Es ist geplant, im Bayreuther Wohnhaus von Richard Wagners Schwiegersohn Houston Steward Chamberlain ein Dokumentationszentrum zur NS-Ideologiegeschichte zu errichten – das lehnte der Stadtrat nun ab. Der Direktor des Hauses Wahnfried, Sven Friedrich, ruft zu einem Umdenken auf.
Houston Steward Chamberlain war mit seinem Hauptwerk und Beststeller Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts und darin dem Entwurf einer biologistisch-antisemitischen Kulturgeschichte als Kampf der »Germanen« gegen das Judentum nicht nur einer der einflussreichsten kulturgeschichtlichen Autoren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und Wegbereiter der NS-Ideologie insgesamt, sondern als Zentralfigur des sogenannten »Bayreuther Kreises« nach Wagners Tod der intellektuelle Hauptgewährsmann für die Transformation von Wagners Ästhetik in ein kulturtheoretisches und -politisches Programm und damit der ideologischen Inanspruchnahme Wagners durch die völkische und später nationalsozialistische Bewegung, wodurch nicht zuletzt der Wagner-Kult Adolf Hitlers seine kulturhistorische Legitimation, ja Nobilitierung zu erfahren schien.
Gleichwohl – oder gerade deswegen – ist Chamberlain und damit seine hohe ideologiegeschichtliche Bedeutung durch die nachkriegszeitliche Geschichtsentsorgung zur tabula rasa geworden, obgleich nicht nur die Geschichte der Bayreuther Festspiele, sondern auch die deutsche Kulturgeschichte der ersten Hälfte das 20. Jahrhunderts insgesamt ohne die immensen Wirkungen Chamberlains überhaupt nicht umfassend verstanden werden kann. Aber auch gegenwärtig gibt es ja bekanntlich wieder Tendenzen, aus heutiger Sicht zweifellos problematische geschichtliche Erscheinungen und Zusammenhänge und damit historisches Bewusstsein überhaupt im Wege einer vordergründigen »cancel culture« zu suspendieren und damit fundamentalistischer politischer Eindimensionalität die Deutungshoheit einzuräumen.
»Bei aller Vielfalt an Institutionen zur Geschichtsaufarbeitung des 20. Jahrhunderts gibt es einen solchen Ort zum ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen Kunst, Kultur und Politik bislang in Deutschland nicht.«
Sven Friedrich, Direktor im Haus Wahnfried
Aus diesem Grund entstand die Idee, in seinem ehemaligen Wohnhaus ein Dokumentationszentrum einzurichten, in welchem über die Figur Chamberlain und seine vollständig erhaltene, kulturell beträchtliche Bibliothek nicht nur ein wesentlicher ideologischer Fundus des Nationalsozialismus vermittelt werden soll, sondern auch die Transformation der metapolitischen Ästhetik Richard Wagners in politische Ideologie und Programmatik. Bei aller Vielfalt an Institutionen zur Geschichtsaufarbeitung des 20. Jahrhunderts gibt es einen solchen Ort zum ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen Kunst, Kultur und Politik bislang in Deutschland nicht.
Das Chamberlain-Haus selber ist zudem denkmalgeschützt und in hohem Maße sanierungsbedürftig. Die Gesamtkosten für das Projekt sind mit rd. 23 Mio. Euro veranschlagt. Die Finanzierung ist jedoch zu fast 90% über Drittmittel gesichert. So hat der Bund bereits 2022 eine Förderung in Höhe von 11,5 Mio. Euro in Aussicht gestellt. Die Städtebauförderung hat das Vorhaben ebenfalls als förderfähig erachtet und könnte 60 Prozent der förderfähigen Kosten übernehmen. Auch die Oberfrankenstiftung würde das Dokumentationszentrum mit 4,6 Millionen Euro unterstützen. Voraussetzung sei jedoch eine dauerhafte wissenschaftliche Stelle, über die das Projekt begleitet werde. Für die denkmalgerechte Sanierung des Chamberlain-Hauses ist schließlich noch ein Antrag bei der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern vorgesehen.
Trotzdem hat der Kulturausschuss des Bayreuther Stadtrats das Vorhaben bei seiner Sitzung am 22. April mit Stimmengleichheit (!) abgelehnt. Eine Begründung bezieht sich auf die Betriebskosten. Diese ist jedoch nicht stichhaltig, da der laufende Betrieb durch das Richard Wagner Museum bestritten werden könnte. Die weiterhin geäußerte Befürchtung der Etablierung eines Verehrungsortes für Chamberlain ist dagegen hanebüchen, denn nach dieser Logik wäre beispielsweise das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg ebenfalls als Verehrungsort für die NS-Propaganda einzuschätzen. Hinzu kommt, dass die Kosten für die fällige Sanierung des Gebäudes ohne die vorgesehene Nutzung und die damit verbundene Bezuschussung auch der Baukosten vollständig der Stadt Bayreuth zur Last fallen würden.
Die vorläufig letzte Chance, dieses kulturhistorisch wichtige Projekt zu retten, wäre die Korrektur der Gutachterempfehlung des Kulturausschusses durch den Gesamtstadtrat bei seiner nächsten Sitzung.