Mieczysław Weinbergs Oper Der Idiot nach Dostojewskis Roman ist ein Entdeckung. Regisseur Krzysztof Warlikowski inszeniert sie bei den Salzburger Festspielen als psychologisch abgründigen Wartesaal. Eine Feuilleton-Rundschau.
Im Standard schreibt Ljubiša Tošić: »Regisseur Krzysztof Warlikowski entgeht (…) der Versuchung, den wegen Epilepsie Behandelten konzeptuell in das heutige Russland zu verlegen. Der Fürst ist weder der im Gefängnis totisolierte Dissident Alexey Navalny noch der gefeierte Dirigent Teodor Currentzis, der ja nach wie vor im Putinismus tätig ist und dem in St. Peterburg ein Konzerthaus gebaut wird.« Stattdessen ist die Hauptfigur Myschkin »für Warlikowski der zerbrechliche Seltsame, der auf eine Tafel mathematische Formeln kritzelt. In dieser abstrakten, klaren Welt der Zahlen plaudert er vielleicht mit Newton oder Einstein. Das funktioniert friktionsfreier als die Schmerzensgespräche, die er mit einer Gesellschaft führen muss, die sich alkoholumnebelt in emotionalen und ökonomischen Beziehungskrämpfen wälzt.«
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Roland H. Dippel berichtet in der NMZ: »Warlikowskis Ansatz spielt einmal mehr in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts. Eindeutige Erkennungssignale sind die vor den Zugfenstern auf der Bühne marodierenden Plattenbauten und das D-Mark-Kürzel im Börsenticker. Etwas ist vorerst immer in Bewegung in Małgorzata Szczęśniaks Bühnenbild. Seien es die Klassenzimmer-Wandtafeln, langsam fahrende Coupés oder Unterrichtstafeln mit Einstein- und Newton-Formeln. Je mehr die russischen Seelen aus der Bahn gleiten, desto stabiler die Dekorationen. (…) Die Oper endet damit, wie sich Myschkin mit seinem Freund und Rivalen Rogoschin zur von letzterem umgebrachten Nastassja legt. In höherem Sinn wird das fast ein Happy-End – auch darin, dass sich Myschkins nächster epileptischer Anfall ankündigt.«
Auch Bernhard Neuhoff ist für BR-Klassik begeistert: »Der sanfte Fürst Myschkin, der brutale Rogoschin, die impulsive Nastassja und die intellektuelle Aglaja: Dostojewski setzt auf krasse Kontraste. Seine Figuren sind bizarre Individualisten. Doch eines eint sie bei aller Unterschiedlichkeit: ihr Gefühlsextremismus.« Neuhoff weiter: »Warum Fürst Myschkin physikalische Gleichungen von Einstein und Newton an eine riesige Tafel kritzelt, darüber kann man sich mehr oder weniger gewinnbringend den Kopf zerbrechen. Oder man verfolgt stattdessen, was sehr viel ergiebiger ist, die starke Personenführung. Die macht vor allem den psychologischen Antrieb der Figuren sichtbar.«
Besonders getragen wird der Abend durch die Hauptrolle: »Bodgan Volkov kennt man als Mozart-Experten«, schreibt Markus Thiel für den Merkur. »Der Myschkin liegt etwas außerhalb seines lyrischen Fachbereichs. Und doch wird daraus ein immens kluges, berührendes Charakterporträt. Mit somnambulen Tönen, einer sehrenden Klanglichkeit und einem ganz eigenen Tenorzauber, der übers Orchester weht: Die Zerbrechlichkeit und die Zwischenexistenz des Fürsten hört man heraus und oft auch die tödliche Verzweiflung.«
Neuhoff führt aus: »Zum Volltreffer wird der Abend durch die exzellenten Sängerinnen und Sänger. Selbst kleinere Rollen wie Lebedjew (Jurii Samoilov) oder Ganja (Pavol Breslik) sind stark besetzt. Düstere, aber stets kontrollierte Kraft hat Vladislav Sulimsky als Rogoschin: seelenvolle Gutmütigkeit und rohe Gewalt wohnen hier nah beieinander. Xenia Puskarz Thomas zeichnet die Aglaja mit ihrem eher hellen, leuchtenden Mezzo als kluge, auf Unabhängigkeit bedachte Frau. Dagegen setzt Aušrinė Stundytė die dunkel lodernde Farbenpracht ihres dramatischen Soprans: Ihr Rollenporträt zeigt Nastassja als innerlich verwundete Frau, die in allen Widersprüchen ihrer impulsiven Leidenschaftlichkeit folgt.«
Auch musikalisch vermag dieser Abend die Kritik zu überzeugen, Ljubiša Tošić erklärt im Standard: »Auch die Ensembleleistung blieb auf höchstes Niveau, auch dank der Debütantin am Pult der Wiener Philharmoniker, Mirga Gražinytė-Tyla, welche die Balance zwischen Orchester und Bühne wahrt. Die Litauerin – 2012 siegte sie beim Salzburger Young Conductors Award – erweckt bei diesem lebensgefährlichen Beziehungsdrama das philharmonische Potenzial.« Dem schließt sich Neuhoff an: »Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert mit tänzerischer Eleganz und stringenter Klarheit. Und motiviert die Philharmoniker, mit ihrer wienerischen Klangsinnlichkeit noch die widerspenstigsten Passagen mit Ausdruck zu erfüllen.«
Thiel fasst zusammen: »So heftig bewegt manches gerät, so sehr legt sich doch über alles eine Wartesaal-Atmosphäre. Warlikowski lässt sich oft auch zurückfallen und vertraut auf seine starken Sängerinnen und Sänger, vielleicht hat er in jüngster Zeit einfach zu viel inszeniert.«
★★★★☆