An der Volksoper Wien feiert »Alma« von Ella Milch-Sheriff Premiere. Ein bejubelter Abend, der unseren Kritiker aber auch vor unbeantwortete Fragen stellt.
Das »schönste Mädchen Wiens«, die »Liebhaberin der vier Künste« – für Alma Mahler-Gropius-Werfel geborene Schindler gibt es viele Attribute. Schon ihre Nachnamen erzählen von ihrem schillernden Leben. Vier Kinder von vier Männern – das von Oskar Kokoschka ließ sie abtreiben.
In ihrer neuen Oper Alma (Libretto: Ido Ricklin) stellt die israelische Komponistin Ella Milch-Sheriff ihre Mutterrolle in den Mittelpunkt. Und fragt sich in diesem Auftragswerk der Wiener Volksoper, warum aus der umschwärmten, kreativen, gebildeten jungen Frau eine verbitterte, dem Alkohol verfallene Witwe wurde. Die Geschichte wird rückwärts erzählt. Sie beginnt mit der 56-jährigen Alma Werfel im Jahr 1935 und endet mit der 22-jährigen Alma Schindler 1901, ein halbes Jahr vor der Heirat mit Gustav Mahler. In jedem der fünf Akte gibt es ein Begräbnis, Almas Tochter Anna fungiert als Erzählerin.
Diese dramaturgischen Pflöcke strukturieren die komplexe Geschichte, lassen sie aber auch holzschnittartig werden. Entwicklungen, Nuancen, Zwischentöne zeigt der bei der Uraufführung umjubelte Abend weniger. Auch die effektvolle, auf Verdeutlichung setzende, sich wild aus der Historie bedienende Musik von Ella Milch-Sheriff unterstützt den zumindest im ersten Teil eher plakativen Zuschnitt. Das von Omer Meir Wellber dirigierte Orchester der Volksoper Wien agiert flexibel und zupackend.
Das Bühnenbild von Falko Herold zeigt nach historischem Vorbild Annas Künstleratelier, das sich durch Projektionen (Video: Martin Eidenbeger) in andere Orte verwandeln kann. Hier steht Annelie Sophie Müller als Anna und bearbeitet eine Mahler-Büste. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hat Anna ihre künstlerischen Ambitionen als Bildhauerin verwirklichen könnten. Nun steht die Beerdigung von Manon, der gemeinsamen Tochter mit Walter Gropius, an, aber Alma ist nicht anwesend. Die durch den Mittelgang im Parkett auftretende Trauergemeinde echauffiert sich (Choreinstudierung: Holger Kristen), die griffigen Streicher sorgen für Unruhe.
»Du bist besoffen«
Szenenwechsel – Alma wird im Konzertflügel liegend, Zigarette rauchend auf Schienen hereingefahren. Annette Dasch intoniert bewusst unsauber, damit die Derangiertheit Almas auch musikalisch zu erleben ist. »Du bist besoffen«, singt Annelie Sophie Müller als Anna. Um danach zu hören, dass die verstorbene Manon (mit schlackenlosem Sopran: Lauren Urquhart) Almas »wahre Tochter« gewesen sei. Daschs Alma erinnert sich an glanzvolle Empfänge, verbreitet wüste antisemitische Statements und zeigt mit einem Fatsuite (Kostüme: Alfred Mayerhofer) Mut zur Hässlichkeit. Im Laufe des Abends wird sie in der Inszenierung von Brauer-Kvam noch viele Kleider ablegen, sich häuten und verjüngen.
Annette Dasch gestaltet diese Metamorphose darstellerisch und stimmlich äußerst präsent, mit klaren Konturen und intensiven Farben. Mit Anneliese Sophie Müller als Anna hat sie eine ebenbürtige Dialogpartnerin an ihrer Seite, die noch dunklere Tönungen beimischt. Leider ist die Musik oft zu kleinteilig komponiert. Anstatt Übergänge zu schaffen, setzt Milch-Sheriff Pausen, die die vielen abrupten Stilwechsel voneinander trennen. Vom Wienerlied geht es direkt zur überhitzten, von Xylophon, kleiner Trommel und geschärftem Blech vorangetriebenen schostakowitschähnlichen Groteske. Es fehlt ein Spannungsbogen, der die heterogenen Partikel zusammenhält.
Die sarkastischen Elemente nehmen im zweiten und dritten Akt zu. Franz Werfel (mit hohem, nasalen Tenor: Timothy Fallon) kopuliert mit der hochschwangeren Alma auf dem Flügel. Die daraufhin ausgelöste Frühgeburt – der in seinem ersten Lebensjahr verstorbene Martin – wird vom Countertenor Christopher Ainslie mit leidenden Gesangslinien zum Leben erweckt. Florian Hurler tanzt dazu als Walter Gropius verloren im Hintergrund. Martin Winkler zeichnet Oskar Kokoschka schön durchgeknallt, aber auch hier geraten die Effekte mit einem durch den Reißwolf gedrehten Im Frühtau zu Berge und dem koloraturgestählten Überlebenskampf des blutigen Ungeborenen (höhensicher: Hila Baggio) reichlich plakativ. Regisseurin Ruth Brauer-Kvam setzt ebenfalls auf Überzeichnung.
Im vierten Akt nach der Pause kommt Gustav Mahler ins Spiel – auch musikalisch, wenn die Komponistin das Adagietto aus der fünften, Passagen aus der dritten Symphonie und einige Takte der „Kindertotenlieder“ neben Mozart und Bach zitiert. Aber ihre musikalische Sprache wird subtiler und schafft mehr Raum für die Figuren. Das Orchester der Volksoper Wien unter Omer Meir Wellber kann auch mit den lyrischen Klängen viel anfangen, veredelt die Holzbläsersoli und entwickelt einen dichten Streicherklang.
Die verhinderte Komponistin
Josef Wagner gibt Mahler mit seinem klangvollen Bassbariton als souveränen Dirigenten, dominanten Ehemann und eifrigen Vater, auf dessen Schulter die Tochter Maria (Victoria Schnut) stirbt. Stark, wie sich die Kinder und Männer Almas zu schmerzvollen Gruppenbildern formieren. Erschütternd, wie Alma die Notenblätter ihrer eigenen Lieder verbrennt, weil Gustav Mahler ihr das Komponieren verboten hatte. Hier ganz am Ende der Oper liegt der Schlüssel von Almas Drama. Im Schlussbild dreht Anna ihre Büste zum Publikum. Sie zeigt überraschenderweise nicht Gustav, sondern Alma Mahler, die verhinderte Komponistin.