Der SWR will am Dirigenten François-Xavier Roth festhalten – trotz seiner Belästigungen von Musikerinnen und Musikern. Ein Fehler, findet Shoko Kuroe.
Bis vor Kurzem schätzte ich die Gastspiele von Orchestern unter der Leitung von François-Xavier Roth künstlerisch sehr – vor allem wegen des Repertoires. Von den dunklen Geschichten, die sich hinter den Kulissen abgespielt haben sollen, wusste ich nichts. Vielleicht auch deshalb, weil der Dirigent sehr auf sein Image geachtet hat, unter anderem mit Hilfe einer Anwaltskanzlei. Tatsächlich kommt es vor, dass das ganze Orchester von Vorfällen sexueller Übergriffe weiß, Musikerinnen und Musiker intern hinter vorgehaltener Hand rege darüber diskutieren, Außenstehende davon aber nichts mitbekommen.
Der Fall Roth, dessen Vertrag als Kapellmeister des Gürzenich-Orchesters und Generalmusikdirektor der Stadt Köln in gegenseitigem Einvernehmen vorzeitig aufgelöst wurde, und der planmäßig zur Spielzeit 2024/25 Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters werden wird, kann als ein ein typisches Beispiel für »Tätermigration« in der Klassik verstanden werden, die hier sogar öffentlich vollzogen wird.
Das Phänomen der Tätermigration
Tätermigration ist ein weit verbreitetes Phänomen im Umgang mit sexuellem Machtmissbrauch: Ein Täter, dessen Verfehlungen innerhalb einer Institution bekannt geworden sind, wechselt unauffällig zu einer anderen Institution. Oft geschieht dies unbemerkt von der Außenwelt. Mit diesem Vorgang kann der Täter internen Prüfungen und Sanktionen entgehen und die Institutionen gleichzeitig ihren Ruf retten.
Im Fall Roth geschah all das öffentlich: Die alte Institution (das Gürzenich-Orchester) hat die Zusammenarbeit beendet (in diesem Fall sogar mit Abfindung, da die Trennung einvernehmlich verlief, und man die Existenz des Täters nicht ruinieren wollte). Die Konsequenz war, dass interne Prüfungen nicht fortgesetzt wurden, da der Vertrag ja aufgelöst wurde. Und so gibt es am Ende auch keine belastenden Ergebnisse aus der Prüfung.
Gleichzeitig erklärt die neue Institution (in diesem Fall das SWR Symphonieorchester), dass sie nicht verantwortlich für die Verfehlungen des Täters an der alten Wirkungsstätte sei und es gute Schutzkonzepte und Richtlinien gäbe – außerdem wäre vertraglich geregelt, dass Übergriffe nicht erlaubt seien und unmittelbar zum Rauswurf führen würden.
Opfer erleben eine ernüchternde Doppelbotschaft
All das klingt zunächst plausibel und rechtsstaatlich. Und aus der Sicht der Orchesterleitung mag der Fall damit tatsächlich gelöst sein. Doch wie ist die Situation für die Betroffenen und die Zeugen, die den Mund aufgemacht und die Missstände benannt haben?
Sie erleben in solchen Fällen eine ernüchternde Doppelbotschaft: Betroffene sollen sich melden und Vorfälle schildern, aber eigentlich – so die Wahrnehmung – will die Leitung davon nichts wissen, da man ja bereits eine »Lösung« gefunden habe. Unter der Einschüchterung und dem Druck erstens seitens der Leitung, die es lieber hätte, wenn die Betroffenen schweigen würden, zweitens seitens der Kolleginnen und Kollegen, die am Liebsten nur friedlich ihrer Arbeit nachgehen möchten und keine Skandale wollen, und drittens seitens des Publikums, welches gerne weiterhin den Lieblingskünstler sehen möchte, braucht es ungeheuer viel Mut, um trotzdem auszusagen.
Wenn die Betroffenen oder die Zeugen aussagen, erleben sie oft, dass ihre Aussagen »umsonst« waren, und dass die Leitungsebene eigentlich daran interessiert ist, dass der Täter in irgendeiner Form weiterhin aktiv bleibt. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft und ernüchternd und kann bei Betroffenen zur Resignation und zu Ohnmachtsgefühlen führen. Ihre Erlebnisse werden zudem regelmäßig als »Anschuldigungen« oder »Vorwürfe« bezeichnet, als ob die Opfer aktiv was Böses tun, wenn sie Vorfälle melden. So titelte etwa der BR im Falle Roth, dass der SWR »nach Belästigungsvorwürfen« am Roth festhalte – und nicht »nach Belästigungen«. Dabei gibt es in diesem Fall ja handfestes Beweismaterial, da die sexuelle Belästigung in Form von Emojis und Zusendung von Fotos stattfand.
Die Verantwortung liegt in der Direktion
Bleibt die Frage, warum ein Opfer sich an die Leitung oder die interne Prüfungskommission wenden und Kraft und Zeit für eine Aussage aufwenden soll, warum es persönliche und berufliche Nachteile riskieren und eine Retraumatisierung in Kauf nehmen soll, wenn die Leitung voraussichtlich – auch bei Bestätigung der Vorwürfe – letztendlich zum Täter stehen und Auswege für ihn suchen wird. Der SWR weist in seiner Erklärung darauf hin, dass es keine offizielle AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) Beschwerde gegeben habe, doch diese Hürde ist für Opfer gerade in Systemen wie einem Rundfunkorchester besonders hoch. Kann man also unter diesen Umständen noch gut und gesund zusammenarbeiten? Kann man selber gesund bleiben und gute Musik machen? Oder befördern die bestehenden Schutzkonzepte in Wahrheit auch die Möglichkeit, Täter bedenkenlos weiter engagieren zu können?
Es geht letztlich nicht nur darum, ob man vorm Chefdirigenten Angst haben muss, sondern auch darum, ob man überhaupt noch Vertrauen zur Direktion und dem Kollegium haben kann – zum System Orchester an sich. Ist es wirklich die Verantwortung der Opfer, die Hürden zu überspringen und die Ängste zu überwinden? Oder ist es nicht eher die Verantwortung der Direktion, ihre Macht für ein gutes und respektvolles Arbeitsklima einzusetzen, und dafür, dass die Betroffenen und Zeugen sich möglichst sicher fühlen können, wenn sie sich überlegen, ihre Erfahrungen zu melden?
Im Übrigen spielt bei solchen Vorgängen das Geschlecht lediglich eine zweitrangige Rolle. Das zeigen nicht nur das Personal in den Führungspositionen des SWR. Die Autorin Reah Bravo thematisiert in ihrem neuen Buch Complicit – How Our Culture Enables Misbehaving Men wie das System vom Gesamtumfeld – einschließlich Frauen – gestützt und aufrecht erhalten wird. Männer, die sich Machtmissbrauch widersetzen und #Metoo-Opfer unterstützen, haben es auch nicht unbedingt leicht. Es braucht also eine grundlegende Haltungsänderung.
Es gibt freilich bereits vorbildliche Vorgehensweisen, wie von Katharina Wagner (Umgang mit Fällen sexueller Belästigung bei Bayreuther Festspielen 2023) und Lydia Grün (Umgang mit dem Thema Machtmissbrauch an der Münchner Musikhochschule). Bitte mehr davon, das muss zur Regel werden.
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