezug zur heutigen Zeit hat. Beide Komponisten waren von der Zerstörung ihrer Welten betroffen – Komitas durch den Völkermord an den Armeniern, Debussy durch den Ersten Weltkrieg in Europa. Die Wege der beiden Komponisten kreuzten sich bereits 1906 in Paris, und die Überschneidung ihrer Welten hat mich schon lange fasziniert. Der Kampf um die allgemeine Anerkennung des Völkermords an den Armeniern dauert bis heute, 109 Jahre nach der Tat, an.

Während ich diesen Text schreibe, sind wir wieder von Konflikten und Völkermord umgeben: ob Russlands Krieg gegen die Ukraine, die ethnische Säuberung der Armenier von Arzach (Berg-Karabach) aus ihrer historischen Heimat, die Massaker in Israel am 7. Oktober oder die anschließende Zerstörung des Gazastreifens und der damit einhergehende tragische Verlust von Menschenleben unter der Bevölkerung.

Erstes Buch der 12 Études

1915 komponierte Claude Debussy 12 Études, die zu meiner pianistischen Hauptbeschäftigung während der Pandemie wurden. 20 Jahre zuvor hatte ich die Armenischen Tänze von Komitas kennengelernt. Und die Verbindung lag auf der Hand. Die Tänze wurden 1916 in ihrer endgültigen Form veröffentlicht und sind die letzten Stücke von Komitas. Er komponierte sie kurz vor seinem endgültigen Nervenzusammenbruch, der durch die erschütternde Erfahrung des armenischen Völkermords verursacht wurde. Komitas verbrachte den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Klinik in Paris.

Armenischer Tanz

Aus dieser anfänglichen Paarung entwickelte sich allmählich die Idee für ein Album, das die Musik in Zeiten des Krieges in den Vordergrund stellt. Mit den Études eng verbunden sind En blanc et noir für zwei Klaviere. Beide Werke haben eine gemeinsame musikalische DNA. Während die Études eine eher abstrakte Flucht in die lebendige Welt seiner musikalischen Phantasie darstellen, ist das nicht minder farbenfrohe En blanc et noir seine offenste Antikriegserklärung. Ich hatte das Privileg, diese Stücke mehrmals in Konzerten mit Thomas Adès aufzuführen, der sie mit dem unverwechselbaren Blick eines Komponisten interpretiert.

En blanc et noir

Die weitere Erforschung der späten Klaviermusik Debussys führte mich dann zu den verschiedenen kurzen Stücken, die er während des Ersten Weltkriegs komponierte, von denen einige direkt zu Wohltätigkeitsinitiativen beitrugen oder eine Reaktion auf die Tragödie des Krieges waren. 

Die Élégie ist datiert vom 15. Dezember 1915, eine Woche nachdem Debussy sich einer Krebsoperation unterzogen hatte. Er erholte sich nie von der Operation, und man dachte, die Élégie sei sein letztes Klavierstück. 

Élégie

Doch 2001 tauchte Les Soirs illuminés par l’ardeur du charbon (Von glühenden Kohlen erleuchtete Abende) bei einer Auktion auf.  Debussy hatte das in den ersten Monaten des Jahres 1917 komponierte Stück seinem Kohlenhändler geschenkt, der den Komponisten in jenem Kriegswinter mit Heizmaterial versorgte. Dank Eric Van Lauwe konnte ich das kalligrafische Manuskript in diesem Buch reproduzieren.

Les Soirs illuminés par l’ardeur du charbon

Durch seine ethnomusikologische Arbeit bewahrte Komitas eine große Schicht der armenischen Kultur; und durch seine Kompositionen können wir das musikalische Erbe des Volkes hören, das von den osmanischen Tätern des armenischen Völkermords brutal vernichtet wurde. 

Komitas‘ Lied Antuni (Obdachlos) ist eine Ikone für die Armenier und ein Stück, das Debussy bewundert haben soll. Ein Zusammentreffen ihrer Musik fand im Jahr 1916 statt: Antuni erklang unmittelbar nach der Uraufführung von Debussys letztem Lied Noël des enfants qui n’ont plus de maisons (Weihnachtslied für obdachlose Kinder) während eines Benefizkonzerts für die Opfer des armenischen Völkermords. Zerstörte Häuser und das Gefühl der Obdachlosigkeit sind beiden Texten gemeinsam. Auf dieser Aufnahme ist Antuni zu hören, dem eine Gruppe anderer Komitas-Lieder vorausgeht, gefolgt von Debussys Lied für die Kriegswaisen.

Antuni
Noël des enfants qui n’ont plus de maisons

In Konzerten zu Gunsten der Kriegshilfe führte Debussy häufig seine frühen Chansons de Bilitis auf, die wir daher ebenfalls aufnehmen wollten. Ruzan Mantashyan, die in Frankreich gelebt hat, schien die ideale Partnerin zu sein, um sowohl die armenischen als auch die französischen Lieder zu singen. Als ich sie bat, an diesem Projekt teilzunehmen, wusste ich nicht, dass der Cousin ihres Urgroßvaters, Alexander Mantashyan, der Wohltäter war, der Komitas einen Konzertflügel kaufte und sein Studium in Berlin finanzierte. 

Chansons de Bilitis

Debussys einzige Musik, die 1914, dem Jahr des Kriegsausbruchs, vollendet wurde, ist die Suite der 6 Épigraphes antiques für Klavier zu vier Händen. Sie hat eine Verbindung zu den Chansons de Bilitis, da die Poesie von Debussys Freund Pierre Louÿs die Inspiration für beide Werke war. Klavierduette zu spielen erfordert ein Höchstmaß an Sensibilität und Vertrauen, und hier hatte ich das Glück, sie mit Katia Skanavi zu erleben, deren Musikalität ich schon lange bewundere.

Épigraphes antiques

Ich hatte das Gefühl, dass sowohl Debussys als auch Komitas‘ Musik einen großen akustischen Raum benötigt, um das Gefühl von Einsamkeit und Fantasie, das in diesen Werken zum Ausdruck kommt, am besten zu vermitteln. Als Nebeneffekt der Pandemie stand der große Saal des Wiener Konzerthauses zur Verfügung; ich bin der Leitung des Hauses dankbar für die Erlaubnis, die Solo- und vierhändigen Werke dort aufzunehmen. Ich bin auch der Academy of Arts and Letters in New York zu Dank verpflichtet, die sich bereit erklärte, ein laufendes Renovierungsprojekt für zwei Tage zu unterbrechen, um Thomas Adès und mir die Aufnahme von En blanc et noir in ihrem legendären Saal zu ermöglichen. Die Siemens-Villa in Berlin, das auch als Aufnahmeraum bekannt ist, hat uns für die Song-Sessions beherbergt.

Wir sehen in solchen Zeiten das Schlimmste und das Beste der Menschheit. Dieses Projekt versucht, einen Einblick in die kreative Welt von Debussy, Komitas und anderen Künstlern und Persönlichkeiten zu geben, deren Reaktionen auf katastrophale historische Ereignisse auch heute noch leicht nachvollziehbar sind. Ihr Ausdruck in der Kunst ist etwas, das wir nur bewundern können. 

Ich wünsche uns allen Frieden,
Kirill Gerstein

Auf dem Album zu hören sind neben Gerstein die armenische Sopranistin Ruzan Mantashyan, der Pianist Thomas Adès und die Pianistin Katia Skanavi, die zusammen eine Auswahl von Werken für Gesang und Klavier, Klavier zu vier Händen sowie für zwei Klaviere spielen. Das Projekt erscheint als Doppel-Album mit einem dreisprachig verfassten Buch. Hier bestellen bei JPC

Kirill Gerstein

Von Bach bis Adès - das Spiel des Pianisten Kirill Gerstein zeichnet sich durch eine hervorragende Technik und eine ausgeprägte Intelligenz aus, gepaart mit einer energischen, phantasievollen musikalischen Präsenz, die ihn an die Spitze der internationalen Fachwelt bringt. Solo- und Konzertengagements führen ihn von Europa in die Vereinigten Staaten, nach Ostasien und Australien. Der in der ehemaligen Sowjetunion geborene Gerstein ist amerikanischer Staatsbürger und lebt in Berlin. Sein Erbe verbindet die Traditionen des russischen, amerikanischen und mitteleuropäischen Musikschaffens mit einer unstillbaren Neugier. Diese Eigenschaften und die Beziehungen, die er zu Orchestern, Dirigenten, Instrumentalisten, Sängern und Komponisten aufgebaut hat, haben ihn dazu veranlasst, ein breites Spektrum an neuem und altem Repertoire zu erkunden.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Trist, lahm und Isolde

Premiere bei den Bayreuther Festspielen: Bei Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson begeht Tristan Suizid auf einem Kultur-Schrottplatz. Semyon Bychkow tut sich schwer mit der Festspiel-Akustik.  

»Ich muss der Welt abhanden kommen«

Bayreuths Brünnhilde Catherine Foster über den Mythos der Bayreuther Festspiele, die exzessive Vorbereitung für ihre Stimme auf ihre Rollen und den Sinn des Regietheaters. 

Buhs für SWR Orchester-Leiterin Haane

Der SWR steht in der Kritik: Das Abo-Publikum, Orchester-Fans, ein Großteil der Presse und offensichtlich auch einige Partner kritisieren das Festhalten an François-Xavier Roth.

Lieber Markus Hinterhäuser,

Die Salzburger Festspiele beginnen, und Axel Brüggemann hat eine etwas längere Postkarte an den Intendanten Markus Hinterhäuser geschrieben – aus Gründen.