Die Geschichte des ersten schwarzen Romeos. Der Balletttänzer Osiel Gouneo hat ein Buch über seine Geschichte geschrieben, das mit Stereotypen aufräumt. Ein exklusiver Abdruck des ersten Kapitels und ein Podcast mit dem Co-Autor.
Osiel Gouneo ist einer der großen Balletttänzer unserer Zeit. Seine Pirouetten, seine Sprünge, seine Athletik sind von einer technischen Perfektion und Leichtigkeit, dass selbst Profikolleg:innen immer wieder nachfragen, wie er das denn mache. Zugleich ist der Afro-Kubaner einer der wenigen schwarzen Principal Dancer in der weißen Welt des klassischen Balletts. Im Verlag C.H. Beck ist seine Autobiografie Black Romeo erschienen, die er gemeinsam mit dem Autor Thilo Komma-Pöllath geschrieben hat. Hier ein Vorabdruck des ersten Kapitels Superheldengefühl und ein Podcast (für Apple oder alle anderen Player, unten für Spotify).
English summary: Osiel Gouneo, a celebrated Afro-Cuban ballet dancer, reflects on his groundbreaking journey as one of the few Black principal dancers in classical ballet. In his autobiography Black Romeo, Gouneo shares his experiences breaking stereotypes and achieving artistic freedom. He recounts a transformative performance in Oslo in 2022, where he felt a rare “dancer’s high,” blending technical mastery with emotional depth. For Gouneo, ballet transcends mere movement, embodying universal human emotions and offering a safe space to express vulnerability and connect with audiences on a profound level.
Obwohl ich aus einem Land der ikonischen Revolutionäre komme, ist für mich die Freiheit vor allem ein künstlerisches Ideal und kein politisches. Auch deshalb ist der 18. Mai 2022 so tief in mein Bewusstsein eingesickert. Ich war das erste Mal wieder nach Oslo zurückgekehrt, ziemlich genau sechs Jahre nach meinem Abschied als Principal Dancer des Norwegischen Nationalballetts.
Auf dem Programm stand «Onegin» in der berühmten und immer noch einzig gültigen Fassung des britischen Choreographen John Cranko. «Onegin» ist nicht irgendein Werk, sondern eines der Meisterwerke des neoklassischen Balletts. Und die Hauptrolle des Onegin nicht irgendeine Rolle, sondern eine der komplexesten in der Ballettliteratur. Dieses Ballett ist eine tiefgründige und scheinbar widersprüchliche Geschichte über Liebe und Verlust, Rache und Reue. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der junge Adelige Onegin, der die in ihn verliebte Tatjana so lange und brüsk zurückweist, bis er selbst unsterblich in sie verliebt ist.
Dann aber ist es zu spät – und er kommt nicht mehr darüber hinweg. Anders als in vielen klassischen Balletten, in denen die Figurenzeichnung oft an der Oberfläche kratzt, muss die Rolle des selbstsüchtigen, zynischen Aristokraten und Großgrundbesitzers nicht nur tänzerisch, sondern auch in der Darstellung seines widersprüchlichen Charakters in der Tiefe gelingen, sonst blieben Rolle und Geschichte unverständlich. «Onegin» ist eine große Karrierechance für jeden jungen Tänzer.
Von Ressentiments
Dass ich in Oslo für die Hauptrolle des Onegin vorgesehen war, war einerseits logisch, wenn man als Principal von einer namhaften Compagnie (in meinem Fall war es das Bayerische Staatsballett in München) dazu eingeladen wurde. Und dennoch musste ich, als die Anfrage hereinkam, doch einmal schmunzeln, dass jetzt also auch ein Afro diesen reichen, arroganten Schnösel, Inbegriff von Macht, Gier und Ressentiment, gerade hier interpretieren sollte. Ich wurde folglich gegen jedes gängige Stereotyp besetzt, was in der Welt des Balletts immer noch eine recht junge Entwicklung war. Es hatte bis dato nicht so viele schwarze Onegins in der Geschichte des klassischen Balletts gegeben. Und jetzt also ausgerechnet ich, ausgerechnet hier in Oslo, ausgerechnet bei meiner komplizierten Vorgeschichte.
Es war dieser 18. Mai 2022, meine zweite Vorstellung nachmeiner Rückkehr nach Oslo, in der sich etwas abspielte, das man Außenstehenden mit bloßen Worten kaum beschreiben kann. Etwas, von dem man immer mal wieder von Kollegen und Kolleginnen gehört hatte, sie alle hatten beim Erzählen ein Glänzen in den Augen, und man selbst war blass vor Neid. Und auf einmal sollte es mir selbst passieren, mitten in der Vorstellung: ein Flirren des Gemüts und auf der Haut, eine Euphorie und Klarheit, die sich in mir ausbreiteten wie eine Wolke aus Endorphinen und Glückshormonen, ein tiefes Wohlgefühl, hoch konzentrierter Fokus und ja, auch und vor allem, pures Glück: Ich fühlte mich an diesem Abend des 18. Mai 2022 auf der Bühne vollkommen frei!
Das mag sich für Menschen, die nicht regelmäßig auf einer Bühne stehen, klischeehaft, übertrieben oder gar bedeutungslos anhören, aber das, was ich fühlte, war ein seltener Zauber, von dem man als Tänzer oft nur träumen konnte. Dabei deutete an jenem Abend nichts darauf hin, im Gegenteil. Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn fühlte ich mich schrecklich. Warum, wusste ich nicht. Ich war ein Nervenbündel, meine Hände zitterten, mein ganzes Selbstbewusstsein schien wie weggeblasen. Ich zweifelte an meinen Fähigkeiten als Tänzer. Dass ich unmittelbar vor einem Auftritt fürchtete, dem Druck nicht gewachsen zu sein, einem Druck, den ich mir vor allem selbst auferlegte, das kam ganz selten vor. An diesem Abend aber war vieles anders. Das lag vielleicht auch an meiner Vorgeschichte hier in Oslo, die Narben hinterlassen hatte.
Meine Nervosität, meine innere Unruhe rieb an diesen Narben, und ich befürchtete schon das Schlimmste. Dann aber, mit Einsetzen der ersten Akkorde der Ouvertüre von Tschaikowskis Musik, meinen ersten Schritten auf der Bühne, begann eine Innenverwandlung, wie ich sie so noch nicht erlebt hatte.
Auf Messers Schneide
Während des großen Pas de deux in der zweiten Szene des erstes Aktes schlichen sich meine Ängste, Bedenken und Blockaden allmählich aus meinem Bewusstsein und Körper. In dieser berühmten Traumsequenz glaubt sich Tatjana, an diesem Abend getanzt von der wunderbaren Whitney Jensen, vom abgründigen Onegin wahrhaft begehrt, und so fliegt sie ihm, also mir, bei schwierigsten Hebungen nur so um die Ohren. Kurz darauf muss Tatjana aber feststellen, dass sie sich in Onegin getäuscht hat.
Ein Parforceduett auf Messers Schneide. Welche Kräfte in mir wirkten, ohne dass ich sie hätte bewusst steuern können, davon bekam das Publikum nichts mit, und Whitney wohl auch nicht. Zumindest sprach sie mich nie darauf an. Das Orchester spielte im Graben Tschaikowski, und ich trat auf der Bühne in eine Sphäre ein, die man als Tänzer in seiner langen Karriere vielleicht ein halbes Dutzend Mal betrat – wenn überhaupt. Eine Sphäre, in der Energien frei wurden zwischen mir und dem Publikum, ein Flow, der ungehindert hin- und herströmen konnte. Ich bekam während des Tanzens eine Gänsehaut. Was passierte da gerade mit mir?
Es gibt eine Redensart im Ballett: «Wir Tänzer glauben nicht an Talent, selbst wenn wir hochtalentiert sind.» Wir Balletttänzer sind hoffnungslos demütig und abergläubisch, wir denken in den Kategorien Disziplin, Arbeit, Schmerz, und viel zu selten glauben an Gänsehaut und Glücksmomente, an das, was wir uns ehrlich verdient haben. Vielleicht passieren sie uns deshalb so selten. Wir bluten für die Bühne, aber in Wahrheit müssen wir Blut und Schmerz und Schinderei vergessen lassen und in Anmut und Ästhetik verwandeln. Das schwer Erarbeitete schwebend leicht aussehen zu lassen, ein symbiotisches Schweben aus Körperbewegung, Rolleninterpretation und Emotion, das ist unsere eigentliche Kunst. Das unterscheidet uns von vielen Disziplinen an der Schnittstelle von Kunst und Sport. Im Ballett sind Physis und Technik nur wenig wert, wenn ich nicht in der Lage bin, meine Emotionen nutzbar zu machen. Irgendwann legt sich dann vielleicht dieser Zauber über dich, so wie bei mir an diesem 18. Mai 2022 in Oslo, ohne Vorwarnung und mit voller Wucht. Das «Dancer’s High».
Mit tänzerischer Perfektion hatte dieser Flow übrigens nichts zu tun, darum geht es gar nicht. Es gibt keine perfekte Kunst, kein perfekt getanztes Ballett, keinen perfekten «Onegin», so we- nig wie es ein perfekt gemaltes Gemälde gibt. Was sollte das auch sein? Es gibt einen Caravaggio, und es gibt einen Michelangelo, beide für sich genommen einzigartig, unvergleichbar. Es geht vordergründig um Stil oder um Geschmack, in Wahrheit aber um die Gefühle, die sie – Caravaggio, Michelangelo, Onegin – beim Betrachter auslösen. Auch ich habe, objektiv betrachtet, wohl schon besser getanzt als an jenem 18. Mai in Oslo. Als Tänzer geht es am Ende nie nur um fehlerfrei dargebotene, technische Höchstschwierigkeiten – dann wäre ich Leistungssportler geworden –, sondern darum, eine Wellenlänge erzeugen zu können, auf der das Publikum und ich uns begegnen können. Wenn ich das nicht kann oder nicht dazu bereit bin, dann bin ich kein Künstler, weil das, was ich zeige, nur die Technik ist, der jede Emotion fehlt.
Den Zuschauer lässt das kalt. Die richtige Frage war also: Was konnte ich an jenem Abend auslösen? Bei mir selbst, beim Publikum? Ich spürte an diesem Abend ein Gefühl von Austausch, Gemeinschaft und Verbindung, wie ich das so intensiv noch nicht kannte. Eine solche wechselseitige Berührung durch die Kunst ist pure Magie, weil Ort und Zeit plötzlich miteinander verschmelzen, zumindest fühlte es sich auf der Bühne so an. Man kann es nicht trainieren oder in Auftrag geben, es gibt keinen Schalter dafür, es passiert einfach – oder eben nicht. Und wer weiß schon, vielleicht war dieser Onegin 2022 in Oslo bereits die Performance meines Lebens, die so nie wieder kommen wird?
Der große Tänzer Mikhail Baryshnikov hat einmal den Satz geprägt: «Tanze fünf Minuten für mich, und ich sage dir, wer du bist!» Wie recht er hat. Balletttanz ist Ausdruck deiner Seele. Eine Reflexion dessen, der du bist. Ein guter Balletttänzer kann seinen Körper als Medium nutzen, um emotional zu berühren. Wer sonst kann das? Wenn ich auf der Bühne stehe, stehe ich sprichwörtlich nackt auf der Bühne, offen, verletzlich, ehrlich, um als Projektionsfläche, Wellenlänge oder Kanal für das Publikum überhaupt funktionieren zu können. Meine Seele ist freigelegt, jeder kann sie sich packen. Ballett ist vielleicht eine der reinsten Kunstformen, die es gibt. Tanzen öffnet mich. Ich bin so frei, jeder sein zu dürfen, der ich sein kann, ganz egal ob Prinz, Krieger, Scheusal oder Sklave. Wie sonst könnte eine Verbindung entstehen zwischen Onegin, einem russischen Aristokraten des 19., und Osiel, einem Afrokubaner des 21. Jahrhunderts? Aber genau davor, sich zu öffnen, für jeden zu packen zu sein, genau davor haben die allermeisten Menschen im Alltag Angst, oft auch aus gutem Grund.
Ich mache mich nackt
Wer will schon gerne immer wieder in seinen Gefühlen verletzt werden? Nicht jeder hat eine Bühne, die ihn beschützt. Auch wenn man das kaum glauben mag: Die Bühne ist mein Safe Space. Privat bin ich, obwohl Kubaner und Latino, eher scheu und zurückhaltend. Die Bühne aber verwandelt mich ein ums andere Mal in mein zweites Ich, nirgendwo sonst bin ich auf einmal so extrovertiert, so offen, so emotional, so selbstbewusst, weit außerhalb meiner persönlichen Komfortzone, und dennoch gibt es für mich keinen sichereren Ort als diesen: die Bühne. Es gibt meiner Meinung nach einen Unterschied zwischen Menschen, die auf einer Bühne stehen, sogenannten Künstlern, zum Beispiel einem Tänzer wie mir, und «richtigen» Menschen mit einem ganz normalen Beruf. Und bitte glauben Sie mir: Es geht mir nicht darum, mich in meiner Besonderheit auszustellen, die ich für mich persönlich überhaupt nicht sehe, sondern um den kaum vergleichbaren Modus, wie Sie und ich in die Welt hinaustreten.
Ich mache mich «nackt», trete hinaus ins Rampenlicht und fühle mich dennoch beschützt. Im wirklichen Leben muss sich kein Mensch nackig machen, um performen zu können. Auch deshalb ist das Ballett für mich die künstlerische Disziplin schlechthin. Eine Disziplin mit ihrer ganz eigenen Geschwindigkeit, mit ihren ganz eigenen Modi. Ballett ist Handwerk,Hochleistungssport und Schauspiel in einem. Es führt Musikalität, Körperbeherrschung, Sinnlichkeit und Technik, Athletik und Spiel zusammen. Tatsächlich geht es im Ballett um so viel mehr als nur um Tanzschritte. Es geht um die Verkörperung ewig gültiger, existenzieller menschlicher Zustände wie Liebe, Hass, Eifersucht, Vergebung, Tod. Ich schlüpfe meinen Charakteren buchstäblich unter die Haut, mache ihre Abgründe greifbar und lerne dabei mich selbst kennen. Insofern halte ich das Ballett auch ganz persönlich für das schwierigste und kompletteste Feld, das ich mir überhaupt vorstellen kann.
Ballett ist für mich der Blick in die menschliche Seele, weil es für das Publikum eine so große transformative Kraft besitzt. Ahnt man als Tänzer, dass man diese Kraft bewegen kann, dass man die Fähigkeit hat, wildfremde Menschen mit seiner Kunst zu berühren, ihnen eine Gänsehaut zu bereiten, sie zum Lachen oder Weinen zu bringen, ihnen vielleicht sogar das pure Glück in das vegetative Nervensystem zu spülen, so wie im Mai 2022 in Oslo, dann wird die Ballettbühne zu einem außerterrestrischen Raum für Superheldengefühle. Spüren auch Sie die Energie zwischen Bühne und Zuschauerraum, die Energie, die uns verbindet?
Black Romeo
Osiel Gouneo und Thilo Komma-Pöllath
249 Seiten, 28 Euro