Größer, spektakulärer und erfolgreicher als in den USA der 1870er Jahre war die Klassik selten: Ein Buch erzählt von Johann Strauss‘ verrückter Amerika-Reise. Ein musikalisches Abenteuer.
Im Jahr 1872 ist Boston Schauplatz eines spektakulären Musikfestivals, des World’s Peace Jubilee. Eine Pop-up-Halle für 100.000 Zuhörer und Konzerte mit 2.000 Musikern, so lauten die Eckdaten dieses Events, für das die Weltstars der Musik in die USA geholt werden. Einer von ihnen: Walzerkönig Johann Strauss. Im Juni 1872 schifft sich der Impresario und talentierte Selbstvermarkter mit Künstlerinnen und Künstlern aus ganz Europa nach Boston ein.
Mitreißend erzählt nehmen uns Bernhard Ecker und Peter Hosek in dem neuen Buch »Johann Strauss’ amerikanische Reise« (Molden) mit auf eine Abenteuerreise ins Herz einer flirrenden Epoche. In eine Zeit des Umbruchs, an deren Ende die Geschichte der Musik neu geschrieben werden muss. Und sich Johann Strauss neu erfunden hat. BackstageClassical bringt einen exklusiven Abdruck des Kapitels, in dem es um das große Konzert in Boston geht.
Das Coliseum ist eine Klasse für sich. Es ist 168 Meter lang und 107 Meter breit, die Wände sind über zwölf Meter hoch. Ins Holz, verarbeitet sind 1.200 Festmeter, wurden Nägel und Bolzen mit einem Gesamtgewicht von mehr als 20 Tonnen geschlagen. 8.000 Gaslampen sorgen für Beleuchtung. Die Holzdecke ist himmelblau bemalt, die Seitenwände in pompejanischem Rot. Mit der Planung wurde erst im Februar 1872 begonnen, die Errichtung im Eisenbahn-Brachland Back Bay wird insgesamt 250.000 Dollar verschlingen, 30.000 Dollar Schaden durch den Sturm Ende April miteingerechnet. Das ist in der Endabrechnung des Festivals mehr als ein Drittel der Gesamtkosten.
Doch auch wenn »nur« 60.000 Menschen – die Musizierenden inbegriffen – in diese bis dato größte Konzerthalle der Welt passen: Nach den Maßstäben der Zeit ist das noch immer unermesslich viel. Es ist das dreißigfache Fassungsvermögen des Goldenen Saals im 1870 eröffneten Musikverein in Wien, und mehr als das Zehnfache der ein Jahr später eröffneten Royal Albert Hall in London.
350 Polizisten für den Walzer
Im Inneren des Gebäudes sind ein Pressezentrum für die mehr als 200 akkreditierten Journalisten sowie eine Polizeistation eingerichtet, die auch als Fundbüro dient. 350 Polizisten sind für die Dauer des Festivals zum Dienst im und rund um das Coliseum eingeteilt. Denn draußen herrscht eine Grundstimmung aus Kirtag und Zirkus, die den Leichtsinn befördert. Der Zufahrtsweg ist gesäumt von Pop-up-Shops und -Saloons: Es gibt Puppentheater, Fandango-Tänzer, eine Attraktion namens »Flugmaschine«. Überall wehen Fahnen. Ein Heißluftballonbetreiber namens »Professor Allen« bietet seine Fahrten an, assistiert von einem »erfahrenen Aeronauten«. Geschäftemacher wittern ihre Chance: Ein Opernglas-Händler hat einen Stand aufgebaut.
16 Kanonen stehen bereit, die über einen Telegraphen aus dem Inneren der Halle das Signal zum Abschuss bekommen sollen. Nicht weniger als 500 Kirchenglocken in der Stadt warten auf das – elektrische – Signal zum Simultanläuten. Diese Lärmverstärker werden beim Ambosschor, bei »The Star-Spangled Banner« – damals noch nicht die US-Nationalhymne – und bei »Glory, glory hallelujah!« eingesetzt.
Das Geschehen ist höchst unübersichtlich: Leute schlüpfen an den Kontrollen vorbei durch die insgesamt zwölf Eingänge, um sich den teuren Eintritt – fünf Dollar je Einzelvorstellung, nach heutiger Kaufkraft und Währung mehr als 100 Euro – zu ersparen. Die Polizei nimmt einen jungen Mann fest, der ein großes Astloch in der Holzfassade als persönlichen Coliseum-Eingang nutzt.
Gilmore selbst beziffert die entgangenen Umsätze am ersten Tag mit 50.000 Dollar, somit dürften rund tausend »Illegale« den Weg in die Veranstaltungshalle gefunden haben. Ein erheblicher Teil der Ticketkontingente ist für Diplomaten und Vertreter der musikalischen Gesellschaften Amerikas reserviert, doch ohne Freiverkauf funktioniert Gilmores Geschäftsmodell nicht. Und die monatelange Trommelei zieht tatsächlich Leute aus nah und fern an, etwa den Festivalbesucher William Smith aus dem englischen Kidderminster, von dem wir nur wissen, weil er bei der Ankunft des Zuges in Boston so unglücklich stürzt, dass sein rechter Arm daraufhin von einem Waggonrad überrollt wird – für die Zeitungen ein Chronikereignis.
Riesentrommel für den Stargast
Im Inneren des Coliseums ist eine Riesentrommel mit einem Durchmesser von dreieinhalb Meter zu erspähen, die als Dekor stehen gelassen wurde, nachdem sich herausgestellt hat, dass sie wegen der zeitversetzten Schwingungen nicht geschlagen wer- den kann, ohne das Orchester aus der rhythmischen Bahn zu werfen. Der Transport der Monstertrommel, von vier Pferden auf einem Wagen gezogen, wurde als Event für sich inszeniert.
Auffällig ist auch ein über 20 Meter breites Gemälde an der Wand, das die neun Musen darstellen soll. In dieses Ungetüm von Konzerthalle kommt Strauss am Montag, dem 17. Juni 1872, zum ersten Mal. Es ist der Bunker Hill Day – ein Gedenktag an eine Schlacht im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775 während der Belagerung von Boston, somit ein Feiertag. Der Tagesablauf des Walzerkönigs folgt bis zum 4. Juli nun einem gleichförmigen Muster: Proben um zehn Uhr vormittags, dann um drei Uhr nachmittags ein Konzert.
Bei seinen offiziellen Auftritten am Nachmittag dirigiert er meist nur einen seiner Walzer und vielleicht ein, zwei weitere Stücke als Zugaben. 30.000 Festivalgäste werden am Eröffnungstag gezählt. Besonders an den Tagen, an denen die beiden Präsidentschaftskandidaten Ulysses S. Grant von den Republikanern und Horace Greeley von den Liberalen Republikanern anwesend sind, ist das Coliseum gut gefüllt. Manchmal sind aber auch nur einige wenige tausend Zuhörer und Zuhörerinnen da.
Günstigere Tickets
Da sich ein finanzielles Fiasko abzeichnet, werden die Ticketpreise im Verlauf der drei Wochen reduziert, erst auf drei Dollar, dann auf nur noch einen. Der Donauwalzer wird nach Wien, Paris und London auch in Amerika rasch ein Schlager. Die »New York Times« schreibt über den Eröffnungstag, dass dieses Stück »der größte Erfolg der ganzen Veranstaltung gewesen« sei. Kritischer Nachsatz, ohne das Ziegfeld-Vorspiel zu kennen: »Hätte man Strauss eine Woche früher für Proben engagiert, würden die Instrumentalisten heute unter seinem Taktstock sein Werk so gut wie die Wiener Musiker gespielt haben.«
Zum Donauwalzer, der in der Orchesterversion und damit ohne die fast 18.000 Chorsänger aufgeführt wird, kommen im Strauss-Repertoire wahlweise die Walzer Wein, Weib und Gesang!, Künstlerleben, Morgenblätter op. 279, Neu-Wien oder der aus Motiven der Operette Indigo arrangierte Walzer 1001 Nacht op. 346. Dann und wann mischt Strauss kürzere Polkas als Zugabe bei, besonderen Anklang finden die Pizzicato-Polka – dass sein Bruder Josef sie mitkomponiert hat, fällt unter den Tisch – und die Kreuzfidel-Polka op. 301.
Es ist also keine quantitative Schwerstarbeit, die zu verrichten ist, und doch ist es ein Kunststück, mit den Massen auf der Bühne und mit den Zuhörenden auf den Holzbänken und in den Stehbereichen Kontakt aufzunehmen, akustische Schneisen durch den allumfassenden Lärm zu schlagen, um der einen oder anderen musikalischen Idee den Weg zu bahnen. Denn Lärm ist einer der Haupteindrücke, von dem das Publikum und die Kritik später berichten werden. Weder die geistlichen Eröffnungsworte von Reverend Phillips Brooks von der Bostoner Trinity Church noch jene des Bostoner Bürgermeisters William Gaston werden außerhalb eines engeren Zirkels rund um die Hauptbühne verstanden; auch die Idee eines Klavier-Solostücks durch Franz Bendel erweist sich daher als »Fiasko«, wie das »Providence Journal« lakonisch festhält.
Musikalisches Erdbeben
Schon am 21. Juni, vier Tage nach Start des Festivals, wird im »Daily Dispatch« aus Virginia eine ganze Reihe von Spottnamen für das Boston Jubilee aufgelistet, darunter »Boston Noise«, »Boston Hurricane«, »The Nemesis of Noise«, »Niagara of Voice and Mississippi of Instrumentation« usw. Zurück nach Europa schwappt vor allem der Beiname »Musical Earthquake«.
In Deutschland schreiben die Zeitungen immer häufiger und auch noch Monate später: »Musikalisches Erdbeben«. In dieser eigentümlichen Kulisse – mit den vielen Stehern und Querbalken aus Holz gleicht das Coliseum mehr einer riesigen Scheune als einem Konzertsaal – ist optische Signalsetzung umso wichtiger. Schon bei seinen ersten Auftritten macht Strauss Eindruck, seine wie elektrisch aufgeladenen Gesten, seine Ausstrahlung, seine Anziehungskraft sind den zahllosen Berichterstattern aufgeregte Worte wert. Er wird mit dem französischen Dirigenten und Komponisten Louis Antoine Jullien verglichen, der Mitte des Jahrhunderts dem amerikanischen Publikum erstmals eine Idee davon vermittelte, wie man ernste Musik mit Showmanship verknüpfen kann.
»Seit Jullien haben wir keine so unwiderstehliche Art zu dirigieren gesehen«, schreibt die »Boston Post«. Strauss braucht für die amerikanische Bühne nichts eigens zu erfinden: Sein Dirigierstil ist mit identen Worten von den russischen Berichterstattern in Pawlowsk gerühmt worden. Er erzielt offenkundig universal die gewünschten Effekte.
Von einem Dirigat kann bei dieser Menge an Musikern kaum die Rede sein. Nur in den Nachbetrachtungen des Festivals blitzt dann und wann durch, wie chaotisch die Performances teilweise sind. Als Impresario Gilmore am dritten Tag den Chor selbst di- rigiert, fällt ihm dieser völlig auseinander, und zwar ausgerechnet zu Georg Friedrich Händels Textzeile »Wie Schafe gingen wir alle in die Irre« aus dem »Messias«. Das Publikum johlt. Mit Kanonenschüssen muss Gilmore die Ordnung wieder herstellen.
Strauss dirigiert auf Deutsch
Die Publikation »Jubilee Days«, die mit Karikaturen und mehr oder weniger süffisanten Notizen die Megaveranstaltung täglich begleitet, deutet an, dass auch die Walzer nicht immer rund laufen – die Kommunikation zwischen Orchesterleiter und Musikern ist schlicht ein Ding der Unmöglichkeit, es gibt auch in der Musik interkulturelle Barrieren. Der Maestro spreche eine andere Dirigiersprache als die Ausführenden verstehen. »Strauss dirigiert auf Deutsch, was für all jene im Orchester verstörendist, die nur auf Englisch spielen können.«
Sein eigenwilliger Stil, vom Podium aus mit den Musikern und dem Publikum in Kontakt zu treten, zeigt jedoch trotz aller Verständnisbarrieren Wirkung – jedenfalls in der Erinne- rung. Der beim Friedensfest anwesende Musikschriftsteller George P. Upton schreibt in seinen 1908 erschienenen »Musical Memories«, dass Strauss seine Individualität jedem Mitwirkenden wie einen Stempel aufdrückte: »Die Wirkung auf das Publikum war wunderbar. Quer durch das große Gebäude wogten tausende Köpfe – schwarzhaarig, blond und grau – im Rhythmus hin und her. Kinder waren am Tanzen. Die Köpfe der Sänger wogten im Takt. Die Musiker fügten sich in die Faszination ein und gaben den Takt mit ihren Körpern wieder. Und hoch oben über ihnen allen stand das herausragende Genie – die Verkörperung des Walzerrhythmus.« Die Strauss-Begeisterung nimmt bald die Dimensionen des Coliseums an. Schon bei seinem ersten Auftritt werden Zigtausende Taschentücher geschwenkt, es sieht aus »wie Schneeflocken«, heißt es in einem der Berichte.
Nicht alle Kommentare sind jedoch enthusiastisch. Das Anti-Strauss-Lager ist zwar klein, aber verschafft sich über die gesamte Dauer des Festivals Gehör. Eine Wiener Korrespondentin der Zeitung »Albany Argus« bereitet das Publikum noch vor der Eröffnung am 17. Juni 1872 auf den Dirigenten aus Wien wie folgt vor: »Stellen Sie sich einen perfekten Dandy vor, der jüdisch aussieht und – wenn er seine 200 Musiker dirigiert – so leidenschaftlich wird und so beeindruckt von der Bedeutung des Klanges, dass er, vollkommen wie ein Schauspieler, darstellt, was er spielt. (…) Die Wiener sind über diese Art, ein Orchester zu leiten, begeistert. Ich finde es unwürdig.«
Johann Strauss’ amerikanische Reise
Molden Verlag
Seiten: 160
ISBN: 978-3-222-15127-9