Thielemann: »Bei Strauss hebt sich meine Laune. Immer.«

September 24, 2024
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In der Villa von Richard Strauss in Garmisch mit den beiden Enkeln Richard und Christian (Foto: C.H. Beck Verlag)

Der Dirigent Christian Thielemann hat ein Buch über Richard Strauss vorgelegt. Bei BackstageClassical lesen Sie das Kapitel über seine persönlichen Beziehungen zum Komponisten.

Gerade ist das neue Buch »Richard Strauss – ein Zeitgenosse« (C.H. Beck) erschienen, das Christian Thielemann unter Mitwirkung der Journalistin Christine Lemke-Matwey geschrieben hat. BackstageClassical darf die Einleitung drucken, in der Thielemann über seine ganz persönlichen Begegnungen mit dem Komponisten berichtet.

Richard Strauss – ein Zeitgenosse

Richard Strauss hätte ich wirklich gerne getroffen.

Was sagt man nicht so: Einmal dem großen Bach begegnen!

Einmal mit Beethoven in Wien im Griechenbeisl sitzen! Mendelssohn fragen, wie man sich ein so sonniges Gemüt bewahrt, Wagner über die Magie des Bayreuther Festspielhauses schwadronieren hören! Alles richtig, und die Liste ließe sich fortsetzen.

Bei Strauss verhält es sich anders. Er starb 1949, ich wurde zehn Jahre später, 1959, geboren – er ragt also fast noch in meine eigene Lebenszeit hinein. Und das macht einen Unterschied. Ich studiere Strauss in seinen Partituren, immer und immer wieder (wie Bach, Beethoven, Mendelssohn, Wagner und viele andere auch), ich be- wundere seine Handschriften, lese seine Briefe – aber ich begegne ihm eben auch auf Schallplattenaufnahmen, auf Fotografien und in Filmdokumenten. Richard Strauss ist ein Künstler des modernen Medienzeitalters. Auch das bringt ihn mir nah, vor allem, wenn ich ihn dirigieren sehe. 1944, zur Feier seines 80. Geburtstags, leitet er in Wien die «Alpensinfonie»: die linke Hand in der sprichwörtlichen Westentasche, die rechte schlägt mit kleinen, kleinsten Bewegungen den Takt, die Augen flitzen hin und her. Obwohl er als Dirigent faktisch nichts macht, sitzen die Wiener Philharmoniker auf der Stuhlkante – und das bei einem monströs besetzten Werk wie der «Alpensinfonie»! Ganz ähnlich fünf Jahre später, bei einer «Rosenkavalier»-Probe im Münchner Prinzregententheater. Der Schluss des zweiten Aktes steht auf dem Plan, Strauss sitzt im Graben, schlägt mit der Rechten den Takt und stützt die Linke die meiste Zeit auf seinem linken Knie ab. Und die Musik? Klingt walzerselig, ja regelrecht schlawinerisch. Ganz wie es sich für einen Landadeligen wie den Baron Ochs auf Lerchenau gehört, mit dem der zweite Akt endet. Wenige Monate später war Strauss dann tot.

Der junge Richard Strauss

Mir ist kein Foto bekannt, auf dem er nicht nett wirkt, freundlich, obwohl er ein durchaus komplizierter Charakter gewesen sein muss und sehr stur sein konnte, wenn es um seine Kunst ging. Dunkle Locken, Schnauzbart, tadellose Kleidung: Als junger Mann muss er von rechtem Schrot und Korn gewesen sein. Und dirigierte übrigens noch ganz anders. Hektisch und ausladend, so steht es in zeitgenössischen Kritiken. Er möge sich seine «Schlangenbewegungen» doch abgewöhnen, mahnt ihn der Vater in Meiningen, sie könnten zum Lachen reizen. Mit der Zeit beherzigte Strauss das. Er besaß nun einmal ein positives Grundnaturell.

Wie klingt Strauss? Herrlich!

Auch seine Stimme ist interessant, angenehm und erstaunlich hell. Das Bayrisch, das er spricht, fühlt sich in meinen preußischen Ohren kultiviert an, ist mehr Farbe als Dialekt.

Wie klingt Strauss? Herrlich! Unverwechselbar! Der Strauss- Klang hat mich seit meiner frühesten Jugend fasziniert. Das Glitzernde, Schillernde, leicht Schwebende darin. Bei Strauss entdecke ich mich selbst. Strauss ist für mich der gutbürgerliche Revoluzzer, das normale Genie. Alles Schöne bei ihm ist subversiv, alles Subversive schön. Und am Ende wird Harmonie hergestellt, er kennt keine offenen, atonalen Schlüsse. Irrungen, Wirrungen, biblische Katastrophen wie in «Salome» oder, ganz anders, im «Rosenkavalier» oder, nochmal anders, in der «Frau ohne Schatten» – doch dann herrscht wieder Ordnung, so oder so. Als Komponist des 19. und 20. Jahrhunderts verkörpert Richard Strauss einen Begriff der Moderne, dem ich mich gerne anvertraue.

Auch die Lebenshaltung, die dahintersteht, teile ich. Eine Haltung, die gewisse bürgerliche Werte schätzt. Als Dirigent denke ich manchmal: Ich kann mir Beethoven, Wagner und Schönberg mit all ihren Abgründen leisten, weil ich Strauss habe. Wir alle leisten uns Beethovens 32 Klaviersonaten und Wagner in Bayreuth und Schönbergs «Moses und Aron», weil wir wissen, dass wir hinterher zum Essen gehen und den Zwiebelrostbraten wählen können. Kunst ist nicht nur dann etwas wert, wenn sie dem Leiden entspringt, der Qual, dem Daran-Zugrundegehen. Der moderne Künstler darf, ja soll ein gutes Leben haben, der moderne Künstler ist auch ein Mensch. Das zeigt uns Richard Strauss. Der im Übrigen recht gut aufs Geld geachtet hat, was man ihm gerne vorwirft. Warum eigentlich? Muss denn jeder Künstler dem Klischee entsprechen, dass er nicht mit Geld umgehen kann? Spricht eine gewisse Geschäftstüchtigkeit gegen die künstlerische Qualität?

Christian Thielemann über Capriccio

Ich hätte Strauss gerne getroffen, wie gesagt – und ich hätte gerne mit ihm Skat gespielt. Ich müsste das vorher ein bisschen üben, aber im Prinzip kann ich das. Ich stelle mir vor, Strauss hätte nach der «Arabella»-Probe in Dresden gesagt, lass uns noch ein Bier trinken, drüben im «Bellevue». Der technische Direktor kommt dazu, und wir klopfen zwei Stunden lang Skat, herrlich! Es gibt diesen legendären Ausspruch von Strauss, er spiele gerne Karten, weil er dann endlich einmal nicht arbeite und keine Musik höre. Er hatte immerzu Musik im Kopf, das muss auch eine Last gewesen sein. Aber darüber hätten wir nach der «Arabella»-Probe nicht gesprochen. Wir hätten Skat gespielt.

Meine Reisen nach Garmisch

Für mein Musikerleben sind zwei Komponisten eminent wichtig: Richard Wagner und Richard Strauss. Die Bezüge zwischen ihnen sind vielfältig und werden in diesem Buch immer wieder eine Rolle spielen. Ich möchte es so formulieren: Wagner wird für mich immer der Einzige bleiben, Strauss ist der Besondere. Wag- ner errichtet für seine Werke ein Festspielhaus, Strauss baut seiner Familie in Garmisch eine Villa. Die Wagner-Dynastie drängt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, die Straussens halten sich zurück. Sie haben das Understatement ihres Großvaters und Urgroßvaters geerbt. Das ist mir sehr sympathisch.

In meiner Zeit als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker bin ich öfter gleich nach dem Sonntagskonzert losgefahren und war kurz nach zwei Uhr in Garmisch in der Zoeppritzstraße 42, wo die dampfenden Schüsseln schon auf dem Tisch standen. Da saßen wir und aßen, wo einst Richard Strauss gesessen und gegessen hat, und die Anni war auch dabei. Die Anni kam 1940 in die Familie und blieb bis zum Tod des Komponisten die gute Seele des Hauses. 1945 emigrierte Strauss mit seiner Frau Pauline und seinem Sohn Franz, genannt «Bubi», für zwei Jahre in die Schweiz. 1947 kehrten sie zurück. Bis dahin hat die Anni das Haus gehütet, damit es kei- nen Schaden nahm und nicht geplündert wurde.

Der alte Richard Strauss

Ich habe mich in der Villa immer unglaublich wohl gefühlt. Im Salon stehen Schränke mit Glastüren, an der Innenseite kleine Gardinen, da liegt die gesamte Wäsche drin. Tischdecken, Servietten, auch Bettwäsche, alles säuberlich gefaltet, alles Originalbestand und beste Vorkriegsqualität. In einer Vitrine kann man den berühmten Verdi-Brief bewundern (Verdi an den jungen Strauss, nachdem dieser ihm ein Exemplar seines «Guntram» geschickt hatte: «aus dem, was ich da und dort Ihrer Partitur entnehmen konnte, habe ich gesehen, dass Ihr ‹Guntram› eine von sehr kundiger Hand ausgeführte Arbeit ist»), Taktstöcke liegen aufgereiht, die Strauss geschenkt bekommen hat, und andere Memorabilia. Und auf dem Schreibtisch sieht man den speckigen Abdruck seiner Hand in der Lederauflage. Da saß er täglich und komponierte, vormittags bis zwölf Uhr, nachmittags meist von drei bis sechs. Der Tischkalender zeigt das Datum seines Todes, den 8. September 1949. Auch das Bett, in dem er gestorben ist, habe ich gesehen, ein einfaches Messinggestell. Nach seinem Tod wurde das Sterbezimmer als private Gedenkstätte eingerichtet. Das alles ist so ohne Weih- rauch, so schön diskret.

Der moderne Künstler als Mensch

In der Villa befindet sich auch das Archiv, da liegt Richard Strauss’ gesamte Korrespondenz (fast 700 Briefe). Alles, was er geschrieben hat und was nicht Noten sind, ist dort versammelt. Die Partituren dagegen werden im Banksafe in Garmisch aufbewahrt, die allermeisten jedenfalls. Bei einem meiner Besuche hatte Susann Strauss, die Frau seines jüngeren Enkels Christian, eine Überraschung. «Wollen Sie mal sehen?», fragte sie und streckte mir eine Supermarkt-Plastiktüte entgegen. Darin waren vier schmale Bände, die Autographen der «Vier letzten Lieder»! Die hatte sie aus dem Safe geholt. Geht in die Bank, kommt mit einer Plastiktüte wieder raus und steigt ins Auto. Einfach so! Das hat mich sehr ge- freut und geehrt. Von den Liedern existiert noch eine zweite Abschrift, ebenfalls von Strauss’ eigener Hand, die hat er dem Besitzer des Palace-Hotels in Montreux überreicht, dafür, dass er dort nach dem Krieg zwei Jahre lang wohnen durfte. Strauss’ Notenschrift wird im Alter übrigens immer reduzierter, immer graziler. Beethoven hatte eine fürchterliche Klaue, wie man weiß, Wagner eine sehr blumige Art zu schreiben – Strauss mutet so nüchtern an, von nüchterner Eleganz. Viel mehr als Punkte und Achtelhäkchen sind bei ihm nicht zu erkennen. Mehr braucht er offenbar nicht, um zu sagen, was er zu sagen hat.

Betrieb herrscht in der Strauss-Villa kaum, sie ist ja kein Museum, sondern bis heute hauptsächlich ein Privathaus. Georg Solti war meines Wissens dort und auch Karajan. Ob sich viele Musikerinnen und Musiker heute noch von dem Ort inspirieren lassen? Dass ein Komponist einem so leibhaftig vor Augen steht wie er, mit seinem gelebten Leben, mit all diesen Zeugnissen, den Nachkommen, ist für mich höchst anregend. Wie gesagt: Der moderne Künstler darf auch ein Mensch sein. Richard Strauss kann und will seine Herkunft nicht leugnen, das reicht bis in seine Oper «Intermezzo» hinein, in der er sich in Gestalt des Hofkapellmeisters Storch selbst vertont. Bei der Dresdner Uraufführung bildete ein Nachbau seines Garmischer Esszimmers das Bühnenbild des ersten Aktes. So ging 1924 realistisches Musiktheater.

Letztlich bin ich Dirigent geworden, weil ich Orgel spielen wollte (und nicht durfte). Mehr Farben als die Orgel, dachte ich mir damals, hat nur das Orchester. Und die allermeisten Farben scheint Strauss zu besitzen. Bei Strauss habe ich auch andere Stoffe kennen- gelernt als bei Wagner. «Salome»? Schwierige Person, aber eine irre Partitur! «Elektra»? Überwältigend! «Frau ohne Schatten»? Überwältigend! Irgendwann habe ich begriffen, wie variabel seine Stücke sind, wie kontrastreich sein ganzes Œuvre ist.

Ariadne als Korepititor

An viele meiner Strauss’schen Ersterlebnisse und -begegnungen kann ich mich gut erinnern. Etwa an diese hier:

Wir hatten in Berlin oft Schülerkarten für die Deutsche Oper, und da gab es einmal «Die Frau ohne Schatten» mit Heinrich Hollreiser am Pult. Hollreiser war nicht sonderlich beliebt beim Berliner Publikum – und feierte mit der «Frau ohne Schatten» plötzlich einen Wahnsinnserfolg. Da habe ich zum ersten Mal erlebt, dass ein Dirigent zum dritten Akt herauskam, das Orchester auf- stehen ließ und die Leute Bravo schrien. Als er sich wieder hin- setzte, schrien die Leute immer noch Bravo, also hat er das Orchester noch einmal aufstehen lassen. Es sangen damals Birgit Nilsson, Leonie Rysanek und Dietrich Fischer-Dieskau. Das hat mich total gefangen genommen. Zuhause habe ich mir den Inhalt der Oper durchgelesen und habe kein Wort verstanden. Das hat mich verstört. Mit der Musik war doch alles klar – warum verstand ich ohne sie jetzt gar nichts mehr? Eine nicht untypische Strauss-Erfahrung, wie ich später lernen sollte.

Als ich Korrepetitor an der Deutschen Oper war, habe ich viele Strauss-Opern betreut. «Ariadne» zum Beispiel, die hatte ich schon als Schüler lustig gefunden, und da habe ich das Libretto auch verstanden. In der Inszenierung wurden dauernd Wände hin- und hergeschoben, und in der Mitte war ein Diwan, auf dem die Ariadne lag. Das gefiel mir. Auch später, als ich «Ariadne» selber diri- giert habe, fand ich es immer einen kurzweiligen schönen Abend.

Mein erster eigener Strauss wurde mir 1983 oder 1984 in Vene- dig anvertraut, am Teatro La Fenice. Zwei Tondichtungen, «Tod und Verklärung» und «Till Eulenspiegel» (mit dem ich mich lange Zeit schwergetan habe). Schnell folgten «Heldenleben» und «Zarathustra». Erst die Tondichtungen, dann die Opern, das mag nahe- liegen und wird meistens so gehandhabt. Die Tondichtungen sind kurz, und im Konzert wird man als junger Dirigent leichter engagiert als in der Oper. Was ich damals nicht wusste, ist, wie Strauss einen durch die Tondichtungen verführt. Bis zur «Alpensinfonie» stehen sie ganz in der Wagner-Nachfolge. Es sind Präsentierstücke der Orchestervirtuosität, groß besetzt, voller glanzvoller Effekte. Doch was zählt dieses Wissen, diese Erfahrung, wenn es darum geht, eine klein besetzte, zarte Oper wie «Arabella» zu dirigieren? Und was macht die «Arabella»-Erfahrung wiederum mit den Tondichtungen? Bis ich diese Bezüge herstellen konnte, hats gedauert. Da war ich anfangs sehr blauäugig. Heute weiß ich: Richard Strauss will ganzheitlich betrachtet werden.

Meine »innere Strauss-Umkehr«

Als Jugendlicher hat mir keineswegs der ganze Strauss behagt. «Tod und Verklärung» fand ich wunderbar – «Till Eulenspiegel» hingegen war mir zu abstrus. «Don Juan», klar, das geht einem nicht mehr aus dem Sinn und dauert auch nur zwölf Minuten. Und den «Zarathustra» bewunderte ich natürlich wegen des Beginns. Ich war aber lange furchtbar enttäuscht, dass das Stück mit der Zeit so abebbt. Das wird immer weniger, immer dünner. Fängt in C-Dur an, endet in H-Dur mit diesen Bläserakkorden und mit einem Pizzicato. Warum kommt nach dem Beginn nichts mehr? Natürlich kannte ich Kubricks «Odyssee 2001», der Film fängt ja mit der «Zarathustra»-Musik an. Da könnte man fast denken, Strauss sei der Erfinder der Filmmusik gewesen und habe die «Zarathustra»- Eröffnung im Auftrag von MGM geschrieben. Dieser Obelisk in der Wüste, dazu dieses Motiv – Wahnsinn.

Apropos «Arabella»: Die habe ich zum allerersten Mal an der New Yorker Met dirigiert, 1994, nur habe ich niemandem erzählt, dass es mein erstes Mal war. «Arabella»-Debüt – und gleich an der Met! Ich kannte die Partitur aus meiner Zeit als Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin extrem gut und dachte, ich bereite mich sorgfältig vor, dann kann ich mir das zutrauen. Es lief in der Tat recht ordentlich.

Als Erster Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein habe ich in den späten 1980er Jahren in Düsseldorf auch meinen ersten «Rosenkavalier» dirigiert. Später, in Hamburg, waren Kiri Te Kanawa meine Marschallin und Lucia Popp meine Sophie, und an der Deutschen Oper Berlin mochte ich Götz Friedrichs Inszenierung sehr. Musikalisch fanden es die Leute zwar immer gut, aber ich war nicht zufrieden, ja ich war meistens kreuzunglücklich. Meine Tempi waren zu langsam und zu sentimental – bis ich kapierte, dass sich das Gefühl, das Sentiment, das die Partitur beherrscht, nur dann einstellt, wenn ich unsentimental dirigiere. Das ist die Strauss’sche contradictio in adiecto. Meine innere Strauss-Umkehr ereignete sich in Nürnberg, wo ich ab 1988 Generalmusikdirektor war. Da habe ich mich beim «Rosenkavalier» viel besser gefühlt. Am schönsten aber war es mit den Münchner Philharmonikern in Baden-Baden, 2009, mit Renée Fleming, Sophie Koch und Diana Damrau.

Podcast mit Christian Thielemann über das Dirigieren und seine Karriere

Auch «Salome» hat mich früh begleitet. Bei diesem Stück saß ich während meiner Berliner Korrepetitorenzeit oft im Graben und habe Celesta gespielt. Heinrich Hollreiser oder Marek Janowski dirigierten, immer ohne Probe. Das Orchester hatte das Stück «drauf», wie man sagt. Als ich 1981 als Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung nach Gelsenkirchen ging, ans Musiktheater im Revier, erlebte ich dann, wie der damalige Generalmusikdirektor Uwe Mund die Partitur auseinandernahm. Ich saß in einer Probe und verstand die Welt nicht mehr. Plötzlich war die «Salome» in Gelsenkirchen besser gearbeitet als in Berlin! Man hörte viel mehr Details, und vor allem: Man verstand die Sängerin! Da ist mir zum ersten Mal aufgegangen, was für einen fein gewirkten Klangteppich Strauss vor uns ausbreitet, auch in der «Salome».

Ein spätes Werk wie die «Metamorphosen» habe ich zum ersten Mal als Schüler mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern gehört. Schon während des Konzerts überlegte ich mir, wie diese altsilbern schimmernden Klänge auf dem Klavier liegen könnten. Zuhause habe ich mich hingesetzt, um sie nachzuspielen und mich an der Chromatik zu erfreuen. Dass Richard Strauss 1945 auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit chromatischen Rückungen für 23 Solostreicher reagierte, darüber habe ich damals nicht nachgedacht.

Was ich nicht dirigiert habe

Was ich von Strauss bis heute nicht dirigiert habe? Tondichtungen wie «Aus Italien» und «Don Quixote», seine frühen Opern («Guntram», «Feuersnot»), aber auch «Die Liebe der Danae», «Intermezzo» (bis auf die Zwischenspiele) und «Die schweigsame Frau». Manches hat sich nicht ergeben, manchmal gab und gibt es Gründe. Aber dass für mich noch ein Rest bleibt bei ihm, finde ich auch schön.

Strauss zu dirigieren fühlt sich an wie der Landeanflug auf eine Mega-City: Man sieht nur Stadt, überall sind Lichter, alles glitzert. Man nähert sich Los Angeles und denkt, das kann doch nicht wahr sein, ist das immer noch L. A., hört dieser Riesenteppich denn nie wieder auf? Und was machen die Menschen bloß alle da unten? Strauss ist meines Wissens nur einmal in seinem Leben geflogen, 1947 von Zürich nach London, seine Amerikatourneen absolvierte er per Schiff. Aber er wusste, wie schön es sein kann, wenn ein großes Orchester leise spielt. Das ist der Traum, den er seine Interpreten träumen lässt.

Bei Strauss hebt sich meine Laune. Immer. Und das gehört für mich mit zu seinem Faszinosum. Manchmal, wenns mir nicht gut geht, wenn ich niedergeschlagen bin und nicht recht weiß, warum, höre ich mir ein Stück aus «Daphne» an oder aus der «Ägyptischen Helena» – und dann freue ich mich und sage mir: Mensch, hat der das schön instrumentiert! Und schon gehts mir wieder besser.

Christian Thielemann: Richard Strauss, ein Zeitgenosse

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Christian Thielemann

Christian Thielemann ist einer der großen Wagner- und Strauss-Dirigenten der Gegenwart. Von 1997 bis 2004 war er Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin, von 2004 bis 2011 leitete er die Münchner Philharmoniker. Seit 2012 ist er Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Mit den Wiener und den Berliner Philharmonikern verbindet ihn seit langem eine regelmäßige Zusammenarbeit. Im Herbst 2024 wird er als Nachfolger von Daniel Barenboim Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden.

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