Er begleitete Dietrich Fischer-Dieskau und Anneliese Rothenberger, war Pianist, Puppenmeister und Lebenskünstler. Ein biographischer Nachruf auf Norman Shetler von Monika Mertl.
Die Musikwelt erinnert sich an Norman Shetler als kongenialen Partner großer Sängerpersönlichkeiten, allen voran Peter Schreier, der über ihn meinte: »Shetler ist ein poesievoller Begleiter, der – obgleich er aus einem anderen Kulturkreis kommt – eine erstaunlich starke Einfühlung in das deutsche Lied beweist. Ich habe beispielsweise schon als Kind in meiner Heimat Mühlen gesehen und gehört. Shetler nicht – er ist da auf seine Intuition angewiesen.«
Geboren und aufgewachsen im Mittleren Westen der USA, genau gesagt in Dubuque im Bundesstaat Iowa, kam Norman Shetler im Herbst 1955, gerade 24-jährig, mit einem Stipendium an die Wiener Musikakademie. Er war technisch sehr gut ausgebildet, wusste aber, dass er erst zum Musiker wachsen musste – und es war ihm klar, dass das am besten an jenem Ort geschehen könne, an dem Schubert, Mozart und Beethoven gelebt und gewirkt hatten.
Wiener Nachkriegsjahre
Shetler kam, um zu bleiben, bezog zwei Zimmer bei der Witwe Aloisia Pekarek in der Rembrandtstraße, die ihn mit offenen Armen aufnahm und wie einen Sohn umsorgte, was ihm mitunter durchaus lästig war. Er rannte durch die graue, noch von den Spuren des Krieges gezeichnete Stadt, allein auf sein Studium bei Grete Hinterhofer konzentriert, das er planmäßig innerhalb von vier Jahren absolvierte.
Norman Shetler war zeitlebens zielstrebig . Was er anfing, führte er professionell und ernsthaft durch. Schließlich hatte er bereits 1951 eine existenzielle Grenzerfahrung gemacht, nach der sich vermutlich jugendlicher Leichtsinn und Tändeleien aller Art von selbst erübrigten. Während seines Dienstes in der US-Army hatte er bei einem Atombombenversuch, den man mit den jungen Soldaten ganz ohne Schutzvorkehrungen durchführte, lebensbedrohliche Verletzungen davongetragen. Nachdem er sich davon vollständig erholt hatte, war er für die weiteren Abenteuer seines Lebens gerüstet.
Rasch wurde man in Wien auf den schmalen Pianisten mit dem wilden Haarschopf und der ernsten Miene aufmerksam. Bereits 1957 debütierte Norman Shetler mit einem Soloabend im Brahmssaal des Wiener Musikvereins. 1958 wurde er zum erstmals stattfindenden Tschaikowsky-Wettbewerb nach Moskau eingeladen; mit dem Gewinner Van Cliburn verband ihn fortan eine innige Freundschaft. 1959 gab Shetler ein viel beachtetes Debüt in der Carnegie Hall, mit einem so anspruchsvollen wie originellen Programm, das ihm eine hymnische Kritik in der New York Times einbrachte. 1962 präsentierte er sich bei einem Recital im Metropolitan Museum of Art mit Beethovens opus 111 und der 3. Sonate von Karol Szymanowski, die er mit Schubert-Walzern, Haydns Sonate Nr. 50 und zwei Legenden von Franz Liszt umrahmte. »Was für ein außerordentlich begabter Interpret«, resümierte Raymond Ericson in der New York Times, und dabei bezog er sich nicht allein auf die außergewöhnliche, sehr persönliche Programmierung und die makellose technische Ausführung, sondern auch auf die Fähigkeit, den individuellen Charakter jedes Werks präzise zu vermitteln und auf die zurückhaltende, unaufgeregte Art von Shetlers Spiel, das Charme und Leichtigkeit vermittelte.
Der Pianist
Als Pianist war Norman Shetler dank seines technischen Niveaus, seiner hohen Musikalität und seines absolut zuverlässigen Gehörs vielfältig einsetzbar und wurde immer wieder für ungewöhnliche Projekte angefragt. So entstand etwa 1964 im Mozart Saal des Konzerthauses eine Aufnahme von Alban Bergs Kammerkonzert für Klavier und Geige unter der Leitung von Hermann Scherchen.
In der Wiener Musikerszene hatte Norman Shetler dank seines freundlichen, kommunikativen Wesens rasch Anschluss gefunden. Er war lernbegierig, profitierte vom Austausch mit hochgebildeten Spezialisten wie René Clemencic ebenso wie vom freundschaftlich-musikalischen Umgang mit Mitgliedern der Wiener Traditionsorchester und natürlich mit den Wiener Pianisten seiner Generation: Paul Badura-Skoda oder Jörg Demus. Vor allem letzterer wurde zu einem wichtigen Lehrer und Sparringpartner; die beiden spielten häufig vierhändig und gingen auch gemeinsam ins Plattenstudio, wo sie etwa auf Mozarts Walter-Flügel musizierten und Beethovens Große Fuge aufnahmen.
Begleiter der Großen
Durch die Freundschaft mit dem drei Jahre älteren Kollegen mit seinem profunden Hintergrund an europäischer Bildung und Lebensart erhielt der impulsive Amerikaner gewissermaßen seinen persönlichen Feinschliff. Demus wurde zu seinem Mentor, der ihn viele Jahre hindurch förderte und unterstützte. Dass er den Kontakt zu Dietrich Fischer-Dieskau herstellte, war der Auftakt zu Shetlers internationaler Karriere als Liedpianist. Fischer-Dieskau empfahl ihn seinerseits an Peter Schreier, verbrämt mit der Bemerkung: »Wenn Schumann, dann Shetler«. So etablierte sich eine der bedeutendsten Liedpartnerschaften des 20. Jahrhunderts, die eine Fülle von Aufnahmen hervorbrachte. Vieles davon ist absolut bemerkenswert, gerade im Vergleich mit dem, was sich aktuell in der Liedinterpretation ereignet. So enthält etwa die umfangreiche Schumann-Edition von 1974, die im Vorjahr bei Berlin Classics neu aufgelegt wurde, neben den bekannten großen Zyklen aus dem Liederjahr auch vieles aus dem unpopulären Spätwerk, das eben jetzt wiederentdeckt wird.
Auch zahlreiche andere Größen der Liedkunst suchten und schätzten die Zusammenarbeit mit Shetler, etwa die legendäre Elly Ameling, aber auch Brigitte Fassbaender, Anneliese Rothenberger, Margaret Price, Thomas Quasthoff und Siegfried Lorenz. Unter den bedeutenden Instrumentalsolisten, mit denen Norman Shetler konzertierte, waren Nathan Milstein, Gidon Kremer, Heinrich Schiff und das Juilliard Quartett.
Als Partner am Klavier war Norman Shetler ein Romantiker reinen Herzens. Seine Interpretation ist gekennzeichnet von einer unprätentiösen Natürlichkeit der Empfindung und einer beispielhaften Genauigkeit im Erforschen der tieferen Bedeutung jeder noch so kleinen Note. Lebensklugheit spricht aus seinem Spiel, eine intuitive Menschenkenntnis und Empathie. Jegliche Sentimentalität lag ihm fern. Der gute Geschmack und der Respekt vor dem Komponisten waren ihm selbstverständlich. Als Vorbild nannte er Wilhelm Kempff, bei dem er 1957 einen Meisterkurs in Positano absolviert hatte. Als Lehrer war er unerbittlich, wenn es um richtige Atmung und sinnstiftende Phrasierung ging; falsche Gefühligkeit oder willkürliche interpretatorische Freiheitenließ er nicht durchgehen. Als Professor in Würzburg (1983– 1991) und ab 1992 an der Wiener Musikhochschule hat Norman Shetler sein Wissen im institutionellen Rahmen weitergegeben.
Temperamentausbrüche
Sein Unterricht war ohne heftige Temperamentausbrüche nicht zu haben. Vielleicht konnten nicht alle Studenten sofort begreifen, dass sein Furor der Anwaltschaft für das jeweilige Werk geschuldet und nicht als Kritik an der Person aufzufassen war. Aber die meisten haben ihn wohl ins Herz geschlossen, einige wurden zu engen Freunden. In den zahlreichen Meisterkursen, die er nicht nur am Salzburger Mozarteum, sondern auch in den USA und in mehreren Ländern Asiens und Europas abhielt, verkehrte er mit allen Teilnehmern auf Augenhöhe und pflegte auch außerhalb des Unterrichts ganz zwanglos geselligen Umgang, mitunter sogar im Kreis seiner Familie samt Hund. Und niemals hat er Studenten persönlich gedemütigt, wie es prominente Kollegen häufig taten. Er hatte als Kind selbst unter den sadistischen Methoden einer russischen Klavierlehrerin gelitten. Gewalt war ihmvon daher zutiefst verhasst. Er schätzte sich glücklich, von seinen Eltern niemals geschlagen worden zu sein, und konnte es nicht fassen, dass dergleichen in Europa lange Zeit üblich war und zum Teil bis heute als geeignetes Erziehungsmittel angesehen wird.
Bei einem seiner Konzerte in den 1960-er Jahren in New York traf Norman Shetler eine junge Frau aus New Mexico wieder, die er bereits in den 1950er Jahren kennen gelernt hatte. Sie war die Schwester seines besten Freundes James Epperson, mit dem ihn die Leidenszeit in der Army zusammengeschweißt hatte. Lois war nicht nur eine Erscheinung von ganz außergewöhnlicher Schönheit, sondern auch eine außergewöhnliche Persönlichkeit, unkompliziert, fröhlich, optimistisch. Das war die Frau fürs Leben, die mit ihm durch dick und dünn gehen würde, dessen war er sich sicher.
Sie war zu diesem Zeitpunkt anderweitig gebunden, und sie war bereits Mutter, aber schließlich wurde sie doch seine Gefährtin. 1970 konnte er sie auf abenteuerliche Weise nach Wien holen, im Juni 1972 wurde geheiratet; die kleine Kathy bekam einen liebevollen zweiten Daddy, den sie heiß verehrte, und zwei Jahre später auch einen kleinen Bruder, Norman. Das spektakuläre Hochzeitsfest inszenierte der Bräutigam gemeinsam mit Musiker-Kollegen auf der Strudelhofstiege, von der die Braut im atemberaubenden Minikleid herabschwebte. So berichtet die Legende.
Der Puppenspieler
Jedenfalls wurde das Paar in jenem Teil des 9. Wiener Gemeindebezirks heimisch, der eine Hauptrolle im berühmtesten Roman des Heimito von Doderer spielt – nur durch einen Straßenzug getrennt von Schuberts Welt im sogenannten Lichtental mit seinen atmosphärischen Originalschauplätzen. Und in jenem Gründerzeithaus auf dem ehemaligen Althanplatz, das untrennbar mit Doderers Protagonistin Mary K. verbunden ist, bezog man eine kleine Atelierwohnung, die im Lauf der Zeit um angrenzende Wohnungen erweitert und mit einem Sammelsurium von alten Möbeln, Teppichen und Fundstücken aller Art zu einem phantastischenPrivatuniversum ausgestaltet wurde. Dass sich dieses Refugium überdies unter den Schwingen eines monumentalen steinernen Doppeladlers befand, der an der Außenfassade prangt, war eine spezielle Pointe.
Bereits in den 1960-er Jahren hatte Norman Shetler seine Fühler auch in eine andere Kunstsparte ausgestreckt. Ich weiß nicht, ob er Kleists berühmten Aufsatz Über das Marionettentheater kannte, aber er war fasziniert vom Puppenspiel. Schon als 13jähriger hatte er daheim in Iowa Puppen selbst gebaut und mit ihnen improvisiert. Er war ein Einzelkind und hatte es im Umgang mit seinen Schulkameraden nicht leicht – ein exzentrisch anmutender Brillenträger, der immerzu nur Klavier spielen wollte, statt Fußball, Basketball und Volleyball wie alle anderen.
Wiederum war es Jörg Demus, der den Anstoß gab. Er war nämlich der musikalische Partner des Puppenspielers Arminio Rothstein in dessen Wiener Fadentheater; Debussys Kinderballett La boîte à Joujoux im Mozart Saal war eine von Presse und Publikum viel beachtete Produktion. Irgendwann übernahm Shetler den Part des Pianisten, und im Mai 1965 fand im Palais Auersperg ein Klavierabend mit Puppenspiel statt, der im ersten Teil ein Soloprogramm mit Mozart, Schubert und Debussy und im zweiten Teil das Puppentheater präsentierte.
Rothstein, Demus und Shetler gingen gemeinsam auf Tournee, die sie bis nach Belgien und Holland sowie nach Rom, Messina und Palermo führte. Und am 1. April 1968 präsentierte Norman Shetler erstmals sein eigenes Musikalisches Puppencabaret, mit dem er bis in die 1990-er Jahre Erfolge feierte. Mit viel angelsächsischem Humor und großem handwerklichen Geschick kreierte er Figuren von unverwechselbarem Profil. Etwa den zerzausten Flederwisch Nelly Ei, eine Wiedergängerin der lockenmähnigen Pianistin Elli Ney, die er mit ihrer Verstrickung in den Nationalsozialismus aufs Korn nahm, und Madame Chimpanova, die Karikatur einer Primadonna, unbegabt und geltungssüchtig; er erfand seine persönliche Version der Königin der Nacht, verlieh Hunden, Katzen und Fröschen drolliges Eigenleben und gewann als verschmitzter Conférencier die Herzen derZuschauer. Dass dieses Programm Kinder wie Erwachsene gleichermaßen zu begeistern vermochte, war ein sicheresIndiz für höchstes künstlerisches Niveau. Und mit dieser Kunst war Norman Shetler eine zweite internationale Karriere beschieden.
Die Feuersbrunst
Ein musikhistorisch bedeutendes Projekt gelang ihm schließlich mit der Ausgrabung von Joseph Haydns vermutlich für das Marionettentheater in Schloss Esterháza komponierten Oper Die Feuersbrunst. Es war die konzertierte Aktion einer Handvoll ausgewiesener Spezialisten: H.C. Robbins Landon erstellte eine taugliche Werkfassung, der stilkundige Bernhard Klebel stand am Dirigentenpult, und unter der Gesamtregie von Gerhard Tötschinger traten die großen, ausdrucksvollen Puppenvon Anna Maria Kovacic in Aktion, geführt von Norman Shetler und einem kleinen, handverlesenen Team in schwarzen Masken nach Art des japanischen Bunraku.
Die Feuersbrunst erlebte ihre bejubelte Wiederentdeckung bei den Haydn-Festspielen 1977 in Eisenstadt, mit Sängern wie Georg Tichy und Frederick Urrey; unter den Puppenspielern befand sich einer von Shetlers Lieblingsstudenten namens Markus Hinterhäuser. Die Produktion wurde 1978 wiederaufgenommen und anschließend auch in Dresden gezeigt.
Zum Sensationserfolg wurde Die Feuersbrunst im Haydn-Jahr 1982 bei den Wiener Festwochen im Theater an der Wien, mit den Vokalsolisten Paul Wolfrum, Elisabeth Kales, Christopher Doig und Jaroslav Stajnc. Für das Puppenspiel hatte Norman Shetler hier den Pantomimen Rolf Scharre, die ehrwürdige Tanzkünstlerin Cilli Wang (aus der Schule von Gertrud Bodenwieser) und den jungen Komponisten Konrad Rennert gewonnen. Die Kritik überbot sich in Lobeshymnen, die Produktion wurde anschließend beim Brucknerfest in Linz gezeigt und reiste 1983 nach Neapel und nach Rom. Irgendwo unterwegs blieben die Dekorationen im Regen stehen und nahmen irreparablen Schaden. Das bedeutete das jähe Ende einer Erfolgsgeschichte, die sonst wohl noch lange hätte weitergehen können.
Mit Rolf Scharre und Cilli Wang hat Shetler auch weiterhin zusammengearbeitet, etwa bei seiner Version von Strawinskis Geschichte vom Soldaten, die 1983 bei den Kasseler Musiktagen aus der Taufe gehoben wurde.
Der Regisseur
Die Begabung, die allen künstlerischen Tätigkeiten von Norman Shetler zugrunde lag, war die des genuinen Theatermenschen, der weiß, wie er eine Geschichte erzählen muss. Mit diesem Talent hätte er wohl auch als Opernregisseur reüssiert; mit dem Projekt Feuersbrunst, für dessen Gesamtkonzeption er verantwortlich zeichnete, war er der Regie ja bereits nahegekommen. Die szenische Phantasie, über die er verfügte, macht sein Klavierspiel, ob mit oder ohne Text, so überaus beredet. Seine Interpretation von Schuberts Schiller-Balladen (mit Siegfried Lorenz) demonstriert seinen Bühneninstinkt auf exemplarische Weise. Und bei komisch-absurden Raritäten wie Richard Strauss‘ Krämerspiegel (mit Peter Schreier) und Franz Salmhofers Heiterem Herbarium nach Karl-Heinrich Waggerl (mit Eberhard Büchner) war er vollends in seinem Element.
Bemerkenswert scheint mir, wie er sich die für ein heutiges Sprachverständnis teilweise schwer zugänglichen Gedichte vergessener Dichter der Romantik zu eigen machen konnte, die sich etwa bei Schumann finden. Offenbar hat sich ihre tiefere Bedeutung für ihn aus der Kombination mit der Vertonung erschlossen; die musikalischen Subtexte zaubert er in feinsten Nuancen hervor.
In diesem Sinn war Shetler ein Geistesverwandter des Klangredners Nikolaus Harnoncourt, den er sehr verehrte. Einmal, so erzählte er mir, habe man ihn gemeinsam mit Harnoncourt zu einem Podiumsgespräch eingeladen – er habe während der ganzen Veranstaltung nur dessen Ausführungen zugehört, ohne selbst ein Wort zu sagen.
Norman Shetler beherrschte die deutsche Sprache so gut wie seine Muttersprache, er war mit den Eigenheiten des Sprachgebrauchs in Deutschland ebenso vertraut wie mit jenem in Österreich und war bis zu einem gewissen Grad sogar sattelfest, was den Wiener Dialekt betrifft. Aber dass er, wie viele Musiker, das Deutsche nie systematisch erlernt hatte, und dass er sich nicht intensiver mit Literatur beschäftigt hatte, bedauerte er immer wieder. An den Gebrauch der Anrede »Sie« mochte er sich übrigens zeitlebens nicht gewöhnen.
Irgendwann wurden die Shetlers natürlich auch österreichische Staatsbürger, aber sie blieben Amerikaner, die mit ihrer ungewöhnlichen Erscheinung im bürgerlich-biederen Wohnviertel wie Paradiesvögel wirkten, dabei stets umgänglich und zu einem gutnachbarlichen Schwatz bereit. Die Atelierwohnung mit der vorgelagerten, von Topfpflanzen aller Art dschungelartig begrünten verglasten Pawlatschen bildete eine Art Freistaat. Hier regierten Norman und Lois nach ihren Regeln, die da hießen: Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Gemeinschaft der Gleichgesinnten im Namen der Musik, im Namen der Kunst – ganz ohne heiligen Ernst.
Hauskonzerte
Es sei nicht verschwiegen, dass Norman Shetler ein bekennender Hedonist war, der Schönes nicht nur bewundern, sondern besitzen wollte; Mode gehörte selbstverständlich dazu, und es ist möglich, dass er zu den besten Kunden des japanischen Designers Issey Miyake zählte.
Fast bis zuletzt war die Wohnung der Shetlers von Leben erfüllt. Es gab Hauskonzerte mit Künstlerfreundinnen und -freunden wie Julius Berger und Johannes Fleischmann, mit dem Troubadour Bryan Benner und seinen Erlkings und mit dem Duo Helmut & Maria Stippich. Fast bis zuletzt baten treue Privatschüler um Lektionen; sie wussten, dass man tradiertes Wissen, etwa die Schubert-Interpretation betreffend, nur noch bei Shetler in Erfahrung bringen konnte. Und er war auch in Japan, wo er so viel und so gern gastiert und unterrichtet hatte, keineswegsvergessen; noch im Frühjahr 2023 stellte er sich für eine Video-Lecture zur Verfügung.
Seine Begeisterungsfähigkeit und sein Interesse am Nachwuchs haben ihn auch in der kurzen, von gesundheitlichen Problemen belasteten letzte Lebensphase nicht verlassen. Mit Leidenschaft verfolgte er Klavierwettbewerbe, kommentierte kritisch jeden neu aufstrebenden Stern am Pianistenhimmel, ging ins Konzert, um seine geliebte Kollegin Lilya Zilberstein zu hören, oder in den Jazzclub, wo einer seiner jungen Schützlinge auftrat. Oder er setzte sich zu später Stunde ins Gartenbaukino, weil sein Sohn, der dort seit einiger Zeit die Geschäfte führt, eine Jacques Tati-Retrospektive zeigte.
Seinen letzten Soloauftritt absolvierte Norman Shetler im Juli 2022 in der Schubertkirche. Am 25. Juni 2024, wenige Tage nach seinem 93. Geburtstag, ist er in seinem geliebten Zuhause gestorben. In seiner reichen, unermüdlichen Tätigkeit hat er im Musikleben unendlich viel ausgesät. Und diese Saat ist längst aufgegangen.